Mit ihrem Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre" hat Hedwig Richter, Professorin für Geschichte an der Bundeswehruniversität in München, einen Bestseller hingelegt, der 2020/21 für eine lebendige Debatte gesorgt hat. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart untersucht sie in einem großen Bogen das Verhältnis der Deutschen zur Demokratie, und wie der Buchtitel schon verrät, stellt sie sich gegen die beliebten Sonderwegs-Narrative, die den Deutschen ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie unterstellen, und attestiert ihnen stattdessen eine "Affäre" mit ihr.
Das mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber auf den zweiten Blick gar nicht so weit hergeholt, vor allem, wenn man den historischen Rahmen anschaut. Freiheit und Parlemantarismus waren in Deutschland über Jahrzehnte praktisch gleichbedeutend mit der Nation. Von den Befreiungskriegen zum Vormärz, von 1848 bis zur Parlamentarisierung 1918, von Weimar über Herrenchiemsee lassen sich klare Kontinuitäten ausmachen. Die NS-Zeit ist es, die als der große Zivilisationsbruch einer allzu rosigen Betrachtung im Wege steht, ebenso wie die Obrigkeitsstaatlichkeit so vieler Aspekte des Kaiserreichs.
Richter stellt für die Argumentation vier zentrale Thesen auf, auf die sie im Verlauf immer wieder zurückkommt: Demokratie sei eine Sache von Eliten, die das allgemeine Wahlrecht eher gegen den Widerstand der breiten Masse durchgesetzt haben. Demokratie sei eine Sache von Reformen, wogegen Revolutionen sich (mit wenigen Ausnahmen) eher als schädlich gezeigt hätten. Demokratie sei "wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens – und seiner Würde". Und Demokratie sei eine internationale Geschichte.
Letzterer Punkt dürfte der Unstrittigste sein. Die europäische Dimension der Revolution(en) von 1848 etwa wird bereits seit Längerem in Forschung und Unterricht herausgestellt. Auch der Blick in die USA ist immer instruktiv, wo sich im 19. Jahrhundert ein Prozess der Demokratisierung vollzog, der schlussendlich sogar in einen Bürgerkrieg mündete. Während Richter zwar immer wieder den Blick aufs Ausland lenkt, bleibt der Fokus aber klar auf Deutschland gerichtet. Und hier spielen vor allem die ersten beiden Punkte eine zentrale Rolle.
Dass die Liberalen des frühen 19. Jahrhundert, die durch den Vormärz hindurch für Verfassung und Rechtsstaat stritten, zur Elite des Landes gehörten, dürfte unbestritten sein. Auffällig ist, dass die Wahlverfahren der damaligen Zeit mit unseren heutigen Ansprüchen - gleich und geheim - nichts zu tun hatten; sie waren langwierige und ätzende Rituale mit beschränkter Entscheidungsmacht. Konsequenterweise entzogen sich viele Menschen diesen Wahlen - und forderten die Liberalen eine Demokratisierung des Wahlrechts (die immer auch mit einer impliziten oder expliziten Wahlpflicht einherging!) GEGEN den Willen derjenigen, die damit beglückt werden sollten. Diesen langen und kleinschrittigen Prozess sieht Richter als essenziell für das lange Einüben demokratischer Verhaltensweisen an, die Deutschland später sehr zugutekommen würden.
Diese Rolle der Eliten paart sich mit einer Ablehnung von Revolutionen, die als schädlich für das demokratische Projekt gesehen werden. Vorbild ist dabei vor allem die Französische Revolution, die in der napoleonischen Tyrannei endete, ein Schicksal, das die Liberalen unbedingt vermeiden wollten. Daher ihre Präferenz für Reformen, eine Linie, die Richter vorbehaltlos als richtig betrachtet. Selbst in den Revolutionen von 1848 und 1918 sieht sie mehr Ansätze für reformerisches Vorgehen als radikale Umsturzpläne; die Vertreter von Letzteren bleiben stets eine winzige Minderheit, die denn auch, anders als etwa in Russland, nicht gegen die tradierten Vorlieben ankommen.
