Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) America's long record of judicial despotism
The ruling is one more piece of evidence for a larger truth: America has a de facto judicial tyranny, and it's unlikely to change. If the current conservative justices retire strategically, as they generally have done, Democrats would have to control the presidency for something like 20 consecutive years — while holding the Senate when there are seats to be filled — to have a fair shot at taking back the court majority. Realistically, absent adding more justices to the court or other extreme measures, we'll not see a liberal majority again in our lifetimes, and Democratic presidents will find their every move stymied by the conservative bloc. Yet this isn't the first time of judicial despotism in American history. The Supreme Court has often acted exactly as it is doing today, and that history is worth reviewing now. [...] Sure enough, something like three quarters of the history of the Supreme Court is a miserable sequence of rich racists rigging up constitutional arguments for white supremacy and corporate power with arguments ranging in plausibility from the dubious to the completely preposterous. [...] When a handful of rich legal clerics have the option to dominate society, they will. History suggests America will always have a de facto judicial tyranny as long as we have the Supreme Court as we know it. (Ryan Cooper, The Week)
Wir können beim Supreme Court eine rapide Verwandlung in ein statuenhaftes Zerrbild beobachten, wie ich das für das Beispiel von MLK letzthin diskutiert habe. Bis vor historisch recht kurzer Zeit war der Supreme Court voll von politischen Ernennungen. Bis in die 1980er Jahre hinein wurden seine Mitglieder und vor allem Vorsitzenden nach ihrer Treue zur Partei ausgewählt, die Mitgliedschaft im Gremium sicherlich kein Ausweis höchstes juristischer Fähigkeiten. Inzwischen wird er behandelt, als fänden sich dort die besten Jurist*innen des Landes, als oberste Stufe eines juristischen Championship-Bracket. Aber alles was damit erreicht wird ist, möglichst radikale und vor allem möglichst junge Menschen in den Gerichtshof zu bringen. Die letzte halbwegs traditionelle Nominierung war Merrick Garland 2016. Der hatte noch überparteiliche Unterstützung (bevor er vom ersten schwarzen Präsidenten nominiert wurde, versteht sich), war in seinen späten Fünfzigern und galt als moderat. Seither werden radikale junge Leute nominiert, und Bidens neue Nominierung für Breyers alte Stelle wird nicht anders sein.
2) We still need to figure out how to make voters angry at Republicans
So which is it? Are Democrats doomed if they don't pass great legislation? Or does it not really matter because voters mostly vote against a party, not for it? I have never run a campaign, but I'll take door number two. It's hard for me to think of any good examples where legislation played a key role in a national election. Reagan's tax cuts, maybe, though even that's iffy.² Or possibly Bush's Medicare prescription bill among elderly voters, though there's not much evidence for that. I have to remind myself all the time that no matter how oblivious we think most voters are, they are even more oblivious than we think. They simply don't pay attention to politics and haven't got the slightest idea of what legislation is pending or whether Joe Manchin is being a dick. Hell, even the stuff they think they know is usually wrong. So from an electoral point of view, nobody should be worrying about the failure of voting rights or BBB. It's far more important to make swing voters afraid of Republicans. You'd think that would be pretty easy these days, but so far Democrats haven't found the magic key. A strong economy will keep us in the game, but we still need a killer app against the party of the Big Lie. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Die Unfähigkeit der politischen Linken zum Wahlkampf ist dieseits wie jenseits des Atlantiks beachtlich. Vor allem die fehlende Emotionalisierung, die Drum hier hervorhebt, ist auffällig. Ich teile auch Drums Unklarheit darüber, was es sein könnte, das man der Gegenseite wirkungsvoll um den Hals hängen könnte, aber solange eine solche Geschichte nicht existiert, wird man es immer schwer haben. Im Wahlkampf 2021 hat die CDU sich dankenswerterweise selbst darum gekümmert, eine solche Geschichte zu produzieren und durch eine Anti-CDU-Wahl eine Ampel-Mehrheit zu produzieren, aber den Gefallen wird sie den Progressiven sicher nicht nochmal tun. Auch Biden kam jetzt nicht eben ins Amt, weil die Wählenden die Democrats so geil fänden, die Kongresswahlergebnisse sprechen da eine eindeutige Sprache. Es war eine Anti-Trump-Wahl, und es gibt keine Garantie, dass das nochmal funktioniert.
