Dienstag, 18. Januar 2022

Die Freiheit, die wir meinen

 Aus liberaler Sicht war Corona zumindest in einer Hinsicht eine äußerst fruchtbare Zeit: seit Langem wurde nicht mehr so viel und ausführlich über Freiheit diskutiert wie während der Pandemie. Leider ist das Niveau dieser Debatte nicht besonders hoch, und besonders die Wortführer*innen tauchen durch geradezu beleidigend simplistische und provokative Thesen auf, die eher dazu da sind, Klicks für ihre Hausmedien zu generieren denn Beiträge zu einer Debatte zu sein. Da wir hier bei Deliberation Daily glücklicherweise keine Anzeigenkunden haben, denen wir eine Statistik präsentieren müssen, können wir uns von diesen Mechanismen absetzen und die Debatte besser führen. Stefan Pietsch hat bereits zwei Aufschläge gemacht; ich will im Folgenden versuchen, einen eigenen Ansatz zu präsentieren. Es geht mir dabei weniger darum, zu überzeugen. Wir reden hier von Wertesystemen, und dank Stefans Artikeln habe ich zumindest das Gefühl, seine Haltung zu verstehen, auch wenn ich sie nicht teile. Es ist mein Ziel, ein ähnliches Verständnis auch hier zu schaffen.

Freiheit, was ist das?

"Freiheit" ist ein Begriff, dem eine festgefügte Definition abgeht. Das war schon immer so; andernfalls hätten sich die amerikanischen Gründerväter vermutlich schwer getan, im gleichen Atemzug "Liberty" und Sklaverei zu verteidigen, was für die meisten von ihnen kein Widerspruch war. Auch die Römer verstanden unter "libertas" etwas anderes als das, was das Grundgesetz schützt, und auch die grundgesetzliche Freiheitsdefinition hat sich in vielen Bereichen seit 1949 stark weiterentwickelt.

Sehr gut auf den Punkt gebracht wird dieser Grundkonflikt im Schlagabtausch zwischen Anna Schneider und Marcel Lewandowsky zu, wie könnte es in der infantilen Grundhaltung dieser Debatte anders sein, dem Böllverbot:

"Der Punkt, den Freiheitsignoranten nie begreifen: Es ist egal, was sie vom Böllern halten. Die Freiheit des anderen ist seine Freiheit. Subjektiv, individuell und nicht relativierbar."

vs.

"Der Punkt, den Freiheitsnaive nie begreifen: die Freiheit des anderen findet immer in einem gesellschaftlichen Kontext statt. Dieser Kontext ist in allen Gesellschaften reguliert. Es gibt keine Freiheit, die nicht gegen die Interessen Dritter abgewogen wäre."

Es ist glaube ich für niemanden hier eine Überraschung, wo ich in diesem Konflikt stehe, aber wir müssen an dieser Stelle anerkennen, dass es sich um einen Wertekonflikt handelt, und zwar um einen, der nicht auflösbar ist, schon gar nicht durch Berufungen auf das Grundgesetz oder andere heilige Texte.

Letztlich müssen wir also immer einen Aushandlungsprozess über das ausfechten, was mit "Freiheit" gemeint ist, und versuchen, andere von unserer Konzeption zu überzeugen.

Die Debatte verengt sich gerade auf die "Freiheit zu". Ich will in die Kneipe, ich will keine Maske tragen, ich will nicht impfen. Dabei geht die andere Seite der Medaille unter: die "Freiheit von". Freiheit von Furcht, Freiheit von Krankheit, Freiheit von Hospitalisierung.

Sorgen und Nöte

In der Welt wird Deutschland als "Insel der Ängstlichen" bezeichnet. Diese Kampagne gegen Vorsicht (und damit Rücksichtnahme) bei Corona fährt die Springerpresse schon seit Mai 2020, und sie wird hier im Blog exemplarisch von Stefan Pietsch geteilt. Im gleichen Medium fragt man immer mit Krokodilstränen, warum eine Mehrheit der Bevölkerung so schlecht über Minderheit der Querdenker*innen und Pegida-Demonstrierenden spricht und warum man "besorgten Bürgern" nicht zuhört, ihre "Ängste und Sorgen" nicht "ernst nimmt". Was ist meinen Ängsten und Sorgen? Ich bin besorgt. Warum bin ich kein besorgter Bürger? Warum muss man meine nicht ernst nehmen? Warum bin ich "panisch", ein Einwohner der "Insel der Ängstlichen"?

