Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
Man kann also sagen, dass Russland – und der Name des Landes taucht in der Namensgebung der Moskauer Herrscher in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf – selbst von Anfang an ein Imperium darstellte, das nie ein Nationalstaat war. Später, von Peter dem Grossen bis Alexander III., schuf dieses Imperium ein weiteres Imperium, das Imperium von Russland, in dem das vorherige zu einer Art Metropole wurde. Während also im Westen die Imperien expandierten, schrumpften und dann wieder expandierten, bevor sie Mitte des 20. Jahrhunderts zerfielen, entwickelte sich in Russland eine Matrjoschka-gleiche imperiale Struktur. Während die Geschichte im Westen zu einer klaren Unterscheidung zwischen der Metropole und den Kolonien führte, löste die russische Geschichte die Grenzen zwischen beidem vollständig auf. [...] Andererseits haben die Russen aufgrund der Überschneidung der imperialen Kreise und der Abwesenheit des Nationalstaates kaum eine Vorstellung davon, was Russland eigentlich ist. Sie unterscheiden nicht zwischen den zentralrussischen Regionen, aus denen der Staat hervorgegangen ist, den abgelegenen Regionen Sibiriens, in denen (wie in Jakutien oder in Tuwa) die indigenen Völker die Mehrheit der Bevölkerung stellen, oder Tschetschenien und Inguschetien, wo die ethnischen Russen weniger als ein Prozent der Einwohner ausmachen. Für sie sieht jede Abspaltung wie eine endgültige Dekonstruktion des Imperiums aus, und deshalb haben die Kriege für den Verbleib der absolut nutzlosen Republik Tschetschenien bei Russland Putin in die Position des nationalen Führers gehievt. Der derzeitige Aufschwung des russischen Imperialismus (und nicht des «Nationalismus», wie viele glauben) erscheint von daher nicht nur natürlich, sondern durchaus vorhersehbar.
, Neue Züricher Zeitung)
Gwendolyn Sasse (keine mir bekannte Verwandtschaft) analysiert dasselbe Thema in der ZEIT in Bezug auf den Ukraine-Konflikt und weist zu Recht auf das Putin-Essay von 2021 hin, in dem dieser seine Sicht der Geschichte ziemlich explizit aufschreibt. Für die allermeisten Deutschen erfüllt dieses Putin-Essay ungefähr die Rolle, die "Mein Kampf" für internationale Beobachter in den Dreißiger Jahren darstellte. Alles war da, aufgeschrieben vom Mann selbst, aber es wurde beharrlich ignoriert. Putin macht kein Geheimnis aus seinen Ansichten und seiner Position. Warum ständig so getan wird, als sei das nicht der Fall, erschließt sich mir genauso wenig wie das eigentümliche deutsche Beharren auf dem Zauberstab der Verhandlungen.
The Wisconsin Safe Voting Plan lists CTCL’s four major strategic objectives.
- First, to “encourage and Increase Absentee Voting (By Mail and Early, In-Person),” mainly through providing “assistance” in absentee ballot completion and submission, and the installation of ballot drop boxes
- Second, to “dramatically expand strategic voter education & outreach efforts, particularly to historically disenfranchised residents.”
- Third, to recruit new election workers, mainly from among paid young activists who would replace the usual, older election day volunteers.
- A distant fourth, both in emphasis and level of funding, was the funding of Covid-19 related safety measures
CTCL funded election offices in Wisconsin seemed particularly intent on courting a demographic favored by the activists at CTCL—a loosely defined “New American Majority” coalition—to replace the working-class voters who had abandoned the party in droves in 2016, and who formerly made up a significant part of the old Democratic “Blue Wall” in the industrial upper Midwest. [...] The Wisconsin Safe Voting Plan outlined the prodigious efforts that the Wisconsin Five were willing to make in order to bend the election system from within toward these untapped tranches of low-propensity potential Democratic voters, and thereby increase Democratic votes in their cities, and in the statewide totals. [...]
Concern was expressed about “voters who, understandably, were completely confused about the timeline and rules for voting in the midst of a pandemic and required considerable public outreach and individual hand-holding to ensure their right to vote.”
Concerns were also expressed that many targeted Democratic voters would have no idea how to cast absentee ballots. [...]
Racine wished to create a small corps of “Voter Ambassadors.” Racine officials said they would use their grants to recruit, train and employ paid Voter Ambassadors who would set up at the City’s community centers to assist voters with all aspects of absentee ballot requests, including photo ID compliance.