3) Ohne Poller geht gar nichts
Schön ist anders, stimmt schon. Dass immer mehr Poller in Berlin aufgestellt werden, ist nicht durchweg ästhetisch, zum Beispiel am Horstweg in Charlottenburg (mehr hier in unserem Bezirks-Newsletter). Aber eins ist auch klar: Wo kein Poller steht, da steht Blech. Oder es rollt. Autofahrende scheinen in Berlin zu meinen, dass ihnen der öffentliche Raum gehört: Plätze, Rad- und Gehwege, Straßenecken, Überwege, Feuerwehrzufahrten, sogar Baumscheiben und Grünflächen werden befahren und beparkt. [...] Diese raumgreifende Aufdringlichkeit ist Folge des jahrzehntelangen Laisser-faire, einer „Berliner Linie“, die für Autoverkehr jedes Verständnis aufbringt und alles andere aus den Augen verliert. So lange Polizei und Politik nicht umsteuern, gibt’s Poller. (Markus Hesselmann, Tagesspiegel)
Ich betone das immer wieder: die Polizei und das ganze darunterliegende Rechts- und Verwaltungssystem habet einen starken Pro-Auto-Bias. Verstöße durch Autos gegen die StVO sind ziemlich milde bestraft und werden kaum kontrolliert. Dazu kommt die ganze mangelhafte Infrastruktur für Fahrradfahrende, ob in Stadt oder auf dem Land. Das Umdenken wird hier nicht mit netten Apellen kommen, sondern nur, indem man die Autofahrenden zwingt, sich an bestehende Regeln zu halten. Und da braucht es dann halt eben auch so was wie Poller. Von verkehrsberuhigten Zonen, Fahrbahneinschränkungen und besserer Infrastruktur für Radfahrende brauchen wir gar nicht anfangen. Deutschland ist da anderen europäischen Ländern ziemlich hinterher.
4) Prüfungskultur an Hochschulen
Ausgangslage ist folgende: Traditionelle Prüfungen an Schulen und insbesondere Gymnasien werden oft damit legitimiert, dass sie eine zentrale Vorbereitung für ein Studium darstellen. Wer erfolgreich studieren will, muss traditionelle Prüfungen absolvieren können – und damit meine ich: alle Mitglieder einer Lerngruppe werden eingeschlossen und müssen isoliert und mit sehr wenigen zugelassenen Hilfsmitteln Aufgaben lösen, die nach einer vorgegebenen Musterlösung bepunktet werden. Diese Prüfungssituation an Hochschulen wird als gegeben und unveränderlich angeschaut, obwohl sie hochproblematisch, eigentlich skandalös ist. [...] Diese entkoppeln die Lernkultur in Seminaren, wo kooperativ und poly-perspektivisch gelernt wird, von der Prüfungskultur – was dazu führt, dass die Lernkultur leider und Studierende sich bei Gruppenarbeiten und Präsentationen ausklinken, weil sie wissen, dass solche Methoden für Prüfungssessionen wertlos sind. Prüfungen werden ohne jedes Feedback und oft Wochen nach dem Prüfungstermin zurückgegeben, es wird nicht einmal versucht, die Prüfungen in den Lernprozess zu integrieren. Mehr noch: Wie César Hidalgo kürzlich dargelegt hat, hindern Prüfungen Studierende daran, wesentliche Kompetenzen zu erwerben, sie machen sie abhängig von Vorgaben und Dozierenden und verhindern, dass sie Verantwortung für ihre Entwicklung und für Projekte übernehmen können. Hochschulen müssen ihre Prüfungskultur so schnell wie möglich radikal überdenken. Sie ist überholt und schädlich. Studierende brauchen mehr Feedback und weniger Abhängigkeit. (Philippe Wampfler, Schule Social Media)
Der Zusammenhang zwischen der Prüfungskultur an Hochschulen und der an Schulen, den Wampfler hier aufmacht, ist richtig und konsequent. Ich würde das noch einen Schritt weiterführen: die Fachkultur an den Universitäten beeinflusst wiederum die an den Schulen, weil dort ja die Lehrkräfte ausgebildet werden. Wenn etwa, ganz zufälliges Beispiel, an den Universitäten in Mathematik eine Fachkultur herrscht, die stets auf die mathematische Schulbildung herabsieht und Lehramtsstudierende eher als Unterklasse betrachtet, wenn es im Fach normal ist, mit regelmäßigen, brutalen Prüfungen auszusieben, dann wird sich das auch an die Schulen fortpflanzen. Das sind ja kommunizierende Röhren. Und das ganze geht dann wiederum in alle anderen Bereiche über, weil die meisten Leute aus diesem System ja rausgehen und außerhalb des Bildungssystems Anstellung finden. Auf die Art reproduzieren sich Vorurteile permanent. Und am Ende wundern sich alle, warum die PISA-Werte so schlecht sind.
