Freitag, 27. Dezember 2019

Getting Brexit done - Eine Analyse der britischen Wahlen 2019

Ein konservativer britischer Premierminister sieht sich einer gespaltenen Partei und einer zwiespältigen Öffentlichkeit gegenüber. Das dominierende Thema der Politik ist die Umsetzung eines Referendums über den Austritt aus der Europäischen Union. Die Opposition ist ebenso gespalten, die Verhältnisse unklar, die Lage volatil. Die praktische Umsetzung eines so eindeutigen Plebiszits ist völlig ungeklärt. In dieser Lage wird eine Neuwahl ausgerufen, die den gordischen Knoten durchschlagen soll.

Diese Beschreibung trifft sowohl auf Theresa Mays Entscheidung für Neuwahlen 2017 als auch auf die Boris Johnsons 2019 zu. Aber die Resultate und Konsequenzen könnten unterschiedlicher kaum sein. Wo May ihre Parlamentsmehrheit einbüßte und sich zwei lange Jahre lang mit Unauflösbarkeit des irischen Backstop-Dilemmas konfrontiert sah, gewann Boris Johnson eine eindeutige Mehrheit, während die Opposition geradezu kollabierte. Wir wollen, nun mit etwas Abstand, den vermutlich letzten Akt des Dramas betrachten; quasi ein letzter Blick auf ein noch formal zur EU gehöriges Großbritannien.

Mehrere Phänomene erfordern unsere Aufmerksamkeit und unsere Analyse. Da wäre einerseits die Frage, welche Faktoren zu Johnsons durchschlagendem Wahlsieg führten. Da wäre andererseits die Frage, worauf der unglaubliche Kollaps Labours unter Jeremy Corbyn (und ebenso, wenngleich weniger diskutiert, der der Liberal Democrats) zurückzuführen ist. Und zuletzt muss untersucht werden, welche Folgen diese tektonischen Verschiebungen für die politische Landschaft Großbritanniens haben.

Betrachten wir zuerst die Ursachen von Johnsons Sieg, soweit sie ihre Gründe nicht in der Schwäche der Opposition haben. Was unterscheidet die Tories 2019 von den Tories 2017? Warum gelang Johnson, was May versagt blieb?

Ich denke, es ist unumstritten, dass die Wahl 2019 - deutlich mehr als die Wahl 2017 - von der Entscheidung über den Brexit bestimmt war. Wo Theresa May versuchte, sich mit so brillanten Zirkelschlüssen wie "Brexit means Brexit" aus der Affäre zu winden und mit jedem Tag mehr Glaubwürdigkeit auf der rechten Flanke einzubüßen, ohne dies durch Zugewinne bei moderaten Kräften kompensieren zu können, ließ Johnson von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er den gordischen Knoten zu durchschlagen gedenkt: "Get Brexit done!" war das Motto, "and the damn the consequences!" der unausgesprochene zweite Teil.

Das Kalkül hinter dieser Inszenierung als Brexit-Volkstribun war wohl, die permanente Wadenbeißerei vom rechten Rand, die May so plagte, zu neutralisieren. Dieses Kalkül ging auf. Nigel Farage schloss einen Pakt mit Johnson und vernichtete seine neue Brexit-Partei, noch bevor sie richtig aus den Startlöchern kam. Was er bei diesem faustischen Pakt bekam, ist bisher eine Unbekannte, aber man darf sich sicher sein, dass er die Rechnung noch präsentieren wird. Gleichzeitig hatte Johnson, anders als May nach ihrer desaströsen Wahl, die Möglichkeit, die Spaltung der eigenen Partei über die Frage nach hard Brexit oder soft Brexit zu überwinden, wenngleich zugegebenermaßen auf die brutalstmögliche Art.