Green Bay allocated funds to install secure drop boxes [...]
Green Bay sought to motivate potential voters through a CTCL-funded multi-prong strategy [...] (William Doyle, The American Conservative)
Das obige sind nur einige Ausschnitte aus diesem sehr langen Investigativartikel. Das faszinierende ist, wie die radikalisierte amerikanische Rechte hier einen großen Scoop angeblicher Wahlfälschung feiert und dabei permanent nur Beleg auflistet, die jedem demokratisch eingestellten Menschen als lobenswert erscheinen sollten. Mehr Menschen, die wählen dürfen, wird ermöglicht, zu wählen? Was ein Skandal! Die Democrats helfen Menschen dabei, die (im Übrigen von den Republicans bewusst) arkan gestalteten Wahlgesetze zu navigieren? Betrug! Sie bringen Minderheiten zum Wählen, die normalerweise nicht wählen? Unvorstellbar! Der Tonfall eines investigativen Scoops, die Vorstellung, hier eine schreckliche Verschwörung aufzudecken, offenbart eigentlich nur eines: die antidemokratische Grundstimmung, die die amerikanische Rechte mittlerweile ergriffen hat.
Wofür steht dieser Liberalismus, der heute in aller Munde ist? Als erstes muss man wohl der Vorstellung widersprechen, der Liberalismus sei als Theorie der freien Märkten entstanden. Die wirtschaftspolitische Orientierung des Liberalismus und seine Staatsphobie ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Ebenso falsch ist außerdem auch die Annahme, der Liberalismus habe immer schon für die Rechtsgleichheit der Menschen gekämpft. Wie das Bürgertum im Allgemeinen hatten auch die Vordenker des Liberalismus erstaunlich wenige Probleme mit Kolonialismus und Sklaverei, und an die Rechte von Frauen und Arbeitern wurde lange Zeit kaum ein Gedanke verschwendet. [...] Marx teilte diese Kritik, betonte aber, dass die Herrschaftsverhältnisse nicht von Religion herrühren, sondern von der ungleichen Verteilung des Eigentums. Und er zeigte auf, dass das Bürgertum die Unfreiheit der Sklaven und Arbeiter dabei stets als gegeben oder »privat« hinnahm. Seine Kritik richtete sich also nie gegen die liberalen Freiheits-, Gleichheits- und Individualismusversprechen, sondern wies darauf hin, dass diese Versprechen in einer bürgerlichen Gesellschaft unerfüllt bleiben. [...] Liberalismuskritik von links unterscheidet sich deshalb radikal vom rechten Antiliberalismus. Die Linke will die liberalen Freiheitsversprechen nicht zurückdrängen, sondern wirft dem Liberalismus vor, in der Sache der Emanzipation auf halber Strecke halt zu machen. [...] Die Finanzkrise ab 2007 hat das erneut unter Beweis gestellt. Neoliberale lieben den Staat - wenn er Konzerne rettet, Gemeineigentum privatisiert und Proteste niederhält. Auch hier muss die Antwort also differenzierter ausfallen: Linke wollen keinen »starken Staat«, sondern den Ausbau sozialer und demokratischer, individueller und kollektiver Rechte. (Raul Zelik, Neues Deutschland)
Es ist faszinierend, wie ein Essay in einigen Punkten so treffend und in einigen so völlig ab vom Schuss liegen kann. Die ideologischen Prämissen marxistischer Gedankenlehre stehen hier der Analyse ziemlich sperrig im Weg. Denn richtig ist natürlich, dass der Liberalismus ohne einen Staat, sogar ohne einen starken Staat, überhaupt nicht denkbar ist. Daran haben ja auch Liberale nie einen Zweifel gelassen. Die Einhegung privater Gewalt etwa, die Durchsetzung von Verträgen, die Domestizierung der Masse zum demokratischen Volk, all das, was wir Rechtsstaat und Parlamentarismus nennen, ist ohne starken Staat überhaupt nicht vorstellbar. Aber diese nicht eben bahnbrechende Erkenntnis ist leider nicht von cleveren anderen Erkenntnissen begleitet
Denn die Reduzierung des Liberalismus auf "Emanzipation" (von Arbeitern, Frauen, Minderheiten, etc.) ist eine ziemlich plumpe Umdeutung, die es Zelik erlaubt, Marx und die Linke als bessere Liberale zu inszenieren. Aber das ist Quatsch. Liberalismus, Sozialismus und Faschismus (wenn die Vereinfachung auf diese drei Pole erlaubt ist) sind eben Pole eines Dreiecks, nicht einer Geraden. Ja, linke und rechte Liberalismuskritik kommen von unterschiedlichen Richtungen her, aber es ist völliger Unfug, Marx als liberalen Denker inszenieren zu wollen, dem es um Emanzipation ging. Die "Diktatur des Proletariats" ist nicht eben etwas, das der Emanzipation Tür und Tor öffnet, und die Gleichheit, die Marx vorschwebte, ist jedem Liberalen ein Gräuel.