5) Why Biden’s Losing Fight for Voting Rights Was Still the Best Plan
Democrats are planning to mobilize their voters this way again in November. But when they mobilize their voters against voter suppression in the fall, the voters are going to want to know what Democrats did to block those laws. They can’t very well organize against voter-suppression laws if they haven’t tried to fight those laws in the first place. Devoting a week or so of national debate to Democratic efforts to pass voting-rights bills seems like a necessary part of a countermobilization strategy. [...] Now, maybe the Democrats’ plan to stage a big fight over voting rights will backfire. But the grim truth is that Democrats don’t have a clear strategic win. They are fighting against a party that has taken on an increasingly authoritarian cast, and even the “moderate” Republicans have taken a position — that the federal government has no right to erect voting-rights protections — that would have been considered extreme a couple decades ago. Alternative strategies, like backup quarterbacks, always look more attractive when the first option is losing. But sometimes there isn’t a better strategy than fighting like hell and hoping for the best. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Ich denke, Chait beschreibt hier effektiv eine grundsätzlich korrekte Dynamik, über die ich schon in anderem Kontext geschrieben habe: die Verschiebung des Overton-Fensters. Manchmal muss man politische Kämpfe auch deswegen ausfechten, um den Bereich des Vorstellbaren zu verschieben, so dass etwas machbar wird. Ja, die Democrats sind mit ihren voting rights bills gescheitert, aber es hing nur noch an zwei Senator*innen, Manchin und Siema, die bei vielen Punkten ein Hindernis sind. Der ganze Rest der Partei steht geschlossen dahinter, und das war vor kurzer Zeit bei weitem nicht so. Dadurch ist das Thema zudem in der öffentlichen Auseinandersetzung endgültig ein parteiisches: Republicans dagegen, Democrats dafür. Das garantiert natürlich keine Mehrheiten, aber es ermöglicht die Umsetzung, weil es der Frage, ob man es überhaupt machen soll, enthoben ist. Jetzt geht es "nur" noch um die Machtfrage.
6) The futility of Biden's 1st year // One year into his presidency, Biden’s accomplishments have been short-changed
It was supposed to be "an FDR-sized presidency." In the spring and summer of 2020, after Joe Biden had rolled up the Democratic nomination and polls were predicting a decisive, double-digit victory over incumbent President Donald Trump plus big gains in Congress, the possibility of a real governing majority for Democrats felt tantalizingly real. Instead, the election was closer than anticipated, leaving the new president with almost unworkably narrow majorities in the House and especially the Senate. In the year since his hopeful inauguration, President Biden has been frustrated at almost every turn. [...] Progressive hopes for a truly transformative presidential term are dead, but there's still time enough before the midterms to ensure the Democratic trifecta doesn't die, too. (David Faris, Washington Monthly)
For four years, the phrase “infrastructure week” was a punchline. A metaphor for the abysmal failure that was supposed to be Donald Trump’s signature legislative achievement. It took Joe Biden less than a year to make good on a transformational piece of legislation that will reshape America’s cities, towns and communities. If Biden achieved little else for the rest of his term, the enactment of the bipartisan Infrastructure Investment and Jobs Act would be enough to cement his record for tangibly improving the lives of Americans. And yet, I can’t help but think that Biden has been short-changed in how his first year has been framed by the mainstream media, which has largely been guided by the playbook of politics-as-usual. (Kurt Bardella, LA Times)
Mich nervt diese Debatte ungeheuer, weil sie so dämlich ist. Es war nicht "supposed to be an FDR sized presidency". Wie die LA Times oder auch dieser Artikel im Atlantic hinreichend deutlich macht, ist das eine völlige Überreaktion auf die unerwartete Mehrheit im Senat, die die Democrats quasi als verspätetes Weihnachtsgeschenk bekamen. Es gibt keine politische Mehrheit für einen New Deal. FDR segelte mit riesigen Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses ins Amt, die er noch ausbaute. Dasselbe gilt übrigens für Lyndon Johnson, den anderen innenpolitischen Säulenheiligen umfassender Reformen. Mit überwältigenden Mehrheiten kann ich halt auch mehr erreichen als mit einer, die auf der Vizepräsidentin als Gleichstandsbrecherin basiert und in der Manchin und Siema die entscheidenden Stimmen sind. Dieses journalistische Genre, erst völlig überzogene Erwartungen aufzubauen und dann genau das Nichteintreffen dieser Erwartungen zu bejammern - erst hoch- und dann runterschreiben - ist so eine Katastrophe. Das kann man gerne den Aktivist*innen der jeweiligen Seite überlassen, die das wahrlich in erschöpfendem Maße betreiben.