Durch zahllose Parteiaustritte wurden die Tories zur neuen Brexit-Partei, und Johnsons Wahlsieg füllte sie mit radikalisierten Parteigängern auf. Anders als May verfügt er damit über den Handlungsspielraum, den sie sich 2017 zu verschaffen hoffte und stattdessen endgültig zerstörte. (Wir sollten vorsichtig sein, das als zwangsläufige Folge zu sehen: Johnson ging wie May eine Wette mit ungewissem Ausgang ein, nur gewann er sie, aus Gründen, die noch zu zeigen sein werden.)

Dass es überhaupt soweit kam - sowohl zum Brexit-Votum selbst als auch zu den Wahlen 2017 und 2019 - ist ebenso wenig eine klar vorhersehbare Trendlinie. Zu Beginn des Jahrzehnts etwa konnte es noch als gesichert gelten, dass ein erfolgreicher Premierminister David Cameron die Brexit-Tories für die vorhersehbare Zukunft neutralisieren würde. Was ist geschehen?

Für Andrew Marr liegt die Ursache für den harschen Wandel des britischen politischen Systems in der toxischen Kombination aus Austerität und plebiszitärer Demokratie:
The shape of this revolution should not be a surprise. It began in the years after the 2008 financial crash, when the British state responded by radically restricting spending and, in doing so, greatly exaggerated the gap in life expectations, hope and happiness between the poorest social classes and least invested-in communities, and the rest. A fracture opened up between comfortable and uncomfortable Britain. That crack was then widened when David Cameron imported a plebiscite into British parliamentary democracy. It allowed the first big modern provincial rebellion against metropolitan power – an uprising that was about culture and dignity as well as economic position.
Die Folgen der Finanzkrise von 2007-2009 sind immer noch in allen politischen Analysen deutlich unterrepräsentiert, vor allem wenn man es mit der erschöpfenden Analyse der Flüchtlingskrise 2015 vergleicht (die für das ganze Brexit-Dilemma entscheidend ist, make no mistake). Die Briten sind, was Ungleichheit angeht, den Amerikanern näher als Kontinentaleuropa - und gleichzeitig in ihren Anforderungen zur Problemlösung an den Staat wiederum näher an Kontinentaleuropa als an den USA. Diese Mischung brodelte unter der Oberfläche, und ein Teil von Corbyns Erfolg 2017 liegt sicher auch darin, dass er diese Mischung aufgreifen konnte - während Theresa May sich als Margret Thatcher 2.0 präsentierte und eine "strong and stable"-Fortsetzung der Austeritätspolitik versprach.

Man sollte weder bei Johnson noch bei Trump unterschätzen, wie wichtig ihre ostentative Aufgabe der Austeritätspolitik und das Abwerfen des Dogmas des freien Wettbewerbs und Handels für ihren jeweiligen Wahlerfolg war. "Taking back control" hat eine ganze Menge, auch xenophobe, Untertöne, aber einer dieser Untertöne ist eben auch die Entmachtung der Londoner City beziehungsweise der Wall Street. DAS ist der Grund für die schichtenübergreifende Attraktivität des neuen Rechtspopulismus.

Dementsprechend könnte man mit David Skelton der Ansicht sein, dass die Tories, wollen sie ihre "Leihstimmen" aus den Labour-Hochburgen halten, eine entsprechende Anti-Austeritäts-Politik auch in der Praxis fahren müssen:
If the Tories want to retain their coalfield and steeltown seats, rather than merely holding them on “loan”, they have to use the next five years to deliver real and transformative change. Transport infrastructure, including road, rail and light rail, should be directed towards these towns. There should be a mission to reindustrialise parts of the north with a strong manufacturing heritage, with an emphasis on encouraging industrial investment in long-forgotten towns. A vocational education revolution should include basing vocational centres of excellence, in partnership with major employers, in these towns. A fundamental priority for the government should be to turn round decades of decline. 
Es wird sich weisen, ob Boris Johnson besser als Donald Trump in der Lage sein wird, seiner Partei einen solchen Politikwechsel aufzuzwingen. Zwar geben auch die Republicans das Geld mit vollen Händen aus, machen Schulden und kümmern sich keinen Deut um die Finanzierbarkeit - eine jahrzehntelange Tradition aller konservativen Parteien, die Haushaltsdisziplin immer genau dann als Tugend entdecken, wenn sie in Opposition geraten - aber Trump, ganz der Mentalität eines Mafia-Bosses verpflichtet, war und ist nicht in der Lage, die Früchte dieser Ausgabenpolitik auf breite Bevölkerungsschichten anzuwenden und bedenkt nur seine eigene, schmale Basis. Johnson ist jedoch, nach allem was man sieht, ein wesentlich gerissenerer politischer Führer als Trump, weswegen er den benefit of the doubt verdient.

