Zu den Debatten, die in den USA mit schöner Regelmäßigkeit ausgelöst werden, gehört neben der Aufnahme neuer Staaten (D.C., Puerto Rico) und der Reform des Supreme Court (Amtszeiten, court packing) todsicher eine Reform des Senats. Das Oberhaus des amerikanischen politischen Systems sorgt seit mittlerweile zwei Jahrzehnten zuverlässig für Probleme und Streit im amerikanischen Verfassungswesen. Anders als im Repräsentantenhaus haben die Senator*innen eine ungeheure persönliche Verhinderungsmacht und nutzen diese auch mit Gusto. Die Verzerrung dieser Stimmmacht - jeder Staat hat zwei Sitze, egal ob er wie Wyoming 550.000 Einwohnende oder wie Kalifornien 39,5 Millionen hat - gepaart mit arkanen Regelungen wie dem Filibuster bringt die Institution beständig in die Kritik, ein undemokratisches Instrument zu sein. Das lassen Senator*innen natürlich nicht gerne auf sich sitzen. Die jüngste Verteidigung der Institution kommt von Mitt Romney und Joe Manchin, und ich möchte die Gelegenheit nutzen, einen genaueren Blick auf den Senat zu werfen.
Da wäre einerseits Romney, der eine enthusiastische Rede zur Verteidigung der Minderheitenmacht im Senat hielt:
Note that in the federal government, empowerment of the minority is established through only one institution: the Senate. The majority decides in the House; the majority decides in the Supreme Court; and the president, of course, is a majority of one. Only in the Senate does the minority restrain the power of the majority. That a minority should be afforded such political power is a critical element of this institution. For a law to pass in the Senate, it must appeal to senators in both parties. This virtually assures that the bill did not originate from the extreme wing of either one, and thus best represents the interests of the broadest swath of Americans. The Senate’s minority empowerment has meant that America’s policies inevitably tack towards the center. [...] Consider how different the Senate would be without the filibuster. Whenever one party replaced the other as majority, tax and spending priorities would change, safety net programs would change, national security policy could change. Cultural issues would careen from one extreme to the other, creating uncertainty and unpredictability for families, for employers, and for our friends abroad. The need to marshal 60 votes requires compromise and middle ground, it empowers the minority, and it has helped to keep us centered as a nation, fostering the stability and predictability that are essential for investments in people, in capital, and in the future. (Hervorhebungen im Original)
Und dann haben wir Joe Manchin, der spezifisch über das Instrument des Filibuster spricht:
The tradition of the Senate here in 232 years now..we need to be very cautious what we do..That's what we've always had for 232 years. That's what makes us different than any place else in the world.
Man hört dieses Narrativ von Fans des Senats sehr oft. Fast alles daran ist Bullshit. Wahr ist allerdings, dass es "die USA von jedem anderen Ort der Welt unterscheidet". Aber dasselbe gilt für die Verbreitung von Sturmgewehren, und die wenigsten Menschen außerhalb einer Gruppe von Waffennarren würde behaupten, dass man diese amerikanische Eigenart besonders hochhalten oder gar übernehmen sollte. Vielmehr sind sich die "anderen Orte der Welt" ziemlich einig darin, wie bescheuert das ist.
Ich möchte mir zuerst Romney vornehmen, weil seine Punkte allgemeiner gehalten sind und er einen Gedanken formuliert, der in den USA so tief verankert ist, dass er common sense ist, der aber zutiefst anti-demokratisch und Wurzel vieler Probleme des Landes ist. "Immer, wenn eine Partei eine andere als Mehrheit ablösen würde, würden die Steuern und Ausgabeprioritäten sich ändern, würden sich Sozialstaatsprogramme ändern, Sicherheitspolitik würde sich ändern. Kulturelle Themen würden von einem Extrem ins andere schlagen und Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit für Familien, Arbeitgebende und unsere Freunde im Ausland schaffen." Das klingt sehr vernünftig und moderat. Ist es aber nicht.