Und dann sagt in einer Einstellung eine Frau, die auf einer Demonstration mitmarschiert, etwas ganz Zentrales: "Das hat mit Corona hier schon lange nichts mehr zu tun, schon lange nicht mehr." Die "Zeit der Aufklärung" sei das Jahr 2020 gewesen. 2021 sei des "Jahr des Widerstands" gewesen. "Und dieses Jahr wird’s kippen", sagt sie. Die Berichterstattung wird sich möglicherweise schon bald vom Narrativ der Corona-Demonstrationen verabschieden müssen. Der Widerstand gegen die Regeln ist in vielen Fällen das Tor, das ohne große Barrieren den Eintritt in eine Protestbewegung ebnet, in der es vielen längst um etwas Größeres geht als die Impf- oder Maskenpflicht, nämlich um den Kampf gegen ein demokratisches System, das Entscheidungen möglich macht, die den eigenen Überzeugungen widersprechen. Das Verständnis von Demokratie ähnelt hier dem von der DDR-Regierung gepflegten, die ihre Diktatur ja fälschlicherweise auch Demokratie nannte. Immer öfter kommt es zu Gewalt. Und das verändere die Berichterstattung, hat Ole Kracht von Katapult MV beobachtet. Er sagt: "Für mich entsteht da ein Machtvakuum, auf der Straße, bei Veranstaltungen." Er wisse, dass Texte nicht mehr so geschrieben werden, wie sie geschrieben werden müssten, weil die Menschen, die schreiben, in Kleinstädten leben und sich vor den Folgen fürchten. "Wenn da jemand weiß, dass du Redakteur bist oder Journalist, und deinen Text liest, ist es nicht schwer, bei dir zu Hause mal vorbeizuschauen." Amelia Wischnewski, die Autorin des Beitrags, berichtet, sie stoße immer öfter auf freie Journalistinnen oder Journalisten, die ihre Berichterstattung einstellen. (Ralf Heimann, MDR; Hervorhebungen im Original)
Dass es bei dieser Kritik nicht (nur) um Corona und die Maßnahmen geht, sollte eigentlich unstrittig sein. Das Meme vom "Widerstand" drückt vielmehr einen allgemeinen Vertrauensverlust aus, sowohl in den Staat als auch in "die Medien", wer auch immer damit dann konkret gemeint sein sollte (die meisten haben dann ja doch irgendein Lieblingsmedium, dem sie vertrauen; ausschließlich in verschwörungstheoretischen Kreisen und Telegram unterwegs ist ja nur eine kleine Minderheit). Was man dagegen tun kann, ist mir allerdings auch nicht wirklich klar.
Völlig klar ist dagegen, was man gegen die zunehmende Gefährlichkeit der Bewegung, ihre Radikalisierung und das Abgleiten in den Terror machen sollte. Das ist ein polizeiliches Problem. Man muss ja echt nicht warten, bis das Ding von Randale und einzelnen Akten des "Widerstands" zu echtem Terrorismus gegen die echten und scheinbarenden Vertretenden des "Schweinesystems" geht; da hat man in der Geschichte der RAF genauso Anhaltspunkte wie bei der Entwicklung von NSU und Co.