Auch wenn manche das gerne anders darstellen: ich hasse Masken. Ich mag keine Impfungen. Ich würde mich gerne wieder frei mit anderen Menschen treffen. Allein, seit nunmehr bald zwei Jahren geht das nicht.

Ich trage bei der Arbeit rund um die Uhr eine Maske, und das in einem Job, in dem ich viel reden muss. Das ist nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig. Ich trage sie selbstverständlich auch beim Einkaufen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ansonsten trage ich keine Maske. Der Grund dafür liegt nicht darin, dass ich die bestehenden Regeln breche, sondern dass ich seit fast zwei Jahren vor allem an drei Orten bin: auf der Arbeit, zuhause und im Supermarkt. Andere Orte suche ich praktisch nicht auf.

Diese Beschränkung ist massiv. Ich weiß, dass viele andere, sogar die Mehrheit, ihr Leben ähnlichen Beschränkungen unterworfen haben. Wir machen das nicht, weil wir es total toll finden, weitgehende Isolation zu betreiben und unsere Hobbies und unser Privatvergnügen einzuschränken. Wir tun es, um uns und andere zu schützen. Mit unserer Zurückhaltung erkaufen wir eine Eindämmung der Pandemie, ein Brechen von Wellen, ein Aufrechterhalten des Gesundheitssystems. Es ist quasi ein Einzahlen auf das Konto der Gesundheit. Umso ärgerlicher ist es, wenn andere freigiebig davon abheben, um sich selbst etwas zu gönnen.

Die Kubicki-Liberalen

Ich habe eingangs das niedrige Niveau der Freiheits-Debatte beklagt. Für mich - und ich möchte erneut klarmachen, dass mir bewusst ist, dass andere das anders sehen und es hier ein wenig polemisch wird - sind die "Kubicki-Liberalen" dabei das Problem. Ich könnte sie auch Poschardt-Liberale nennen, aber Kubicki hat einen größeren Bekanntheitsgrad (wer sich für Kubicki und seine Vorstellung von Freiheit tiefer gehend interessiert, dem sei dieses Interview in der ZEIT nahegelegt). Deswegen darf er hier stellvertretend für diese Gruppe stehen, auch wenn ein guter Teil der Kubicki-Liberalen vermutlich weder einen Bezug zur FDP im Allgemeinen noch zu Kubicki im Speziellen hat. Aber ich hab kein besseres Wort dafür und möchte sie gerne von der Mehrheit der FDP abgrenzen, die ich dezidiert nicht meine.

Ich greife Kubicki vor allem wegen der berühmt-berüchtigten Kneipen-Episode heraus, als er im Hausverlag der Kubicki-Liberalen der BILD ein Interview gab und darin stolz verkündete, dass er die Corona-Verordnungen gebrochen habe, weil er eben mit Freunden in der Kneipe feiern wollte. Diese Haltung zum Rechtsstaat ist eine, die weder Kubicki noch der Springer ihren Spiegelbildern bei der Antifa durchgehen lassen würde, die sich auch gerne auf ein höheres Recht berufen, um ihre Verstöße gegen das Gesetz zu rechtfertigen. Sie ist, das sei erneut betont, auch in der FDP zum Glück nicht mehrheitsfähig.

Wenn ich also von Kubicki-Liberalen schreibe meine ich Leute, die ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse sowohl über die ihrer Mitmenschen stellen als auch über geltendes Recht. Es ist eine Vulgarisierung von "Freiheit" zu einem "Ich! Ich! Ich!", das den großen Philosoph*innen die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Umso aggressiver verteidigen diese Leute ihre Haltung. Der eingangs erwähnte Ulf Poschardt etwa, Chefredakteur der Welt, ist ganz groß darin, sich in die Pose des Widerstandskämpfers zu werfen. In einer absolut geschmacklosen Verknüpfung mit einem Nachruf auf Guido Westerwelle stellt Poschardt etwa fest:

Bis auf eine kleine Minderheit, rund zehn Prozent, hat sich die bürgerliche Welt mit dem Freiheitsentzug arrangiert.