Denn das Schreckensszenario, das Romney beschreibt, ist in jeder anderen Demokratie der Welt Realität. Ob in Großbritannien oder Deutschland, ob in Frankreich oder Italien, Japan oder Australien, wenn eine Partei eine Mehrheit der Stimmen erringt, kann sie Gesetze machen - ob für Steuern, Sozialgesetzgebung oder Sicherheitspolitik. Und das ganz ohne, dass diese Systeme im Chaos versinken würden. Was Romney hier proklamiert ist eine zutiefst anti-demokratische Idee: dass Wahlen keine Konsequenzen haben sollten.
Die ganze Idee hinter Wahlen in einer Demokratie ist, dass den Bürger*innen ein Angebot verschiedener Politiken gemacht wird, aus dem sie auswählen können. Wir hier in Deutschland haben während der Merkel-Jahre nicht völlig zu Unrecht geradezu eine Obsession damit entwickelt, dass die Parteien sich nicht genug unterschieden, nicht ausreichend unterschiedliche Vorstellungen anbieten. Wenn eine Partei (oder eine Koalition) eine Mehrheit gewinnt, dann kann sie mit dieser versuchen, ihre Ideen umzusetzen - und sich dann bei der nächsten Wahl dem Urteil der Wählenden stellen. Romney erklärt hier, dass genau das nicht passiert. Stattdessen lobt er den Senat dafür, dieses urdemokratische Prinzip außer Kraft zu setzen: Mehrheiten ändern gar nichts. Sie dürfen nichts ändern.
Und genau diese Funktion erfüllt der Senat. Für Konservative ist das natürlich super, denn sie wollen ja nichts ändern. Das gilt in Besonderem Maße für die Republicans, die seit mittlerweile zwei Jahrzehnten eine komplette Obstruktions- und Sabotagepolitik fahren und mit einer Mehrheit im Senat, abgesehen von Steuergeschenken für die Superreichen und der Eroberung des Rechtswesens (in dem sie kein Problem mit massiven, alles verändernden Entscheidungen haben), keinerlei Ambitionen haben, selbst wenn sie die Mehrheit haben. Die Theorie, die darum herum gekleidet wird, ist demgegenüber reine Dekoration.
Damit kommen wir zu dem anderen Teil von Romneys zwar schön klingender, aber ahistorischer Betrachtungsweise des Senats. Denn die Rolle, die er heutzutage ausübt, hatte das Gremium so nicht immer. Romney behauptet, dass eine Mehrheit von 60 Stimmen schon immer notwendig war. In dasselbe Horn bläst, wesentlich kruder und dazu grottenfalsch, Joe Manchin. Der Filibuster, der dafür sorgt, dass diese 60 Stimmen "notwendig" sind, existiert nicht seit 232 Jahren, sondern seit 2008. Rechtlich überhaupt existiert er erst seit 1975. Der Senat war allerdings, hier haben beide Recht, schon immer eine Minderheiteninstitution.
Warum wurde der Senat überhaupt geschaffen? Er ist keinesfalls ein Kind der Liebe der Verfassungsväter. Der Verfassungsentwurf sah ein Einkammerparlament vor, das Repräsentantenhaus, mit proportionaler Vertretung der Einzelstaaten. Ein Senat wurde erst auf dem Konvent in Pennsylvania improvisiert und in den endgültigen Verfassungstext geschrieben. Er diente einem einzigen Zweck: dem Schutz der Sklaverei. Denn es war bereits 1787 absehbar, dass der Nordosten der USA wesentlich attraktiver für Migrant*innen war als der Süden, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den nördlichen Handwerksbetrieben und Fabriken dynamischer verlief als auf den südlichen Plantagen. Keinesfalls sollte eine Mehrheit aber die "peculiar institution" der Sklaverei abschaffen können. Daher der Senat, daher die vielen Verfassungskrisen der USA im 19. Jahrhundert, mit dem Missouri Compromise, der das Gleichgewicht im Senat stets aufrechterhielt.
Ein Filibuster indessen existierte im Senat nicht. Stattdessen konnte jede Debatte mit einer einfachen Mehrheitsentscheidung beendet werden. Es war Aaron Burr, der 1805 das damals schon ausufernde und arkane Regelwerk des Senats vereinfachte und die Möglichkeit eines Filibusters schuf, also einer endlosen Rede, die nur von 2/3 der Kammer abgebrochen werden kann. Das fiel niemandem auf. Zum ersten Mal nutzte jemand die Möglichkeit eines Filibuster 1837, als die Verfassungsväter alle schon tot und unter der Erde waren und nicht mehr erklären konnten, dass das nicht in ihrem Sinne war (nicht, dass jemand der Sinn dieser Leute interessieren sollte, aber ich schweife ab). Dieser Filibuster scheiterte übrigens; der fragliche Senator wurde von der Senatspolizei vom Rednerpult gezerrt, laut zeternd "Am I not allowed to speak?" Die Antwort war ein klares Nein, die amerikanische Demokratie ging nicht unter. Der Filibuster blieb ein seltenes Instrument, und er blieb fast immer erfolglos.