8) Historiker Wagner kritisiert Art der Aufarbeitung der NS-Zeit
Eine offensichtliche Abwehrreaktion ist ja die Verdrängung. Fast 29 Prozent der Deutschen sind nach einer Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld aus dem Jahr 2019 der Meinung, ihre Vorfahren seien im Widerstand gewesen und hätten Opfern geholfen. Tatsächlich lag dieser Anteil bei unter einem Prozent. Was ist gegen derartige Verdrängung schmerzhafter Tatsachen zu tun?
Jens-Christian Wagner: Die heutige Erinnerungskultur hat sich viel zu lange darauf beschränkt zu trauern. Auch wenn es richtig ist, um die Opfer zu trauern, fehlt das Nachdenken darüber, warum diese Menschen überhaupt zu Opfern geworden sind. Das wiederum heißt, nachzufragen, warum viele mitgemacht haben, und zwar nur in den wenigsten Fällen auf Befehl. Das Regime hat diesen Menschen nämlich Integrationsangebote gemacht, die bereitwillig angenommen wurden. Das emotionale Angebot, dazuzugehören zum Beispiel, dieses Wechselspiel zwischen „Die“ und „Wir“. Oder Kriminalisierungsdiskurse: Man erzählte, dass KZ-Häftlinge gefährliche Verbrecher seien. Oder Verheißungen der Ungleichheit: Den Deutschen wurde erzählt, es gehe ihnen besser, wenn es anderen, etwa den Juden oder den Zwangsarbeitern, schlechter geht. Das hatte subjektive Aufstiegserfahrungen zur Folge. Die Arbeiter, die vorher in der Hierarchie ganz unten standen, hatten in den Zwangsarbeitern plötzlich jemanden, der noch weiter unten stand. Rassismus, Antisemitismus und autoritäres Denken spielte bei all dem auch eine Rolle.
Mitunter wird die Einrichtung von Gedenkorten sogar bekämpft. Auf dem Bückeberg bei Hameln, wo einst die Reichserntedankfeste stattfanden, ist ein „Dokumentations- und Lernort“ entstanden, der vor Ort auf massiven Widerstand traf. Woran liegt diese Aversion?
Jens-Christian Wagner: Bei der Einrichtung dieses Orts auf dem Bückeberg war ich als Leiter der niedersächsischen Gedenkstättenstiftung beteiligt, und habe in der ganzen Zeit meiner Arbeit für Gedenkstätten noch nie so eine aggressive Anti-Stimmung erlebt. Ich glaube, wenn es am Bückeberg ein KZ gegeben hätte und man hätte dort eine Gedenkstätte für das KZ eingerichtet, hätte es weniger Protest gegeben. Und zwar genau aus dem Grund, dass da die Täterschaft externalisiert werden kann auf die böse SS, die angeblich mit den normalen Menschen nichts zu tun hatte. Das meine ich mit „Trauern ohne Nachdenken“ und ohne die Frage zu stellen, warum es überhaupt zu diesen Verbrechen kam. Denn wenn man sich diese Frage stellt, muss man sich mit der deutschen Gesellschaft auseinandersetzen. Und genau das wird am Bückeberg getan, wo die Massen ihrem Führer freudetaumelnd zugejubelt haben. (Nils Sandrisser, Migazin)
Ich teile sie Sorgen Wagners völlig. Zu guten Teilen dafür mitverantwortlich ist diese auch von ihm erwähnte scheiß Widerstandsgeschichte, über die ich ja auch geschrieben habe. Die Deutschen geben sich permanent der kollektiven Fantasie hin, dass man selbst im Widerstand gewesen wäre, und verklären die Nazis zu Comic-Bösewichten. Das ist eine Falle, in die etwa auch das neueste ZDF-Kammerspiel "Die Wannseekonferenz" fällt: Anstatt gerade die "Banalität des Bösen" zu betonen, um das ausgelutschte Arendt-Zitat mal wieder hervorzukramen, finden wir overacting und cartoonhafte Nazi-Bösewichte, mit denen zu identifizieren sich praktisch ausgeschlossen ist. Man wendet sich in wohligem Grusel ab, sicher im Bewusstsein, dass man selbst das niemals könnte und dass es sich auch nicht wiederholen kann. Aber genau das ist der Irrtum dahinter.