In einem anderen Artikel bläst er ins selbe Horn:

Der mündige Bürger hat Sendepause.

Gerne wird in der Debatte übrigens behauptet, dass es "früher" viel besser gewesen sei mit der Freiheit als heute, dass erst neuerdings ein gewaltiger Moralschub des Staates und Teilen der ihn stützenden Gesellschaft gekommen wäre, der erstmals zu massiven Einschränkungen der freien Entfaltung der Person führt. Das ist ahistorischer Unsinn. Hedwig Richter weist etwa auf den geradezu manischen Erziehungsdrang der Konservativen in der frühen BRD hin; im Vermischten habe ich letzthin die noch in den 1980er Jahren versuchte erbitterte Durchsetzung einer Heteronormativität thematisiert, und in Großbritannien entblödete sich der beim Telegraph arbeitende Aktivist Steven Edginton nicht, die 1950er Jahre als Höhepunkt der Freiheit in einem UK zu feiern, in dem Lebensmittel nur mit Bezugsscheinen gekauft werden konnten.

Diese Attitüde von der unterdrückten Minderheit, die von einer modernen "Gesinnungsdiktatur" unterdrück werde, ist nicht nur elitistischer Blödsinn; sie wirkt auch delegitimierend für das demokratisch verfasste Staatswesen, dem sowohl Rechtsstaatlichkeit als auch Verfassungsmäßigkeit abgesprochen werden. Noch einmal: das betrifft weder die gesamten Springer-Journalist*innen noch die FDP-Politiker*innen als Ganzes; in beiden Gruppen sind diese Leute sogar eine Minderheit (was sicherlich mit zu ihrem Verfolgungswahn beiträgt). Aber sie haben (ironischerweise) ein großes Megafon.

Die zwei Seiten der Freiheit

Jetzt könnte man natürlich sagen: Was interessiert es euch, wie andere ihre Freiheit ausleben? Aber damit sind wir beim Problem mit den Kubicki-Liberalen: ihre egoistische Auslebung der eigenen Freiheit beschneidet die Freiheit anderer Leute. Und das ist das Problem. Wenn Kubicki ohne Maske in die Kneipe feiern geht, ist das mehr als nur das Ausüben seiner Grundrechte (und nein, die wurden ihm nicht genommen). Er belastet aktiv seine Mitmenschen. Und das nicht nur durch die Gefährdung mit Ansteckung, die er bewusst riskiert:

Menschen, die sich an die Maßnahmen halten, die sich an Recht und Gesetz halten, werden psychologisch dadurch belastet, dass andere es ungestraft nicht tun, ganz besonders, wenn diese auch noch Positionen von Macht und Autorität innehaben. Als jemand, der im Interesse der Allgemeinheit großen Verzicht übt, ist es doppelt schlimm, Hetzschlagzeilen in der BILD lesen zu müssen. Es ist genau diese reine Konzentration auf die "Freiheit zu", die dafür sorgt. Manche nehmen sich die Freiheit heraus, die Freiheit anderer einzuschränken. Als Alternative werfen sie anderen nur fröhlich zu, es doch einfach so zu machen wie sie. Das allerdings funktioniert leider nicht. Der Raum, den sich diese Minderheit nimmt, wird ihr von der vernünftigen Mehrheit geschaffen. Nur sieht sie das nicht.

Gleichzeitig gibt es eine ungeheure Empfindlichkeit bei diesen selbsternannten Freiheitskämpfern. Zwar beansprucht man für sich selbst eine grobe Sprache, die nichts auf die Befindlichkeiten anderer gibt - Political Correctness und Cancel Culture wäre das, schließlich - aber man selbst möchte wie ein rohes Ei behandelt werden. Diese Schieflage hat sich mittlerweile auch tief in das Lager der verantwortungsvollen Mehrheit eingefressen, wo eben diese Rücksichtnahme mittlerweile als eine der Hauptursachen der niedrigen Impfquote und ständigen Verstöße gegen die Sicherheitspolitik gilt. Beispielhaft sei dafür dieser Tweet zitiert:

Wie widersinnig ist es, dass die Verantwortung für die Handlungen erwachsener Menschen nicht etwa bei ihnen selbst liege - eine urliberale, freiheitliche Idee - sondern vielmehr eine Infantilisierung stattfindet, die jedem Kindergartenkind gut zu Gesicht stünde? "Du hast etwas gesagt, das mir nicht passt, deswegen mache ich es jetzt extra!" Jedes Kleinkind würde dafür gerügt, aber bei Erwachsenen wird es plötzlich akzeptiert. Überhaupt, Erwachsene.

