Freitag, 21. Januar 2022

Rezension: Bert Altena/Dick von Lente - Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989

 

Bert Altena/Dick von Lente - Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989

Ein Buch von UTB in Händen zu halten ist, wie die Angelsachsen sagen würden, ein "trip down the memory lane". Ich glaube, ich hatte seit Abschluss meines Studiums keines mehr in der Hand. Für diejenigen, die mit dem Konzept nicht vertraut sind: UTB publiziert so genannte "Studienbücher", also Überblickswerke, die sich vorrangig (aber nicht nur) an Studierende des jeweiligen Faches richten und einen Überblick zum jeweiligen Thema bieten. Ich hatte Werke von UTB sowohl in Deutsch als auch in Geschichte und Politikwissenschaften in der Hand. Dass ich jetzt wieder einen Band lese zeigt aber, dass für das einschlägig interessierte Publikum eine Immatrikulation nicht erforderlich ist.

Der vorliegende Band beschäftigt sich, kaum überraschend, mit der "Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit 1750-1989", wobei der Titel trotz der scheinbaren Präzision etwas irreführend ist. Präziser hätte man ihn "Gesellschaftsgesichte der westlichen Welt in der Neuzeit 1750-1989" nennen sollen, denn um diese geht es hier. Man könnte behaupten, das sei bereits im Konzept der "Neuzeit" mit angelegt, die als Kategorisierung nur aus westlicher Perspektive irgendeinen Sinn macht.

Denn das Startdatum 1750 verweist auf die Epoche der Aufklärung, die mit ihrem "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", in den Worten Kants, den Startschuss für die Neuzeit im westlicheren Europa bildet - und gleichzeitig eine starke Divergenz zu anderen Teilen der Welt, besonders Osteuropas und des Osmanischen Reichs begründet, die bis heute fortdauert. Allein über die Sinnhaftigkeit dieser Einteilung könnte man komplette Bücher schreiben (und das ist auch passiert), aber es macht wenig Sinn, diese Grundprämisse des Werks großartig zu kritisieren. Die Autoren stellen sich in eine klassische Tradition der Epocheneinteilung, und da sie ein Überblickswerk schreiben sind derartige Debatten nicht ihr Fokus.

Nichtsdestotrotz ist es instruktiv, einen Moment bei der Epocheneinteilung zu verweilen. Denn Strukturen wie diese bestimmen unser Denken. Eine "Neuzeit" hat bereits in ihrer Konzeption die Prämisse enthalten, dass die Epoche etwas Neues ist, und weil wir "neu" eigentlich immer auch mit "besser" assoziieren, wird gleichzeitig ein Fortschritt impliziert. Das war den Zeitgenossen übrigens durchaus klar; sie titulierten ihre Zeit bewusst als "Neuzeit", um sie vom "finsteren Mittelalter" zuvor abzugrenzen. (Wer wissen will, wie es auf einer Feuerwehrwache bei Großalarm aussieht, sollte einmal die Debatte um die Korrektheit des Begriffs "Mittelalter unter Mediävisten anschneiden.) Aus dem gleichen Grund erfand das späte 19. Jahrhundert für sich den Begriff der "Moderne", den wir mittlerweile mit der unglücklichen Begriffskonstruktion der (bezeichnenderweise negativ besetzten) "Post-Moderne" abgelöst haben. Was kommt danach? Post-Post-Moderne? Kategorisierungen bergen immer Fallen.

Ironischerweise ist die Neuzeit tatsächlich der Anbruch einer neuen Zeit, denn ab 1750 beginnt nicht nur ein neues geistesgeschichtliches Kapitel mit dem Durchbruch der Aufklärung, mitsamt den Revolutionen und seismischen politischen Verschiebungen, die sich daraus ergeben, sondern auch der Beginn des modernen Bildungswesens und, vor allem, der Industrialisierung und damit der modernen Welt, wie wir sie kennen.