Was Zelik vollkommen ausblendet ist eine Dimension, die im liberalen Gedankengebäude essenziell ist und von Anfang an war: die Rolle des Eigentums. Dieses garantiert der Liberalismus, es ist sein Kern. Die Freiheit, über mein Eigentum zu verfügen, ist im Marxismus schlicht nicht gegeben (genauso wenig wie im Faschismus, by the by). Da Zelik diese Dimension ausblendet, kann er auch das (korrekt festgestellte) Paradox nicht auflösen, nach dem der Liberalismus sich so lange um die Freiheit von Sklav*innen, Frauen, Arbeiter*innen, Minderheiten etc. nicht scherte.
Denn der Liberalismus betrachtet ja auch diese Freiheiten letztlich als unveräußerliches Eigentum. Man muss nur die amerikanische Unabhängigkeitserklärung lesen, oder die Federalist Papers, oder die liberalen Vordenker jener Zeit, um das sofort zu sehen. und diese Rechte besaßen eben nicht alle. Sie hatten einen direkten Zusammenhang mit der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, und den hatten Frauen, Kinder, Sklav*innen, Arbeiter*innen, Landwirt*innen etc. schlicht nicht. Die große Leistung des Liberalismus war, diese Verfügungsgewalt Schritt für Schritt über das 19. und frühe 20. Jahrhundert auf alle diese Gruppen auszudehnen und diese Rechte universal zu machen, eine Entwicklung, die ihren triumphalen Abschluss in der Menschenrechtscharta der UNO findet. Der Marxismus kann mit diesen universalen Rechten nichts anfangen, weil sie Individualrechte sind. Zelik ignoriert all das, und deswegen versteht er auch den Liberalismus nicht.
4) How close is America to a new civil war?
Canadian novelist and commentator Stephen Marche is among the most confident of the pessimists. In an excerpt from his new book published in The Guardian, Marche points out that hardly anyone foresaw the outbreak of the original American Civil War, even as the conflagration was breaking out at a military installation on the South Carolina coast. It's the same today, Marche claims, with the right becoming militarized in response to the widespread delegitimation of American political institutions. Those "structures of power" no longer adequately represent the views of the majority, and Republicans are ready to substitute "the politics of the gun." Writing in New York magazine, author Jonathan Chait adds an additional layer to the story of institutional rot. Just as the Republican Party at first opposed former President Donald Trump's candidacy and nomination in 2016 but eventually rallied around his presidency, so its leading officials initially responded to the violence on Capitol Hill a year ago with outrage but eventually retreated to excusing or even offering a backhanded defense of those who stormed the Congress and the man who incited them to do it. Republican officeholders might not explicitly endorse overturning democratic elections, but they clearly don't think the attempt is anything to get too worked up about — at least, not if the head of their own party is the one behind it. That could well lead to a replay of the events of Jan. 6 during a future election, and on a vaster scale. But, as The Week's own Noah Millman argues in The New York Times, there's no guarantee that Republicans will be the party to initiate extralegal actions. Believing the threat comes solely from the right leads many Democrats to put their faith in a legislative solution to the danger of civil unrest — usually through the reform of election laws. But in truth there is no such legislative solution, Millman claims, because "the deepest problem threatening American democracy" is "the profound lack of trust in the legitimacy of the opposition." [...] We saw Democrats reject this legitimacy in 2000 and to some extent again in 2016, while the GOP went even further in 2020. The suspicion is mutual, and, as long as it stays that way, we run the risk of a buckling system and the outbreak of violence in response. (Damon Linker, The Week)
Die Obsession der Amerikaner*innen mit der Idee eines "neuen Bürgerkriegs" ist für mich nicht nachvollziehbar. Ist Gewalt möglich? Sicher, in einem gewissen Ausmaß sogar wahrscheinlich, das haben wir am 6. Januar gesehen. Nur ist diese Gewalt reichlich einseitig. Ich zweifle nicht, dass es auf der radikalen Linken genug Idioten gibt, die gewaltbereit sind, aber die Leute, die regelmäßig auf der shooting range sind und zuhause ein Waffenarsenal horten, auf das mancher Diktator stolz wäre, sind auf der Rechten. Ein waschechter Bürgerkrieg wäre ein einseitiges Gemetzel. Aber ich sehe schlicht nicht, wie die Bundesstaaten ihre Milizen formieren und gegeneinander ausschicken, oder dass die US-Army sich teilt. Vor allem sehe ich keine Sezession. Die Trennlinien der USA verlaufen nicht entlang der Mason-Dixon-Line, sie verlaufen zwischen Stadt und Land, zwischen Infrastruktur und Unterentwicklung, zwischen Uni- und Highschool-Abschluss. Wir sind nicht mehr im Musketenzeitalter. Während politische Gewalt in den USA durchaus vorstellbar und historisch gesehen auch wahrlich nichts Neues wäre - ein Bürgerkrieg ist Fantasie.