In der Zwischenzeit betont John Elledge die Rolle der Demographie für das Wahlergebnis:
But another, I’d guess, is economics. For reasons we’ve often discussed on CityMetric, around the shift to services and the growing importance of agglomeration, a falling share of jobs are in towns, and a growing share are in cities. The result of this is an internal brain drain: a chunk of the population of each town leaves to go to university at 18 and finds they have no particular reason to move back. For those on the outskirts of London, or other boomtowns, some move back in their 30s to start families. But for places like Workington, they don’t. The net result is that many of those towns have populations with fewer young people, more old ones – and who are increasingly likely to vote Tory.
Wir sehen diese Dynamik überall in der westlichen Welt. Je geringer der Bildungsabschluss, je weißer, je älter, je männlicher und je ländlicher, desto eher wählt man Rechtspopulisten. Diese Trendlinien sind viel zu ubiquitär, viel zu offenkundig, als dass man sie ignorieren könnte. Die Demographie erweist sich für Labour daher in einem Mehrheitswahlrechtssystem ähnlich zum Fluch wie für die Democrats in den USA: Obwohl die eigentlichen Stimmenanteile gar nicht soooooo weit auseinanderliegen, trennen die tatsächlich damit errungenen Sitze Welten. Labour profitiert nur wenig davon, diverse Sitze in London mit 70% oder mehr zu gewinnen, während die Tories auf dem flachen Land die Stimmen der Absteiger einkassieren können.

Soweit, so normal.

Die Linke ist mittlerweile vereint in ihrem Lieblingssport: dem Erklären der Niederlage mit all den Faktoren, die nichts mit ihr selbst zu tun haben. Wie albern diese Unternehmung werden kann, ist in einem viralen Twitterthread beschrieben worden, dessen Lektüre als eine Art kalte Dusche nur anempfohlen werden kann:
Der erste Fehler, den man in diesem Zusammenhang machen kann, ist, Labours Niederlage in nur einem Grund zu suchen: Brexit. Lügenpresse. Corbyn. Antisemitismus. Sozialistisches Wahlprogramm. Pick whatever you prefer. Stattdessen gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die teilweise in, teilweise auch außerhalb der Kontrolle der Partei liegen.

Sehr in der Kontrolle der Partei ist Jeremy Corbyns astronomische Unbeliebtheit. Diese hat viele Ursachen. Corbyn präsidiert über eine tief gespaltene Partei, ein Amt, an das er auf eine Weise kam die das Establishment dieser Partei als illegitim empfindet, und versuchte danach (ähnlich wie Johnson) seine eigenen Leute in Machtpositionen zu bringen. Das ist absolut sinnvoll; Corbyn muss nur mal Martin Schulz fragen, was passiert, wenn man das nicht tut, aber es sorgt eben gleichzeitig auch für Missstimmung innerhalb der Partei. Und wenn Linke etwas lieben, dann ist es Selbstzerfleischung, das wusste schon die Monthy-Python'sche Volksfront von Judäa.

Dazu kommt, dass Corbyn nicht eben ein Sympathieträger ist, das hat er mit Theresa May, Hillary Clinton oder Angela Merkel gemein (auch wenn diese den Vergleich sicher scheuen würden). Zudem vertritt er diverse Positionen, die in Großbritannien selbst unter Labour-Anhängern nicht mehrheitsfähig sind, etwa seine offensive Abneigung der Monarchie. Ich kenne britische Sozialdemokraten, die allein hierin schon ein Problem sehen, denn der Premierminister ist immer noch Vorsitzender von Her Majesty's Cabinet. Auch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Militär und dem britischen nuklearen Abschreckungspotenzial trägt nicht unbedingt dazu die, die Wortgruppe "Ministerpräsident Jeremy Corbyn" auf Begeisterungsstürme in der traditionell interventionsfreudigeren britischen Öffentlichkeit stoßen zu lassen.