Der mit Abstand innovativste Ansatz von Richters Darstellungen aber ist ihre Betonung der Körpergeschichte. Aus der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper leitet sie die Demokratisierung her: ohne eigenen Körper kann es keine politische Mitsprache geben. Diese Gleichsetzung sorgt bis heute für die natürliche Ausgrenzung von Unterschichten, Frauen, Minderheiten, Sklav*innen und Kindern. In dem Maße, in dem (natürlich über Reformen!) Gruppen die Verfügungsgewalt über ihre Körper erlangten, wurde ihr Ausschluss aus der Politik zunehmend schwieriger zu rechtfertigen und schrittweise überwunden, von der Abschaffung der Sklaverei über das preußische Dreiklassenwahlrecht bis zum Frauenwahlrecht.
In dieser Struktur führt Richter durch die deutsche (und schlaglichtartig internationale) Demokratiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Vor allem die Hochzeit der Liberalen im 19. Jahrhundert wird dabei sehr positiv in Szene gesetzt, führt aber auch zu der bereits von mir jüngst angesprochenen Neubewertung des Kaiserreichs. Richter betont vorrangig die progressiven Elemente des Kaiserreichs. Sie verleugnet dessen dunkle Seiten nicht, hält sich aber abseits einer kurzen Benennung derselben überwiegend nicht groß mit ihnen auf. Aus meiner Sicht ist das unproblematisch, sind sie doch sattsam bekannt und geradezu überbetont.
Merklich ist ohnedies, dass die progressiven Seiten samt und sonders gerade nicht vom Obrigkeitsstaat herrühren, sondern im Gegensatz zu ihm stehen. Richter lenkt immer wieder den Blick auf die Bedeutung der Sozialdemokratie in der Demokratisierung weiter Unterschichten, sie hebt die Rolle der Frauenbewegung hervor und weiß den Machtkampf des Reichstags in Szene zu setzen, der gegen Ende des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg mit Macht nach vorne drängt.
Wesentlich kontroverser dürfte da schon die demokratisierende Wirkung des Ersten Weltkriegs sein. Denn dieser wird üblicherweise eher als Vorbedingung für den Absturz in die Schrecken des Nationalsozialismus erzählt, was auch nicht falsch und für Richter kein Widerspruch ist. In einem der kontroversesten Kapitel des Buches verbindet sie Nationalsozialismus (und Faschismus und Kommunismus) direkt mit der Demokratisierung: ohne eine egalitäre, stimmberechtigte Masse wären diese Totalitarismen nicht vorstellbar gewesen. Das ist sicherlich richtig, gleichwohl bleibt dieses Kapitel für mich das Unbefriedigendste. Ohne dass ich den Finger genau darauf legen könnte, woran das genau liegt, scheint es mir zu kursorisch, zu knapp gehalten und verdient eine stärkere, ausführlichere Analyse.
Am Ende geht Richter dann wohl etwas die Puste aus. Die Kapitel zur BRD lesen sich eher wie eine Pflichtübung, die im Telegrammstil die bekannten Entwicklungen aufzählt und in die Struktur ihres Buches packt. Auch die Ergänzungen zur DDR enthalten wenig Neues. Die spannenderen Elemente finden sich eher in den ersten zwei Dritteln, in der Entstehungsgeschichte der Demokratisierung, der Entwicklung des Vier-Ebenen-Modells und der Neubewertung des Kaiserreichs.
Empfehlenswert ist das Buch gleichwohl nachdrücklich. Zum Einen ist Richter, ungewöhnlich genug für deutsche Historiker*innen, leicht und eingänglich zu lesen, in Teilen sogar spritzig, und zum Anderen ist die Bedeutung von Demokratie, Demokratisierung und der damit verbundenen Mechanismen solcherart, dass die Beschäftigung mit ihnen, selbst wenn man den pointierten Thesen nicht vollen Herzens zustimmen mag, ungeheuer wertvoll.
Wer übrigens an einer "wissenschaftlicheren" und wesentlich negativeren Rezension (einschließlich einer ausführlichen Replik Richters) interessiert ist, wird bei HSOZ-Kult fündig.
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