Stefan Pietsch hat mich auf einen Artikel zu Australien aufmerksam gemacht (danke dafür!), das seine Bürger*innen "wieder wie Erwachsene behandeln" will. Die Botschaft hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube. Ich fände es gut, wenn wir auf Eigenverantwortung setzen könnten, darauf, dass alle sich wie Erwachsene verhalten und wir das Ding gemeinsam durchstehen. Nur deutet nichts darauf hin, dass das der Fall ist. Besonders virulent ist das bei den Kubicki-Liberalen sichtbar, die am lautesten nach Eigenverantwortung schreien und sie am wenigsten wahrnehmen. Besonders offenkundig wurde das, wie könnte es anders sein, in der völlig beknackten Debatte um das Böllerverbot.

Gelebte bürgerliche Freiheit

Mittlerweile ist die Debatte um Böller an Weihnachten zu einem Ritual geworden, ähnlich dem "Mallorca als 17. Bundesland"-Sommerloch. Aber dieses Jahr war sie ganz besonders dämlich. Zum Jahreswechsel offenbarte die CDU-Kultusministerin von Schleswig-Holstein, Karin Prien, ihr eigenes Freiheitsverständnis:


Auch der bayrische FDP-Vorsitzende Martin Hagen zeigt dieses absonderliche Freiheitsverständnis und lässt sich von der BILD dabei fotografieren, wie er das Gesetz bricht. Peter Altmaier fühlt sich durch das Böller-Knallen gar wohlig an den Kalten Krieg erinnert, als die Sowjets jeden Moment die Freiheit bedrohen konnten. Kurz: es ist ein identitätspolitisches Spektakel der Liberal-Konservativen, das in seiner Infantilität kaum Grenzen kennt.

Wir können an dieser Stelle darüber diskutieren, wie sinnvoll das Böllerverbot ist, ob es hilfreich ist, ob es schadet, aber darum geht es ja niemandem (es gibt allerdings tatsächlich gute Gründe dafür, falls es jemanden interessiert; nicht nachvollziehen kann ich dagegen die Kritik von Marius Sixtus.). Es ist Symbolpolitik, auf beiden Seiten. Die Befürworter*innen nutzen es, um einen Standpunkt gegenüber Kontaktbeschränkungen und Umweltschutz, die Gegner*innen um ihre Identität als freiheitlich gesinnte Individuen deutlich zu machen.

Wenn das allerdings das Niveau der Freiheitsdebatte an Deutschland ist, wenn sich hier Wohl und Wehe von Liberalismus, Freiheit und Rechtsstaat entscheiden sollen, dann gute Nacht. An diesem miesen Niveau sind natürlich nicht nur diejenigen Schuld, die diesen Unfug raushauen. Sie reagieren auch auf Anreize, die durch die Medien gesetzt werden - und sind zu Recht verärgert durch eine Krisenkommunikation, deren galaktisches Versagen sich über praktisch alle Akteure in Politik, Medien und Gesellschaft zieht.

Man kann nicht nicht kommunizieren, aber gut wär's manchmal

Es gibt Akteure, die bewusst eine kommunikative Agenda verfolgen und diese setzen. Ich hatte bereits die unverantwortliche Hetze der BILD genannt, die in einer an Tiefpunkten nicht eben armen publizistischen Geschichte während der Pandemie neue Maßstäbe zu setzen in der Lage war. Sicherlich ließen sich weitere Beispiele finden, auch von Leuten, die alarmistisch agieren, die einen wohligen Grusel bei Horrormeldungen verspüren und vieles mehr. All diese Idioten gibt es zur Genüge.

