Donnerstag, 27. Januar 2022

Rezension: Aus Politik und Zeitgeschichte - Fleisch

 

Aus Politik und Zeitgeschichte - Fleisch

Zu den wohl triggerndsten Themen des Dauerkulturkampfs unserer Tage gehört die Frage des Fleischkonsums. An wenigen Orten sind solch vorhersagbare Reflexe am Werk wie in der Frage, ob das Steak zur (deutschen) Leitkultur gehört. In der kürzlich erschienenen (und wie üblich kostenlos beziehbaren) "Aus Politik und Zeitgeschichte" wird der Versuch unternommen, den ganzen Themenkomplex "Fleisch" von mehreren Seiten und so sachlich wie möglich anzugehen. Schauen wir, ob das den Autor*innen der insgesamt sechs hier versammelten Essays gelungen ist.

Den Aufschlag macht Gunther Hirschfelder, der "eine Kulturgeschichte des Nahrungsmittels Fleisch" vorlegt. Von den Jagenden und Sammelnden der grauen Vorzeit bis zur heutigen Dienstleistungsgesellschaft zieht sich sein Bogen. Die Entwicklung, die er "vom Wohlstands- zum Krisensymbol" nachzeichnet, ist dabei nicht sonderlich überraschend: war Fleisch über weite Teile menschlicher (Siedlungs-)Geschichte ein Luxusgut, so ist es seit dem 20. Jahrhundert zu einem massenkonsumierten Lebensmittel geworden, das nun, an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, langsam seine Strahlkraft zu verlieren beginnt.

Weniger überzeugend an dieser Aufstellung ist die Frühzeit des Menschen, wo Hirschfelder mit sehr grobem Pinsel weitreichende Behauptungen aufstellt, die so in der Wissenschaft zumindest umstritten sind und die auch gar nicht zu seinem eigenen Fachgebiet gehören, so etwa, dass die Umstellung von ausschließlich pflanzlicher auf zumindest teilweise tierische Nahrung für den Wachstums des Gehirns der Frühmenschen um immerhin 200% verantwortlich war. Wie fast immer sind Versuche, irgendwelche Vergleiche oder Lehren aus und mit der Frühgeschichte zu machen, so problematisch, dass man es am besten sein lässt. Interessant für uns ist ohnehin erst die menschliche Siedlungsgeschichte, denn hier können wir wenigstens halbwegs gesicherte Aussagen machen - auch wenn etwa der Speiseplan mittelalterlicher Bauerfamilien ebenfalls wesentlich unklarer bleibt, als Hirschfelder das hier suggeriert.

Auffällig fand ich die Menge des Fleischkonsums, die Hirschfelder schön herausarbeitet. Die Deutschen essen durchschnittlich 60 Kilogramm Fleisch pro Jahr, eine Verdreifachung gegenüber dem Stand vor 100 Jahren, und eine Menge, die in den letzten zwanzig Jahren nur unwesentlich sank. Diese Menge hängt dabei ziemlich deutlich mit der Verfügbarkeit billigen Massenfleisches zusammen.

Die Debatte darüber, ob der heute unverändert extrem hohe Fleischkonsum neben dem unbestreitbaren Problem für Umwelt-, Klima- und Tierschutz auch ein moralisches Problem darstellt, ob wir Menschen des frühen 21. Jahrhunderts uns also moralisch schuldig machen, wenn wir Fleisch konsumieren, ist das Herzstück des eingangs angesprochenen Kulturkampfs ums Fleisch. Besonders von überzeugten Vegetarier*innen und Veganer*innen wird er bereits seit Langem geführt, aber diese waren stets eine kleine Minderheit. Mittlerweile aber ist die Debatte im Mainstream angekommen, wo sie allzu oft im Lärm des Kulturkampfs versandet. Es ist daher willkommen, dass Bernd Ladwig im Essay "Kritik am Fleischkonsum" eine relevante Dichotomie aufmacht und die Frage stellt: "moralisch oder moralistisch?"

Beide Begriffe werden nämlich in der öffentlichen Debatte gerne synonym verwendet, sind es aber nicht. Ladwig unterscheidet beides anhand einer nützlichen Definition, die weit über die Fleisch-Frage hinausgeht. Moralistisch - und damit verwerflich - ist es, anderen ein unmoralisches Verhalten vorzuwerfen, für das sie nichts können. Er definiert vier Schritte: a) Liegt das Verhalten in meinem Verantwortungsbereich? b) Betrifft das Verhalten jemand, der moralisch um seiner Selbst willen zählt? c) Habe ich eine Möglichkeit, anders zu halten? d) Konnte ich wissen, dass mein Verhalten falsch war? Nur, wenn alle diese Schritte gegeben sind, ist moralische Kritik angebracht, ist ein Verhalten moralisch falsch. Ansonsten liegt Moralismus vor.

Nach dieser Definition wendet Ladwig das Prinzip auf Fleischkonsum an. Schnell beantwortet er die Frage, ob etwas moralisch schlechtes geschieht, mit "ja". Angesichts von Massentierhaltung und Folgen des Fleischkonsums kann man kaum zu einem anderen Ergebnis kommen. Wesentlich problematischer aber sind die anderen Fragen: Kann ich etwas dagegen tun (eher nicht, wobei die Wirkung von Boykott im Graubereich belassen wird) und brauchen wir Fleisch vielleicht, so dass der Erhalt der Spezies oder wenigstens unserer Gesellschaft den Fleischkonsum erfordert und so das Leiden der Tiere quasi moralisch überstimmt? Diese Fragen sind wesentlich schwerer zu beantworten.