5) Sind Lehrer:innen empfindlicher als andere Berufsgruppen?
Vorab: Es gibt keine materielle Gratifikation für lernwirksamen Unterricht mit einem hohen Maß an kognitiver Aktivierung und eine gute Schüler-Lehrer-Beziehung, weil man das – fälschlicherweise – für das Kerngeschäft hält, das nach 18 Monaten Ausbildungszeit be- und vollendet scheint. Keine Personalabteilung, kein:e Mentor:in begleitet routinemäßig Berufseinstiege an Schulen, so dass hier langjährige Sozialisationsfaktoren vielfach wirksamer werden als fachdidaktische und pädagogische Kriterien guten Unterrichts. Beförderungsverfahren sind ähnlich ritualisiert gestrickt wie Examenstage, auch hier wird Feedback zum geleisteten Unterricht eng mit Bewertung vermengt, so dass auch hier eine stark emotional geprägte Komponente zum Tragen kommt. Um es kurz zu fassen: Rückmeldungen Professionalisierter zum Kerngeschäft Unterricht sind im Berufsalltag selten und zu häufig angstbesetzt. Beförderungsstellen gibt es darüber hinaus selten dafür, Unterrichtsqualität oder gar Personalentwicklung in den Blick zu nehmen, sehr viel häufiger aber dafür, die in der Organisation Schule zahlreichen Verwaltungstätigkeiten zu bewerkstelligen, so ähnlich, als würde ein Unternehmen selten Produkt- und Qualitätsmanager, dafür aber überwiegend Buchhalter befördern. Auch wenn aus der empirischen Lehr-Lernforschung bekannt ist, dass die regelmäßige Reflexion über unterschiedliche Perspektiven auf Unterricht, verbunden mit der Formulierung eigener Handlungsziele, Unterricht verbessern kann, gibt es nur an wenigen Schulen verbindlich eingefordertes Schülerfeedback oder ein System kollegialer Hospitation, obwohl ich in diesem Bereich riesige Chancen sehe. Nichtdefizitäre Rückmeldungen zum Maß an kognitiver Aktivierung, Möglichkeiten konstruktiver Unterstützung im Unterricht, der Blick auf blinde Flecken in der Unterrichtskommunikation sind in allen Phasen des Berufslebens nötig, werden aber häufig als Zusatzbelastung empfunden, man spricht Schüler:innen die Fähigkeit ab, qualifiziertes Feedback zu geben und sorgt sich, was der Kollege, die Kollegin wohl zu einer „völlig normalen“ Unterrichtsstunde sagen wird. Erneut: Rückmeldungen – auch wertschätzende – sind eher dünn gesät, was schade ist, weil auch sehr viele positive Aspekte des eigenen Handelns nicht in den Fokus geraten. (Frau Kreis)
Kurz zur Einordnung: Der lesenswerte Beitrag beschäftigt sich jenseits des oben zitierten Ausschnitts mit der in der Überschrift gestellten Frage, ob Lehrkräfte gegenüber Kritik überempfindlich sind und lohnt die Lektüre (die Antwort aus meiner Sicht: ein entschiedenes Jein). Ich möchte aber kurz auf den obigen Teil eingehen, weil der massiv unterbewertet wird, in allen Diskussionen über Lehrkräfte und Reformen des Berufs.