Aber der Großteil der Probleme entsteht durch ungeschickte Kommunikation. Beispiele dafür gibt es genug. In einem Twitterthread findet sich etwa eine ziemlich ausführliche Analyse der "Spaßbremsen", die aus irgendeinem Grund ständig mit Strandbildern Lockdown-Artikel bebilderten, als ob Strände das Problem der Pandemie wären. Das ist natürlich nur ein Detail, aber es ist ein weiterer Baustein in dem Eindruck, dass die Pandemiemaßnahmen vor allem dazu dienten, Leuten das Leben zu vermiesen.

Auch Christian Stöcker kritisiert vor allem die Kommunikationsstrategie als zentrales Problem; seine Argumentation sei in voller Länge empfohlen. Ich möchte mich an der Stelle, wenngleich mit einem etwas anderen Ansatz, in Jan Fleischhausers Klagen einstimmen. Ich habe normalerweise keine großen Berührungspunkte mit ihm, aber seiner Kolumne dazu, warum er die Maßnahmen ignoriert, kann ich aus vollem Herzen zustimmen. In Kürze: Fleischhauer erklärt, sich künftig verantwortungsvoll zu verhalten, aber auf die sich ständig ändernden Ratschläge und Richtlinien von RKI und Konsorten nicht mehr zu hören.

Ich kann das voll nachempfinden. Ich weiß, wie bereits weiter oben beschrieben, ohnehin schon längst nicht mehr, welche G-Regelung in Stuttgart nun genau gilt und in welchen Straßen man welche Abstände zu welchen Uhrzeiten einhalten muss. Es ist auch irrelevant, weil ich mich nur zwischen Arbeit, Supermarkt und Zuhause bewege. Aber der Grundfehler in der gesamten Pandemie war die Flexibilität der Maßnahmen, ihre unerträgliche Feinsteuerung. Mein Handy schickt mir über NINA immer noch die aktuellen Corona-Verordnungen, aber wer liest diesen Blödsinn? Textwüsten in Legalesisch, die selbst mit Uniabschluss kaum zu entschlüsseln sind; ständig ändernde Regelungen, die doch nur auf "testen und Maske" herauslaufen. Warnstufen, zweite Stufe von Warnstufen, besondere Warnstufen. Wer da nicht wahnsinnig wird, der beantragt auch ruhigen Gewissens Passierschein A38.

Nun bin ich bereits 37 Jahre alt und leide zwar unter der mittlerweile zwei Jahre andauernden massiven Einschränkung meines Lebens. Das ist aber kein Vergleich zu den eigentlichen Opfern dieser riesigen Katastrophe.

Aber denkt denn niemand an die Kinder?

In einem Essay fragt Jan-Martin Wiarda, ob es "Gleichgültigkeit, Ignoranz oder bewusste Härte" war, als Bayerns Gesundheitsministerium verfügte, "dass auch ungeimpfte Kinder ab zwölf nicht mehr ins Kino durften, nicht mehr ins Museum oder in den Zoo. Obwohl sie bis zu ihrem zwölften Geburtstag gar nicht vollständig geimpft sein konnten – denn es gab zu dem Zeitpunkt keinen für Kinder zugelassenen Impfstoff." Diese Frage ist berechtigt (und der ganze Essay lesenswert). Denn niemand leidet so sehr unter den Folgen der Pandemie wie Kinder (mit Ausnahme der Selbstständigen vielleicht).

Sie sind es, die elementare Erlebnisse und Lerneffekte verlieren. Ich sehe es jeden Tag, sowohl bei meinen eigenen Kindern im Grundschulalter als auch bei den Mittel- und Oberstufenschüler*innen, die ich unterrichte. Dieses Jahr wird ein Jahrgang Abitur machen, für den die Pandemie in Klasse 11 begann. Diese Klassen haben keine Klassenfahrt durchgeführt, keine Exkursion, keine andere außerschulische Veranstaltung. Viele Wochen verbrachten sie im Fernunterricht. Es sind junge (Beinahe-)Erwachsene, die vergleichsweise gut damit umgehen und ihren Alltag schon weitgehend selbstbestimmt gestalten können, aber auch für sie sind formative Erlebnisse verlustig gegangen, weil sie sich viel weniger mit Freunden treffen und das tun können, was Jugendliche in ihrer Freizeit tun: Nichts, aber gemeinsam. Dabei ist das für die Charakterbildung essenziell.