Ladwig argumentiert dabei mehrere Sichtweisen durch, offeriert Pro- und Contra-Argumente. Auch wenn er selbst am Ende zu dem Schluss kommt, dass Fleischkonsum tatsächlich unmoralisch ist, so warnt er doch vor zu harschen Forderungen, denn nicht nur ist es aktuell noch eine starke Klassenfrage (angesichts der Preise von Ersatzprodukten), sondern ein Wandel erfordert geradezu eine Revolution, die auf starke demokratische Vereinbareitsfragen stößt. Alles in allem war dieser Aufsatz der für mich aufschlussreichste und Augen öffnendste des Hefts.

Eine klarere kulturwissenschaftliche Fragerichtung stellt Martin Winter in seinem Aufsatz zu "Fleischkonsum und Männlichkeit", in dem er genau diesen Zusammenhang untersucht. Er arbeitet dabei schön heraus, wie Fleisch mit zunehmender Verfügbarkeit ab dem 19. Jahrhundert zu einem Symbol für Männlichkeit wurde. Solange es noch gleichzeitig als Wohlstandssymbol fungierte, war die Menge des Fleischkonsums ein Zeichen patriarchalischer Herrschaft; seit der allgemeinen Verfügbarkeit im 20. Jahrhundert dagegen gilt es vor allem als allgemeines Männlichkeitssymbol. Wenig überraschend, dass Männer im Schnitt dreimal (!) so viel Fleisch essen wie Frauen. Eine lange Kulturgeschichte hat Geschlechteridentitäten und Fleischkonsum eng miteinander verknüpft.

Achim Spiller und Gesa Busch gehen von hier in den technischeren Bereich. Sie fragen, "wie Tiere zu Fleisch werden" und stellen die Struktur der deutschen Fleischwirtschaft da. Bemerkenswert ist hier die große Rolle des Exports; so werden etwa rund 50% des deutschen Schweinefleischs exportiert, weil dieser Teil der Tiere auf dem deutschen Markt nicht nachgefragt wird (Ohren, Nasen, Füße, etc.). Diese große Bedeutung es Exports überrascht immer wieder, weil man sich Deutschland nicht als Exportland für landwirtschaftliche Produkte vorstellt, ist aber mengenmäßig ziemlich bedeutsam. Ebenfalls auffällig ist die starke Konzentration des Marktes auf einige wenige große Betreiber.

Von hier ausgehend skizzieren Spiller und Busch vier große Herausforderungen für die Transformation der Fleischwirtschaft: Gesundheit, Umwelt- und Klimaschutz, Tierschutz, Soziale Gerechtigkeit. Der hohe Fleischkonsum der Deutschen, vor allem an Rotfleisch, ist unstrittig gesundheitlich schädlich. Die Auswirkungen der Massentierhaltung auf Klima und Umwelt sind ebenso unstrittig, und dass sie für die Tiere nicht eben angenehm ist auch. Spätestens mit Corona sind zudem die Arbeitsbedingungen der Branche wieder verstärkt in den Blick geraten.

Schwieriger ist, daraus Konsequenzen zu ziehen. Deutsche Vorschriftsverschärfungen etwa führen wohl vor allem dazu, die Produktion ins Ausland zu verlagern, von wo aus das Billigfleisch dann importiert würde, so dass die einzige Konsequenz der Verlust der Fleischindustrie für die deutsche Volkswirtschaft wäre. Das heißt allerdings nicht, dass die deutsche Politik bereits alles Mögliche tun würde; bei Weitem nicht. Von besseren Labels über besseren Umweltschutz gibt es eine Reihe von umsetzbaren Maßnahmen.

Thorsten Schulten und Johannes Specht befassen sich dazu passend mit den Arbeitsbedingungen der Branche unter dem Schlagwort "Ein Jahr Arbeitsschutzkontrollgesetz". Die miserablen Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche hatten wahrlich genug Anlass zur Kritik gegeben. Allein, das Ergebnis der Untersuchung fällt eher bedrückend aus. Ein Jahr nach Verabschiedung hat das Gesetz bisher wenig Auswirkung auf die Praxis der Betriebe gehabt. Die Arbeitsbedingungen haben sich in einigen wenigen Bereichen leicht verbessert, aber insgesamt sind es vor allem mangelnde Kontrolle und Konsequenzen, die Verbesserungen blockieren.

Zum Abschluss befasst sich Deborah Williger mit dem Nischenthema des Schächtens, dem "Verbotenen Standard". Sie zeigt die Wirtschaftsgeschichte der jüdischen Fleischindustrie auf, die in der wenig überraschenden Zerstörung durch die Nationalsozialisten endet. Deutlich überraschender ist, dass die rechtlichen Hürden, die im Nationalsozialismus gegen das Schächten errichtet wurden, danach nie wieder abgeschafft wurden. Bis heute ist Schächten in Deutschland schwer möglich, weswegen koscheres Fleisch - ebenso wie halal Fleisch - importiert werden muss. Dabei, so Williger, sei ordentlich durchgeführtes Schächten für die Tiere nicht quälender als andere Schlachtmethoden; die Ablehnung gehe eher auf alte Zerrbilder von blutrünstigen Juden zurück.

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