1917 wurde die cloture-Regel eingeführt, also die Verrechtlichung der Abstimmung zum Beenden einer Debatte. Vorher gab es überhaupt keine Regel zum Beenden einer Debatte, daher auch der Zwischenfall mit der Senatspolizei. Relevant war diese nicht, weil Filibuster weiterhin sehr selten genutzt wurden - um genau zu sein, nur für ein einziges Thema, aber dazu gleich mehr. 1972 wurde das "Tracking" eingeführt, mit dem ein Filibuster nicht mehr den gesamten Senat blockierte, sondern nur noch das spezifische Gesetz. Kurz darauf wurde die Möglichkeit geschaffen, einen Filibuster einfach nur anzukündigen. Es ist diese Regel, mit der der Senat sich neuerdings selbst blockiert, denn tatsächlich gehalten werden Filibuster nicht. Stattdessen fragt die Senatsverwaltung für jeden Gesetzesentwurf, ob irgendein*e Senator*in einen Filibuster machen will - per eMail, die einfach von Mitarbeitenden des/der jeweiligen Senator*in beantwortet wird. Antwortet also irgendein*e Mitarbeiter*in positiv auf diese Rundmail, gilt das als Filibuster. Diese Absurdität existiert erst seit den 2000er Jahren, und es ist sie, die seither von beiden Seiten - wesentlich mehr aber den Republicans - ausgenutzt wird. Nichts mit 232 Jahren geheiligter Geschichte.
Nach der Abschaffung der Sklaverei 1865 könnte man ja annehmen, dass sich damit auch ein explizit zu ihrer Erhaltung gegründeter Körper weitgehend überlebt hätte. Aber weit gefehlt. Denn der Senat spielte weiter eine unrühmliche Rolle. Filibuster wurden zwar nur sehr selten und meist erfolglos gehalten, aber mit uhrwerksmäßiger Präzision und Erfolgsquote dann, wenn es um Bürgerrechte für Afroamerikaner*innen. 1922, 1935 und 1938 verhinderten Filibuster erfolgreich, dass das Lynchen von Afroamerikaner*innen illegal wurde. 1942, 1944, 1946, 1948 und 1962 verhinderten Filibuster erfolgreich, dass "poll taxes" abgeschafft wurden, mit denen die Aufnahme von Afroamerikaner*innen ins Wählendenregister verhindert und ihnen so ihr Wahlrecht genommen wurde. Bürgerrechtsgesetzgebung wurde 1946, 1950, 1957, 1960, 1962, 1964, 1965, 1966, 1968, 1972 und 1975 durch erfolgreiche Filibuster blockiert. Die Tradition des Senats, white supremacy aufrechtzuerhalten - die einzig echte auf 1787 nachverfolgbare Tradition - war überparteilich. Und damit sind wir bei der Gegenwart, denn die moderne, völlig aus dem Ruder gelaufene Dauerobstruktion des Filibuster begann mit - dem ersten schwarzen Präsidenten der USA. Das sollte zu diesem Zeitpunkt kaum mehr überraschen.
Der Senat im Allgemeinen und der Filibuster im Speziellen sind daher alles, aber keine demokratischen Instrumente. Sie waren vielmehr von Anfang an dazu da, Mehrheiten zu blockieren. Mitt Romney ist diesbezüglich ehrlich, und entweder hat er genauso wenig Ahnung von der Geschichte des Senats wie Joe Manchin oder er verzerrt die Wahrheit absichtlich und stellt das in ein Licht freiheitlicher Ideale. Das kann man natürlich machen, und aus seiner Warte heraus macht das strategisch auch Sinn. Nur sollte klar sein, dass das mit Demokratie und Freiheit herzlich wenig am Hut hat.
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