9) What can Joe Biden do to help the Black community more?
General safety net programs are aimed not at racial minorities, but at low-income workers. However, the reality is that they help three times more Black families than white families. That's a real difference. I have long supported class-based rather than race-based affirmative action. This is not because class-based affirmative action is just as good. It isn't. But it's close, and it has enormous benefits. First, it's entirely legal. Second, it has much greater public support. And third, it's politically superior because it brings together lots of constituencies who can help get things passed. None of this means the end of programs aimed at specific nonwhite groups. Native Americans will continue to have specific issues based on treaty rights. Hispanic groups will watch immigration policies carefully. The Black community will continue to be disproportionately affected by voter suppression laws. And then there's the biggest racial issue of all: education. As regular readers know, I consider this to be the most potent form of racial discrimination in America today. It's primarily a local issue, which means Joe Biden has a limited scope to deal with it, but there's nothing else that comes close to the damage it does. Until we decide to educate Black kids as well as we educate white kids, we will never make more than halting and modest improvements in racial oppression. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Ich gebe Drum Recht, was die politische Seite dieser Maßnahmen angeht. Es ist wesentlich leichter, allgemeine Maßnahmen für ärmere Menschen aufzulegen, als spezifisch Programme für die schwarze Minderheit zu erschaffen. Das ist generell etwas, das die politische Linke tun sollte: lieber allgemeine Programme, die auch oder sogar vordringlich der erwünschten diskriminierten Minderheit helfen, als zu zielgesteuerte Partikularpolitik.
Ich würde allerdings hinzufügen, dass Maßnahmen für arme Menschen politisch ebenfalls noch eine große Herausforderung sind. Arme Menschen wählen im Schnitt wesentlich seltener, und die Bereitschaft der Mittelschichten, sozialstaatliche Maßnahmen für diejenigen, die sie eigentlich bräuchten, zu finanzieren, ist eher gering, weswegen ja auch so viel Sozialstaat im Endeffekt ein Programm von der Mittelschicht für die Mittelschicht ist und so wenig dazu leistet, gesellschaftliche Ungleichheit zu reduzieren und Armut zu beseitigen.
10) The fantasy of a Trump-slaying Republican
The only significant thing that has changed since Trump left office is that he's succeeded in convincing an overwhelming majority of his party's voters to embrace the Big Lie about the 2020 election. (Recent polls show something like 71 percent of Republicans think the 2020 election was "definitely not" or "probably not" legitimate.) This development, though civically appalling and extremely dangerous, will actually help Trump immeasurably in the 2024 primaries. To see why, let's imagine how the early stages of the contest would unfold. Trump, DeSantis, Pence, and the others are standing together on a debate stage in the fall of 2023. The moderator opens by addressing DeSantis: Donald Trump says the 2020 election was stolen from him and that Joe Biden is an illegitimate president. Do you agree? What exactly is DeSantis supposed to say in response? One option would be to answer truthfully — which is to say, in the negative: No, the election wasn't stolen, and Biden won fair and square. But this would automatically place DeSantis on the opposite side of that 71 percent of Republicans and open him up to an onslaught of abuse from Trump himself. DeSantis would be labeled a cuck and a weakling who refuses to fight and would let the Democrats get away with murder from Day One of a DeSantis administration. If, instead, DeSantis offered a tepid endorsement of the election fraud conspiracy, voters will be left to wonder why they should favor that second-best alternative over the man who was personally stabbed in the back and craves vengeance for himself and his party. (Ryan Cooper, The Week)
Die Aussichten sind echt extrem düster, was 2022 und 2024 angeht. Die Republicans marschieren immer weiter auf dem Marsch zur autokratischen Partei, die auf Lügen basiert. Dass diese Lügen überhaupt solche Beharrungskraft haben, liegt an der abgeschlossenen Blase des US-Mediensystems. Dank FOX News, OAN und Co werden diese Lügen als Realität in die Wohnzimmer von fast 40% der Amerikaner*innen gepumpt. Ich bin immer mehr der Überzeugung, dass dieses Fehlen eines solchen Mediensystems in Deutschland das Einzige ist, dass uns von demselben Weg abhält. Was wiederum zu der Debatte von letzter Woche zurückführt: egal, wie unzureichend man unser System findet, gegen dieses Geschmeiß muss man es verteidigen, weil das die Konsequenz ist, wenn die ihren Willen kriegen.