Da ist einerseits das Ref, das schlicht die blanke Hölle auf Erden ist und wie von Frau Kreis dargestellt dafür sorgt, dass die Vorstellung, der eigene Unterricht werde bewertet, zu einer absoluten Horrorvision macht. Das ist schlecht. Die anderen Bewertungssituationen - Schulleitungsbesuche - sind ebenfalls massiv angstbesetzt, weil sie, hopp oder topp, über die Einstellung in den Beruf (Beamt*in auf Probe zu Beamt*in auf Lebenszeit) entscheiden und ggf. später Beförderungen, die aber kaum jemand betreffen, weil es so wenig Beförderungsstellen gibt. Abseits dieses angstbesetzten Systems gibt es praktisch keine Unterrichtsevaluation.
Theoretisch gesehen sollte es die geben, indem sich etwa Kolleg*innen freiwillig besuchen, aber das ist im Alltag kaum möglich. Wir haben bei uns an der Schule dieses Jahr explizit daran gearbeitet das zu ermöglichen und es finden immer noch kaum Besuche statt. Dazu werden all diese Besuche als angstbesetzte Wertung empfunden; ihr Wert ist daher eher zweifelhaft.
Das Problem ist schlichtweg Zeit beziehungsweise Ressourcen: da niemand für diese Aufgaben - Unterrichtsevaluation und -entwicklung - deputiert ist, findet sich praktisch nicht statt. Theoretisch müssten dafür Deputatsstunden vorgesehen und auch im Stundenplan integriert werden, müsste das verstetigt werden. Aber dafür werden keine Ressourcen allokiert, und wenig überraschend findet es nicht statt. Egal wie oft kommuniziert wird, wie wichtig das wäre - die Handlungen des Systems sprechen eine andere, überdeutliche Sprache. "Tu was ich sage, nicht was ich tue" hat noch nie funktioniert, und wenig überraschend funktioniert es auch in der Schule nicht.
6) Warum uns Spanien ein Vorbild sein sollte
Die Verhandlungen dafür waren kein Selbstläufer, immer wieder standen die Gespräche kurz vor dem Abbruch. Immerhin diskutierten Postkommunisten mit konservativen Katholiken, sozialdemokratische Zentralisten mit katalanischen Nationalisten. Dass es schließlich dennoch zur historischen Einigung kam, war ein klares Zeichen: Wir alle erkennen das Problem an, also müssen wir es auch gemeinsam lösen. Doch es braucht mehr als nur neue Gesetze. Die gesellschaftliche Diskussion muss sich ebenfalls verändern, von Stereotypen lösen. Seit Januar 2022 erfasst Spanien deshalb, nach eigenen Angaben als erstes und bislang einziges EU-Land, alle Formen von Femiziden. Eine unabhängige staatliche Stelle registriert von nun an auch frauenfeindliche Morde in der Familie, im sozialen Umfeld oder im Zusammenhang mit Prostitution und Ausbeutung. Auch stellvertretende Racheakte an Kindern, das klassische deutsche »Familiendrama« also, fallen künftig unter Femizid. Dass die breite Mehrheit im Land Gewalt gegen Frauen als gesellschaftliches Versagen begreift, liegt nicht zuletzt auch daran, dass die aktuelle Regierung den Kampf gegen Femizide als »Staatsauftrag« bezeichnet. Aus gutem Grund. Denn der hierzulande so oft gescheute Begriff beschreibt mehr als nur persönliche Schicksale. Es geht um Frauen, die getötet werden, weil sie Frauen sind. Um Besitzansprüche und um Macht. Im Privaten wie auch in der Gesellschaft. Die britische Psychologin und Feministin Jessica Taylor brachte es vor einiger Zeit auf den Punkt, als sie auf Twitter sinngemäß schrieb, gewalttätige Männer verlören gegenüber ihrer Partnerin nicht die Kontrolle. Vielmehr übten sie Macht aus – und zwar so, wie sie es gegen ihren Chef und andere Autoritäten nie tun würden. (Jan Petter, SpiegelOnline)
Ich möchte besonders hervorheben, wie wichtig es ist, alle Gesellschaftsschichten ins Boot zu holen und durch die Benennung ein Problembewusstsein zu schaffen. Erst, wenn es Begriffe für etwas gibt, kann man darüber sprechen. Erst, wenn man darüber sprechen kann, kann man an die Lösung des Problems gehen. Und dann braucht es ein Brechen jenes Schweigekartells, das allzu oft in solchen Fällen entsteht. Männer müssen andere Männer beeinflussen, müssen Verantwortung übernehmen, müssen Rollenvorbilder sein. Sonst wird das nie was.