Altena und van Lente strukturieren ihr Buch klar durch: die Neuzeit wird in drei große Unterepochen gegliedert - 1750-1848, 1848-1918, 1918-1989 - und diese wiederum werden in Entwicklungen der Ideengeschichte, der Wirtschaft, des Bildungswesens, der Politik und so weiter zerlegt und jeweils einzeln betrachtet. Da das Buch "nur" 400 Seiten hat, müssen dabei zwangsläufig Kurzabrisse und Verallgemeinerungen herauskommen; da das Ganze auch noch komparativ die westliche Welt abdeckt, bleibt alles Oberflächenbetrachtung. Das kann für ein Überblickswerk auch gar nicht anders sein, aber festzuhalten ist es in jedem Falle. Für vergleichende Betrachtungen beschränken sich die Autoren weitgehend auf Frankreich, Großbritannien, Deutschland, die USA und die Niederlande. Das ist ziemlich klassisch, hat aber den Nachteil, weite Teile Europas auszugrenzen. Osteuropa nannte ich bereits, aber auch Süd- und Nordeuropa kommen kaum vor. Die "Neuzeit", die wir haben, ist sehr dezidiert die westliche, das muss wirklich erneut klargemacht werden.

Große Überraschungen sind in dem Werk nicht vorhanden, die Darstellungen entsprechen dem breiten Konsens der Geschichtsforschung. Wirtschaftliche Entwicklungen wie Urbanisierung und Industrialisierung hin zur Entwicklung der zweiten Industrialisierung mit dem Fokus auf Chemie- und Elektrotechnik über den Massenkonsum zeichnen ein bekanntes Bild. Eine kleine Überraschungen für mich war der kurze Zeitraum, in dem die höhere Bildung explodierte (eine Verdreifachung in kaum einem Jahrzehnt; kein Wunder wurden damals massenhaft Gymnasien und Universitäten gebaut!). Solcherlei kleine Informationsbröckchen finden sich anhand ausgewählter Statistiken auch für diejenigen, die sich bereits im entsprechenden Bereich auskennen. Das ist bei mir für den letzten genannten Zeitabschnitt sicherlich der Fall; ich war schon immer Zeithistoriker.

Weniger sattelfest dagegen bin ich bei dem, was für gewöhnlich unter "Neuzeit" läuft, also vor allem dem 18. und früheren 19. Jahrhundert. Vom Entstehen der Kaffeehäuser - einer Institution, die mittlerweile überhaupt nicht mehr existiert, und nein, Starbucks zählt nicht - über die Politik des Vormärz' war für mich eine Menge Neuland. Zu den Dingen, die ich theoretisch weiß, die mich aber in ihren konkreten Ausprägungen jedes Mal aufs Neue überraschen (wie auch bei der Lektüre von Hedwig Richters "Demokratie - Eine deutsche Affäre") ist die Internationalität des Vormärz und der Revolution von 1848/49.

Trotz vieler Versuche, dieses Thema in den Bildungsplänen zu internationalisieren, wird die Geschichte hierzulande doch weiterhin sehr deutschlandzentriert erzählt. Dass 1848/49 überhaupt eine europäische Revolution war ist irgendwie im Bewusstsein, auch in meinem, nur auf abstrakter Ebene angekommen, wenn überhaupt. Auf der langen, langen Liste der Themen, mit denen ich mich näher beschäftigen muss, gehört das mit Sicherheit zu den großen Elementen.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Lektüre eines Studienbuchs wie diesem nicht unbedingt ein großes Lesevergnügen darstellt. Es ist geradezu der Zweck, nüchterne Informationsvermittlung ohne große stilistische Schnörkeleien zu produzieren. Dementsprechend ist das Buch trocken, ein narrativer Bogen fehlt völlig. Das ist nicht schlecht und für den Zweck sicherlich die richtige Wahl, macht aber die Lektüre entsprechend anstrengend. Wer sich davon nicht abschrecken lässt und einen Überblick über die Epoche will, macht aber sicher nichts falsch.

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