Man kommt im Zusammenhang mit Corbyns Beliebtheit leider auch nicht darum herum, die Antisemitismusdebatte in der Partei zu behandeln. Ob Corbyn überzeugter Antisemit ist oder nicht spielt in der Debatte in etwa eine so große Rolle wie die Frage, ob Konrad Adam oder Alice Weidel Nazis sind: Wer solche Elemente in seiner Partei akzeptiert und sich nicht klar distanziert, macht sich gemein, und den Vorwurf muss sich Corbyn mindestens gefallen lassen. Seine skandalträchtigen Verbindungen zur iranischen Staatspresse oder der Hezbollah machen die Sache da nicht unbedingt besser.

Fairnesshalber muss natürlich auch gesagt sein, dass Corbyn und Labour generell sich einer extrem feindlichen Presselandschaft gegenübersahen und -sehen. Die britische Presse, vor allem die mächtige Yellow Press, ist seit ihrer Entstehung in der Frühzeit des 20. Jahrhunderts mit einem starken Rechtsdrall ausgestattet, und die Kampagnenberichterstattung dieser von wenigen Milliardären gesteuerten Blätter lässt die Springerpresse wie Chorknaben aussehen. Aber alleine hat dieser Fakt wenig Überzeugungskraft, denn das deutlich bessere Abschneiden Labours 2017 verdankt sich ja nicht eben der Corbyn-Begeisterung der Daily Mail.

Ein weiteres Problem für Labour war, dass sie aus der Ablehnung der Austerität kein politisches Heu zu dreschen in der Lage waren. Wie so oft bei sozialdemokratischen Parteien dieser Tage ist fast jede einzelne der Forderungen aus dem jeweiligen Wahlprogramm ungeheuer populär und findet deutlich jenseits der Zwei-Drittel-Mehrheit Zustimmung in der Bevölkerung. Wie jedoch auch so oft fehlt das Grundvertrauen, dass die Partei tatsächlich in der Lage wäre, diese Forderungen auch umzusetzen, oder aber die Früchte dieser Forderungen in die "richtigen" Bahnen zu lenken. Konkret gesagt: Sozialstaat für Weiße, dieses so erfolgreiche Versprechen der Rechtspopulisten von Budapest und Warschau über London und Washington.

Der größte Unterschied zwischen den Wahlen 2017 und 2019 jedoch lag außerhalb der Kontrolle der Partei. Niemand wird bestreiten wollen, dass das zentrale, alles überschattende Thema 2019 der Brexit war. Die Trennlinien zu diesem Thema - Leave oder Remain, hard oder soft - schnitten quer durch die Anhängerschaften der Parteien. Johnson konnte sich mit einer gewissen Glaubwürdigkeit als Mr. Brexit inszenieren, während Corbyns Engagement für den Verbleib in der Union sowohl 2016 als auch 2017 bestenfalls ambivalent war.

Aber die Tories sind auch einiger (man beachte den Komparativ) in dieser Frage, als es Labour ist. Und 2017 gab es keine Mehrheit für einen hard Brexit; stattdessen forderten Elektorat und Partei von Theresa May die Quadratur des Kreises, an der sie scheitern musste. Johnson hob dann die Trümmer einer erschöpften Partei auf und peitschte diese in ein Ende mit Schrecken, um dem Schrecken ohne Ende zu entkommen.