7) Die Unterrichtsstunde ist eine überholte Maßeinheit
Das heißt: Mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte überschreiten die vorgeschriebene Wochenarbeitszeit von 46,38 Stunden (hier sind die Ferien eingerechnet), 17 Prozent sogar deutlich, da sie dauerhaft die gesetzliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche überschreiten. Allerdings sind es auch knapp 40 Prozent der Lehrkräfte, die die vorgeschriebene Wochenarbeitszeit unterschreiten, manche sogar erheblich. Die Varianz liegt bei fast einem Drittel Anteil einer Vollzeitstelle. Eine Vollzeitstelle, das sind in Deutschland 24,5 bis 28 zu erteilende Unterrichtsstunden pro Woche – und genau hier beginnt das Dilemma! Denn genau diese Berechnungsgrundlage ist denkbar ungeeignet, um die reale Arbeitszeit von Lehrkräften abzubilden. [...] Wie wollen wir also ernsthaft von Lehrkräften verlangen, dass sie sich um Fragen der Schul- und Unterrichtsentwicklung kümmern, wenn dies als zusätzliche Arbeitszeit empfunden wird? Wie wollen wir sicherstellen, dass Kooperation in multi-professionellen Teams stattfindet, wenn nicht einmal genug Zeit für Teamarbeit im eigenen Kollegium zur Verfügung steht? Wie kann Schulentwicklung dem Dilemma entrinnen, dass jede Form der Projektarbeit, der Teamarbeit, der Evaluationsarbeit etc. als zusätzliche Arbeit wahrgenommen wird und eigentlich in der Freizeit liegt? (Claus G. Buhren, Deutsches Schulportal)
Die Kritik Buhrens liegt vollkommen richtig, denn selbstverständlich bestimmt immer das, was gemessen wird, die Realität. Das gilt für IQ-Tests und das gilt für Arbeitszeit. Ist ja in normalen Betrieben nicht anders, wo überwiegend die Anwesenheit gemessen wird, weswegen oft genug ein Kult der Anwesenheit entsteht, in dem diejenigen als die Besten gelten, die am längsten im Betrieb anwesend sind, was genauso Quatsch ist.
Viel problematischer aber ist: Diese Kritik ist ja nicht neu; die Orientierung an der Deputatsstunde gibt es seit Jahrzehnten, die Einteilung ins 45-Minuten-Modell ist so überholt wie praktisch alles am deutschen Schulsystem. Nur, wöllte man das ernsthaft ändern und die Lehrkräftearbeitszeit anders aufschlüsseln, müssten aller Wahrscheinlichkeit neue Lehrkräfte eingestellt werden, weil man dann das bisherige Modell, die Mehrheit der engagierten Kolleg*innen auf Verschleiß zu fahren, nicht aufrechterhalten könnte. Und genau da endet jeder Reformversuch.
8) Free Speech For Me, Not You
Take, as an example, Donald Trump. After Trump delivered his incendiary speech that stoked the storming of the Capitol, Twitter decided they’d had enough. They permanently banned Trump from their platform. How did Americans feel about this ban? Support fell predictably along partisan lines (Figure 1). Democrats overwhelmingly supported Twitter’s Trump ban. Republicans overwhelmingly opposed it. This tribal divide isn’t rocket science. When the shit hits the fan, instincts trump abstract principles. [...] Since Americans’ right to free speech is written in the constitution, free-speech tribalism has played out most prominently in the US Supreme Court — the institution that determines how the constitution is interpreted. Of course, Supreme Court justices all claim to believe in free speech for everyone. But their behavior tells a different story. [...] Instead, Supreme Court justices are following the ‘tribal ideal’ — free speech for ideas they like … censorship for ideas they despise. Hence Democratic justices support liberal speech more than Republican justices (Figure 2, left). And Republican justices support conservative speech more than Democratic justices (Figure 2, right). [...] It is tempting to blame both political parties for this tribalistic turn. But the reality is that the blame rests overwhelmingly on Republicans. [...] Republican bias for ‘conservative’ speech isn’t the only way that the US Supreme Court has become more tribal. The court has also become more biased towards the business tribe. [...] Until the 1990s, the Court was increasingly hostile to ‘free speech’ for business. As a result, the ‘win rate’ for business free speech declined steadily. Then came the Roberts court, which brought relief for the business tribe. Over the last decade and a half, the Roberts court sided with business in a whopping 80% of free-speech cases. Unsurprisingly, in this pro-business environment, profits boomed. ‘Free speech’ for corporations means wage slavery for workers.2 (Blair Fix, Economics from the top down)
Das ist kein sonderlich überraschendes Ergebnis, aber es ist gut, das ganze in Zahlen und Statistiken zu haben (ich kann nur empfehlen dem Link zum Artikel zu folgen, wo die Schaubilder sind; wesentlich eingängiger als der reine Text hier). Dass die Republicans sich einseitig radikalisieren, ist wahrlich keine aufregende These, auch wenn diverse Beobachtende immer noch in denial sind.