Ich habe diese Entspannungspolitik hier kurz skizziert, weil sie in letzter Zeit von SPD-Politikern immer wieder als Begründung für die politische Zurückhaltung vorgebracht wird, wenn es um das aktuelle russische Drohszenario gegen die Ukraine geht. Doch diese Entspannungspolitik in den 1970er-Jahren hat nichts mit der Gegenwart zu tun. Gar nichts. Vor fünfzig Jahren ging es darum, in einer Zeit hochgerüsteter Militärbündnisse eine direkte Konfrontation mitten in Europa durch Abrüstung und diplomatische Gespräche zu verhindern und den Menschen im Osten wenigstens die Hoffnung auf Erleichterungen hinter dem „Eisernen Vorhang“ zu geben. Der Begriff „Entspannungspolitik“ wird zur Zeit als Blendwerk eingesetzt, um die distanzierte Haltung Deutschlands als Fortsetzung einer Tradition erfolgreicher und ehrbarer Politik sozialdemokratischer Kanzler wie Willy Brandt und Helmut Schmidt zu erklären. Wirklich: Nichts könnte irrealer sein. Und wenn es darauf angekommen wäre, hätte die Entspannungspolitik damals ein zweites „Prag“, also einen Einmarsch von Staaten des Warschauer Pakts in einen westwärts strebenden Staat Osteuropas, nicht verhindern können. Wieso die SPD also für ein Mittel wirbt, dass in der jetzigen Situation untauglich ist, wird ihr Geheimnis bleiben. [...] Womit wir wieder bei den schon erwähnten Großmeistern deutscher Irrtümer sind: der Linken. Nach ihrem Verständnis befindet sich Russland in einem Verteidigungskampf gegen die NATO. Wie diese Behauptung mit den Fakten einer geschwächten NATO zusammenzubringen sind, bleibt auf ewig schleierhaft. Aber die deutschen Linken bleiben trotzdem die treuesten Vasallen Russlands, als hingen in ihren Büros noch immer die Kalender aus dem Jahre 1983, das Magazin Sowjetunion heute läge noch aus und der Verlag Pahl-Rugenstein existierte noch. Dabei ist Russland nun alles andere als die Hoffnung der internationalen Arbeiterklasse. Aber Identitäten sind halt sehr starr. Man legt sie sich ja zu, um sich nicht verändern zu müssen. Und damit kennt sich die Linke sehr gut aus. Vor allem ihr gemeinsamer Antiamerikanismus ist unverbrüchlich, dicht gefolgt von der Abneigung gegen den Westen, seine liberalen Demokratien und den Kapitalismus. (Bernd Rheinberg, Salonkolumnisten)
Ich habe in meinem Artikel zu den Ursprüngen des Anti-Amerikanismus bereits vor mittlerweile zehn Jahren darauf hingewiesen, dass diese Strömung in Deutschland sehr stark verankert ist - übrigens rechts wie links. Im Großteil der bundesrepublikanischen Geschichte war er aber vor allem links relevant, weil die Westbindung als Staatsräson die Rechte disziplinierte; wir sehen aber an der AfD, dass mit dem Wegfall dieser Staatsräson der rechte Anti-Amerikanismus auch fröhliche Urständ feiert. War nie wirklich weg, hat sich nur versteckt.
Aber zurück zu den Linken, die die viel schlimmeren Täter*innen auf diesem Feld sind. Für die Begründung empfehle ich die Lektüre meines alten Artikels, ich will an der Stelle nur kurz Rheinberg unterstützen, der auf die "Entspannungs-" beziehungsweise "Ostpolitik" als Leitstern der SPD verweist (die wiederum aktuell das größte außenpolitische Problem darstellt; die LINKE ist ja eh völlig hoffnungslos). Die Nostalgie der SPD für die Ostpolitik entspringt einer völligen Fehlanalyse dessen, aus was diese bestand und wie sie funktionierte (das erfordert glaube ich aber einen eigenen Artikel), und diese Fehlanalyse wird dann auf das heutige Russland angewendet, mit den bekannten Folgen. Echt ein Trauerspiel.
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