Labour stand dieser Weg nicht offen. Stattdessen war eines der größten Probleme, in den Worten Stephen Bushs, dass "[t]he party's pro-Brexit MPs spent three years looking for ways to back Brexit in theory, but not in practice". Ich halte diese Suche für einen Kerngrund des überraschend guten Abschneidens von Labour bei den Wahlen 2017. Ich hatte damals einen Freund von mir gefragt, der in der Politikberatung tätig ist, ob Labours Erfolg davon abhängig sei, dass sie keine Position bezüglich des Brexit einnähmen. Er schüttelte den Kopf und meinte, es sei, weil Labour ALLE Positionen bezüglich des Brexit zugleich einnehme. Dieses Jonglierspiel musste irgendwann scheitern, und 2019 brach es krachend zusammen.

Auch Yascha Mounk sieht die Spaltung der Labour-Wählerschaft als ein letztlich unauflösbares Problem, wenngleich er Brexit nur als eine Facette eines größeren Kulturkampfs ansieht:
So Labour is now being pulled in two opposite directions. Many of its middle-class voters feel that the party is not sufficiently liberal on cultural issues; as a result, they are tempted to opt for more consistently progressive alternatives such as the Green Party. Meanwhile, many of its erstwhile working-class voters feel that the party’s leaders have come to look down on their cultural views; as a result, they are tempted to vote for the Tories, or even for more extreme alternatives such as the Brexit Party.
Ich teile die manische Obsession mit identity politics, die Mounk und so viele andere Beobachter dieser Dynamiken treibt, nicht. Fakt ist allerdings, dass Labour unter denselben Fliehkräften leidet wie auch die SPD und droht, von ihnen zerrissen zu werden. Johnson hat eine taktische Verkleinerung seiner Partei vorgenommen, um sie danach umso sprunghafter expandieren zu lassen. Das rosige Zukunftsszenario für Labour wäre, dass der Partei Ähnliches gelingt, aber ich bin da sehr skeptisch.


Gleichzeitig halte ich es aber für eine arg selbstverliebte Feststellung von Mitte-Rechts, einfach nur das ambitionierte Programm von Labour zur Maßgabe zu machen. Auch Andrew Marr zweifelt hier:
Nor am I completely convinced that the Labour manifesto was simply too ambitious and too generous to persuade voters. By the end of the campaign billions were being thrown around by insouciant politicians on all sides as if they were autumn leaves. People had stopped counting.
Das konservative Programm war schließlich mindestens ebenso radikal, wenn nicht radikaler, als das Programm von Labour, wenngleich in eine andere Richtung.

So viel erst einmal zu den Gründen für das Wahlergebnis. Wir wollen uns jetzt den Folgen zuwenden.

Eine der offensichtlichsten Konsequenzen von Johnsons Spaltungskurs (nicht, dass es einen Konsens hätte geben können, das hat May nachdrücklich bewiesen) ist das Wiederbeleben von Nicola Sturgeons Unabhängigkeitskurs in Schottland. Die Forderung nach einem zweiten Referendum ist durch den nun praktisch unvermeidbar gewordenen Hard Brexit zwar immer noch nicht sonderlich überzeugend, aber mit einer völlig neuen politischen Dynamik ausgestattet. Zudem hat der Siegeszug der SNP, der nach dem gescheiterten Referendum 2014 seinen Zenit überschritten haben zu schien, mit Verve zurückgekehrt; noch nie zuvor sandten die Separatisten so viele Vertreter nach Westminster. Der Streit um die schottische Unabhängigkeit dürfte zusammen mit dem Brexit das beherrschende Thema von Johnsons Amtszeit werden, ohne dass klar wäre, wie es für Schottland und das Vereinigte Königreich ausgehen wird.

In etwas abgeschwächter Form findet sich das Problem auch in Nordirland wieder. Wie sich der Brexit mit der EU-Mitgliedschaft Irlands und einer prinzipiell offenen Grenze zwischen den beiden Insel-Teilstaaten vertragen soll, ist weiterhin völlig offen. Obwohl kaum ein Thema Mays Regierungszeit so überschattet hat wie der Backstop, der jeden Brexit-Vertrag unmöglich machte, spielte das Thema im Wahlkampf selbst kaum eine Rolle mehr - vermutlich ebenfalls ein Ermüdungseffekt, der Johnson hier zugute kam. Gelöst allerdings ist es damit freilich nicht.