Ich habe schon zahlreiche Male festgestellt, dass es völlig normal ist, die "freie Meinungsäußerung" der eigenen Seite wesentlich energischer zu verteidigen als die der anderen. Man muss schon fast ein Engel sein (oder eher, ein Roboter), um das nicht zu tun. Ich glaube, das beste das wir tun können ist, Korrekturen dafür einzurichten. Zu glauben, man könnte sich von diesen Mechanismen lösen, ist, fürchte ich, Hybris.
9) Wo beginnt Rassismus, Herr El-Mafaalani? (Interview mit Aladin El-Mafalaani)
Tocqueville hat festgestellt, dass Menschen erst dann, wenn sie teilhaben – weil Benachteiligungen in Teilen abnehmen –, in der Lage sind, Probleme zu thematisieren und sich so zu befreien. Das heißt, zu dem Zeitpunkt, an dem Menschen sich zu Wort melden und Diskriminierung thematisieren, sind sie gerade deshalb in der Lage dazu, weil die Diskriminierung bereits abgenommen hat. Erst dann hört man ihnen zu. Das Paradoxale daran ist: Die Diskussion wird immer intensiver, je geringer die Probleme werden. Und das ist im Übrigen nicht nur bei Rassismus so. Große Gemeinschaften haben die paradoxe Tendenz, dass sie über das kleiner werdende Problem immer intensiver sprechen. Denken Sie an soziale Sicherheit. Eine Gesellschaft wie die indische, in der der Staat überhaupt keine Sicherheit schafft, diskutiert nie über Unsicherheit. In Deutschland hingegen, wo wir alles daransetzen, das Leben noch sicherer zu machen, als es ohnehin schon ist, reden wir so, als sei alles unsicher. Das ist ganz typisch. Das Paradox kann man natürlich auch auf Sexismus übertragen. [...] Das ist die offene Gesellschaft, wenn jetzt aber alle diese Menschen ein schönes Stück vom Kuchen wollen, dann wird es nicht gemütlich, sondern im Gegenteil: Das ist mit Streit verbunden. Einige fordern, das Rezept des Kuchens zu ändern. Oder die Tischordnung. Oder die Esskultur. Hier geht es dann nicht mehr um Verteilungsfragen, sondern um kulturelle und identifikatorische Fragen, zum Beispiel: Gehört der Islam zu Deutschland? Eine solche Frage stellt man erst, wenn Muslime mit am Tisch sitzen. Und wenn man nur die heutige Tischszene betrachtet, also den Streit, dann kann man leicht den Eindruck gewinnen, wir hätten Rückschritte gemacht. Dabei handelt es sich um eine große Erfolgsgeschichte der offenen Gesellschaft. (Svenja Fasspoehler, Philsophie-Magazin)
Ich finde nur wenige Thesen so unglaublich Augen öffnend wie die des Diskriminierungsparadoxes von el-Mafalaani, mitsamt der Metapher des am Tisch Sitzens. Dadurch erst wird in meinen Augen wirklich verständlich, was in der Gesellschaft eigentlich passiert und woher so viele dieser Streitereien kommen, die dann vor allem auf Konservative so bedrückend wirken. Das ist ja wenig verwunderlich, weil sie Veränderungssymptome sind und Konservative per Definiton keine Veränderung wollen - sonst wären sie ja keine Konservativen. Auf der einen Seite stimmt das hoffnungsfroh, weil es Fortschritte anzeigt; auf der anderen Seite muss man sich natürlich immer wieder klarmachen, dass kein Automatismus besteht. Diese Streits können in jegliche Richtung ausgehen, auch in Stagnation oder gar Rückschritt. Aber insgesamt bin ich hoffnungsvoll und bei Obama beziehungsweise Martin Luther King, mit dem "long arc of history bends towards justice".