Und da sind wir noch gar nicht bei den Jüngeren, wo es um Kernkompetenzen geht, von der Orientierung im Straßenverkehr (wo mein jüngeres Kind verglichen mit dem älteren Geschwister merkliche Defizite hat, weil man eben fast nur zuhause ist) bis hin zum Umgang mit Gleichaltrigen. Thematisiert wird das gegenüber Unfug wie Böllern an Sylvester oder dem Ferienflug nach Lanzarote aber kaum.

Der Grund dafür sind Prioritäten. Die Pandemiepolitik wird von alten Menschen für alte Menschen gemacht. Man kann das am Kommunikationsbudget selbst sehen, wo sagenhafte 2,2% für die Sozialen Medien vorgesehen sind, aber stattliche 50% für das Sorgentelefon der Kassenärzt*innen. Die Schulen werden um jeden Preis offengehalten, nicht weil das für die jungen Menschen gesund wäre (dann würde man sich um die erwähnten außerunterrichtlichen Angebote, um ihre Kommunikation und so weiter Sorgen machen), sondern weil man sie betreut wissen muss, damit die Eltern arbeiten gehen können, und damit sie die Klausuren schreiben, deren Noten für (ältere) Personaler*innen und überkommene Zugangsberechtigungen immer noch als entscheidende Wasserscheide fungieren. Schlicht: Man sieht am Geld, wo die Prioritäten liegen, gerade im Bildungsbereich.

Die Folge dieses Austragens der Pandemie auf dem Rücken der jungen Generation ist die gestiegene Selbstmordrate, die dieser Tage für Streit sorgt. Die Zahlen sind alarmierend. Sie sind angesichts der Belastungen, die der jungen Psyche zugemutet werden, nicht weiter verwunderlich. Isolation und Bedrückung sind für gestandene Erwachsene über eine Zweijahreszeitraum bereits kaum erträglich - von Kubicki bis Fleischhauer finden sich dafür genügend Belege. Für junge Menschen sind zwei Jahre eine Ewigkeit, sind eine komplette, formative Phase. Die einzige Antwort, die ihnen Politik und Gesellschaft geben, ist, dass sie jeden Tag in die Schule dürfen, in die Schule müssen - nicht, um dort etwas zu lernen, um dort ihren Charakter zu formen, sondern um zu funktionieren und Noten zu produzieren.

Dieses Versagen von Politik und Gesellschaft ist parteiübergreifend. Ob Links oder Rechts, das trübe Bild ist überall dasselbe. Ich verweise hier exemplarisch auf einen Artikel im Atlantic ("Why I soured on Democrats"), dessen Kritik quasi universell ist. Ob blaue Staaten, ob rote Staaten, ob USA, ob Deutschland, überall ist es dasselbe Bild.

Kein Fazit

Mir ist bewusst, dass dieser Artikel strukturell eine kleine Katastrophe ist. Ich schreibe seit mittlerweile fast sechs Wochen daran herum. Es fällt mir schwer, die vielen oft genug widerstreitenden Gefühle in mir in eine kohärente Struktur zu gießen, aber ich möchte in der Ganzheit dieser Widersprüchlichkeit, in meinem eigenen Ärger, meinen eigenen Sorgen, Ängsten und Nöten, wahrgenommen werden. Ich kann daher auch kein Fazit bieten; es ist nicht diese Art von Artikel. Noch erwarte ich, dass ich damit irgendjemandes Meinung ändere. Meine Hoffnung ist vielmehr, dass meine Haltung dadurch klarer und nachvollziehbarer wird, auch wenn man sie nicht teilt, und beleidigende Klischees von "du willst dass alle Maske tragen" oder "du willst unbedingt den Lockdown" zu durchbrechen. Ich hasse die Masken. Ich will keinen Lockdown. Ich will ein Ende der Pandemie. Aber ich will auch kein Covid. In diesem Dilemma bewegen wir uns alle, ob Eltern, ob Kinder, ob Arbeitgebende, Arbeitnehmende, Wissenschaftler*innen oder Politiker*innen. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Der Streit wird weitergehen. Aber vielleicht ist das wenigstens ein Beitrag dazu, ihn etwas zu vermenschlichen.

 

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