Gleichzeitig sehen wir in Johnsons Sieg eine Wasserscheide im britischen politischen System. Ich habe vorher die Aussage getroffen, dass Johnsons Programm mindestens genauso radikal wie das Corbyns war, wenngleich diese Einsicht im Wahlkampf selbst nicht wirklich durchgedrungen ist.

Der für das politische Gesamtgefüge sicherlich wichtigste Punkt ist der Verfassungswandel, den Johnson anstrebt. Angesichts des Mangels einer festgeschriebenen Verfassung kann seine deutliche Parlamentsmehrheit hier große Änderungen vornehmen, sofern ihn die Gerichte lassen. Und das Aufstocken der Gerichte mit Tory-Parteigängern gehört gerade zu den expliziten Absichten des Mannes, auch hier ein Muster, das sich bei allen dieser Rechtspopulisten findet.

Dabei sollte man nicht den Fehler machen und Johnson unterstellen, dass er es auf eine Art Ermächtigungsgesetz abgesehen hätte; weder ist er so krude, noch würde das seinen Absichten gerecht werden. Der Verfassungswandel wird, wie auch bei Orban oder Kaczinsky, schleichend vonstatten gehen. Neuzuschnitte der Wahlkreise zum Zementieren der Tory-Mehrheit, das Ausschalten von Veto-Positionen innerhalb des Systems und eine weitere Zentralisierung von Macht in einem ohnehin bereits verhältnismäßig zentralisierten System sind entscheidende Stellschrauben des Systems.

Jeremy Cliffe beschreibt die Gefahren eines schleichenden Verfassungswandels sehr eindringlich:
The country, it is true, has an almost uniquely robust and combative political culture. It is said that Boris Johnson is a “liberal conservative” and that he is not to be taken literally, yet similar things were claimed of the US and Donald Trump. And the British system is especially amenable to strongman leadership: its government is highly centralised, its second chamber and local government are feeble and its prime minister can wield vast executive power with a majority. [...] Already Johnson and those around him have started probing the limits of Britain’s liberal-democratic culture. The unlawful prorogation of parliament, the threat of political vetting of judges, and the subsequent electoral narrative of “people versus politicians” requiring rescue by a muscular father-of-the-nation type is straight out of the Visegrad playbook. Then came the calculated provocations during the campaign: the smirking evasion of rigorous broadcaster coverage and dog-whistle attacks on EU nationals who treat Britain as “their own”.
Auch Andrew Marr schlägt in diese Kerbe:
We should be prepared for a novel combination of harsh centralism in politics, combined with relatively expansionist and moderate policies elsewhere. Perhaps this is what “the people’s government” means.
So oder so, es wird ungemütlicher in Großbritannien. Anders als Cameron und May sieht sich Johnson nicht als Reinkarnation Thatchers. Das ist ihm vermutlich eine Nummer zu klein. Sein großes Vorbild ist Winston Churchill, als dessen Nachfolger er sich zu inszenieren sucht. Nun war Churchill nicht eben bekannt dafür, ein allzu progressiver Geselle zu sein; er war ein Kriegspremier, und so wurde er auch gesehen. Churchill war aber auch einer der wenigen Tories, die erkannten, dass es eine konservative Sozialpolitik braucht, um die Herrschaft der Tories zu untermauern - eine Erkenntnis, die auch an Boris Johnson nicht vorbeigegangen ist.

Vielleicht ist der Hüne mit dem wirren blonden Haarschopf der alten Bulldogge doch ähnlicher, als die hybrisgeladene Arroganz auf den ersten Blick vermuten lässt. Immerhin ein Lichtblick bleibt: Auf Churchill folgte das goldene Zeitalter der Sozialdemokratie in Großbritannien, mit großer Gleichheit und rapide steigendem Lebensstandard. Hoffen wir, dass Labour einen neuen Clement Attlee findet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.