10) Virus gegen Geschichtsbewusstsein
[Es ist] unübersehbar, dass die Szene der Impfgegner sich zu einer in der Geschichte der Bundesrepublik bisher unbekannten rechtsradikalen Massenbewegung entwickelt. Das ist verwunderlich, weil die Impfgegnerinnen einem ganz anderen Milieu entstammten. So jedenfalls die von Oliver Nachtwey und Nadine Frei erstellte empirische Untersuchung „Quellen des Querdenkertums. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg“. Dieser nicht streng repräsentativen, aber auf einer zureichenden Fülle von Interviews beruhenden Studie ist zu entnehmen, dass die typischen QuerdenkerInnen gerade keine abgehängten, politisch eher rechts eingestellten Provinzler sind. Im Gegenteil, die Studie ergab, dass es sich um den Idealtyp der grünen Wählerin handelte: in aller Regel um eher weibliche, höher gebildete, der gehobenen Mittelschicht zugehörige Personen. Zudem wurden vier mögliche Herkunftsmilieus dieses Personenkreises untersucht: 1. das Alternativmilieu, 2. das anthroposophische Milieu, 3. das christlich-evangelikale Milieu sowie 4. das bürgerliche Protestmilieu, das in den Auseinandersetzungen um „Stuttgart 21“ führend war. Tatsächlich gab es kaum Überschneidungen mit dem evangelikalen beziehungsweise dem bürgerlichen Protestmilieu, nein, die meisten Befragten ordneten sich dem alternativen oder anthroposophischen Milieu zu. [...] Offensichtlich sind viele Angehörige der alternativen und anthroposophischen Milieus weder willens noch in der Lage, die Umwelt- und Gesundheitskrise strukturell zu beurteilen. [...] Hinzu kommt ein in diesen Milieus seit jeher weit verbreitetes Unbehagen – nicht an einzelnen staatlichen Gesetzen und Maßnahmen, sondern am Staat selbst als Inbegriff von Macht und Unterdrückung. Und so berühren sich am Ende denn doch Rechte und Linke: während jene den bundesrepublikanischen Staat und sein Recht im Geiste einer völkischen Gemeinschaftsvorstellung überwinden wollen, sehen diese in einem geradezu anarchistisch gesinnten Individualismus im Staat nichts anderes als eine Unterdrückungsmaschine. Hie radikaler Individualismus, dort völkische Gemeinschaft – in diesem Falle trifft es eben doch zu: Les extrêmes se touchent … Nicht trotz, sondern wegen fehlender Gemeinsamkeiten. (Micha Brumlik, taz)
Ich weiß nicht, in wie weit ich die These teilen möchte, dass mangelndes Geschichtsbewusstsein und Kenntnis der Geschichte des Nationalsozialismus' ein entscheidendes Problem sind; mir scheint, dass die strukturellen Ursachen, die gegen Ende des obigen Ausschnitts zur Sprache kommen, viel entscheidender sind. Vor allem scheint mir der Generalirrtum zu sein, zu versuchen, die übliche Links-Rechts-Dynamik auf das Schwurbler-Milieu anzuwenden.
Die gleiche Verwirrung kommt gerne zum Tragen, wenn man sich die Frühzeit der Grünen ansieht, also Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre, als auch noch eine breite Querfront von irgendwelchen Blut-und-Boden-Nazis bis hin zu Restalternativen und K-Gruppen sich unter dem Banner des Umweltschutzes zusammenfand. Die folgenden Sortierprozesse verwandelten die Grünen erst in eine klassischere "linke" Partei, ehe sie sich dann rapide verbürgerlichten.
Aber der Überlapp dieser Milieus ist nicht verwunderlich. Wissenschaftsskepsis hatte bei den Grünen schließlich immer einen prominenten Platz, ich darf nur an die irrationale Ablehnung dessen erinnern, was in der Partei unter "Gentechnik" läuft. Das ist wie irgendwelcher Industrienationalismus, der sich bei SPD oder LINKEn trotz aller Beschwörungen des Internationalismus hält, das ist wie Gemeinsamkeiten, die sich gelegentlich zwischen AfD und CDU/FDP auftun, und so weiter. Man kann politische Schemata erstellen, aber die Realität ist selten so schön geordnet.
Der relevante Teil jedenfalls bleibt stets, wie die Parteien mit diesen Ausläufern umgehen. Bisher sind die deutschen Parteien da eigentlich im Großen und Ganzen immer gut aufgestellt gewesen. Hoffen wir, dass es so bleibt.
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