Dienstag, 7. August 2018

Warum Freundschaften im Bamf schwieriger sind als auf dem Land, während Jeff Bezos im Einklang mit der Natur lebt - Vermischtes 07.08.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Deutsch-Rechts, Rechts-Deutsch
Das Internet! Was es uns alles gebracht hat: lachende Kothaufen-Emoji, ausdruckbare Waffen, Donald Trump. Aber auch Twitter, Facebook und andere soziale Medien, in denen auch Rechte, Rechtsextreme und Absurde intensiv kommunizieren. Das ist allerdings nicht immer zu verstehen, denn sie benutzen dabei Begriffe, deren wahre Bedeutung sich immer weiter von Sprache und Alltag der meisten Menschen entfernt. Abhilfe schafft hier ein Übersetzungsleitfaden: Deutsch-Rechts/Rechts -Deutsch, um zu begreifen, wer da wie und warum im Netz kommuniziert. (SpiegelOnline)
Dieses Wörterbuch von Sascha Lobo ist in der Tat ziemlich hilfreich, um den aktuellen Diskurs zu durchdringen. Viele der Buzzwords, die die neue Rechte verwendet, sind für Uneingeweihte tatsächlich schwer zu verstehen. Ich habe das auch immer wieder bei den Schülern beobachtet, die viele Anspielungen dieser Art - gerade George Soros - überhaupt nicht verstehen. Das dürfte ziemlich vielen so gehen und gehört glaube ich mit zu den Berufsgeheimnissen des politischen Erfolgs der Rechtsradikalen. Die Linken jedenfalls haben nie eine entsprechende Code-Sprache aufgestellt; deren abstruse Forderungen waren und sind immer BILD-Schlagzeilentauglich. Hat natürlich wenn man, wie dieses Blog, dem Linksradikalismus nicht gerade offen gegenübersteht auch seine Vorteile. ;)

2) How to make friends (according to science)

However vast our networks may be, our inner circle tends to be much smaller. The average American trusts only 10 to 20 people. Moreover, that number may be shrinking: From 1985 to 2004, the average number of confidants that people reported having decreased from three to two. This is both sad and consequential, because people who have strong social relationships tend to live longer than those who don’t. So what should you do if your social life is lacking? Here, too, the research is instructive. To begin with, don’t dismiss the humble acquaintance. Even interacting with people with whom one has weak social ties has a meaningful influence on well-being. Beyond that, building deeper friendships may be largely a matter of putting in time. A recent study out of the University of Kansas found that it takes about 50 hours of socializing to go from acquaintance to casual friend, an additional 40 hours to become a “real” friend, and a total of 200 hours to become a close friend. [...] The academic literature is clear: Longing for closeness and connection is pervasive. Which suggests that most of us are stumbling through the world pining for companionship that could be easily provided by the lonesome stumblers all around us. So set aside this article (after you’ve renewed your subscription and clicked every ad on the website, of course), turn to someone nearby, and try to make a friend. You both could probably use one. (The Atlantic)
Freundschaftspflege im Erwachsenenalter ist ziemlich schwer. Praktisch unmöglich ist es, als über Dreißigjähriger neue Freunde zu finden. Das gilt potenziert, wenn man Familie hat. Wie viele Pärchen ich kenne, die es praktisch unmöglich finden, ein eigenständiges Sozialleben aufrechtzuerhalten, das sich nicht um die Kinder und/oder das Paar als Gesamtheit dreht, ist unglaublich. Aber auch "die Arbeit" (immer mit bedeutungsschwangerem Seufzer aussprechen) steht ja oftmals im Wege, und ein Feierabendbier mit Kollegen ist halt nicht dasselbe wie Freundschaft. An der Stelle könnte man wahrscheinlich in irgendeine längere Bestandsaufnahme übergehen, wie die moderne Welt so schrecklich sprachlos und vereinsamt ist. Damit kann man eine Karriere als Kolumnist bei Zeit oder FAZ starten, und wenn man literarische Fähigkeiten hat ein gefeierter Romanautor mit Gegenwartsbezug werden. Ich begnüge mich damit festzustellen, dass es sehr schwer ist, die vielen verschiedenen Anforderungen von Kind, Beruf, Ehepartner und Freunden unter einen Hut zu bekommen und dass in dieser Vierergruppe die Freunde zwangsläufig immer diejenigen sind, die als erste kürzer treten müssen. Ich wäre ziemlich an Lösungsmöglichkeiten und Hilfen interessiert und weniger an Kulturpessimismus. Vielleicht weiß ja jemand in den Kommentaren Hilfreiches beizusteuern?

3) The maps that show that country vs. city is not our political fault-line
Sectionalism isn’t, and never has been, as simple as North versus South or an effete and domineering East against a rugged, freedom-minded West. Rather, our true regional fissures can be traced back to the contrasting ideals of the distinct European colonial cultures that first took root on the eastern and southern rims of what is now the United States, and then spread across much of the continent in mutually exclusive settlement bands, laying down the institutions, symbols and cultural norms later arrivals would encounter and, by and large, assimilate into. Understanding this is essential to comprehending our political reality or developing strategies to change it — especially as we approach a momentously consequential midterm election. [...] Look at county-level maps of almost any closely contested presidential race in our history, and you see much the same fault lines: the swaths of the country first colonized by the early Puritans and their descendants — Yankeedom — tend to vote as one, and against the party in favor in the sections first colonized by the culture laid down by the Barbados slave lords who founded Charleston, S.C., or the Scots-Irish frontiersmen who swept down the Appalachian highlands and on into the Hill Country of Texas, Oklahoma and the southern tiers of Ohio, Indiana, Illinois and Missouri. [...] The cultural differences between these regional cultures have a greater effect on our politics than the size and density of our communities. I ran the numbers for the past three presidential elections, comparing the voting behaviors of rural and urban counties within each “nation.” In five regional cultures that together constitute about 51 percent of the United States population, rural and urban counties voted for the same presidential candidate, be it the “blue wave” election of 2008, the Trumpist upheaval of 2016 or the more ambiguous contest in between. (New York Times)
Wir hatten im letzten Vermischten die große Diskussion angefangen, wie bedeutsam der Stadt-Land-Gegensatz wirklich ist. Dieser Artikel zeigt deutlich, dass das auch innerhalb der Community der Sozialwissenschaftler sehr umstritten ist. Ich denke, die Wahrheit liegt wie so oft irgendwo in der Mitte. Die Städte sind (im Schnitt) progressiver als das Land, weil sich hier so viele Menschen ballen und sich ballende Menschen eher Motoren für Innovationen und neue Lebensentwürfe sind (schon alleine weil Menschenballungen Anonymität mit sich bringen und die alternativen Lebensmodellen hilft), während auf dem Land jeder jeden kennt und man das schon immer so gemacht hat. Aber das sind natürlich grobe Verallgemeinerungen. Der Artikel oben hat daher Recht insofern, als dass die regionale Spaltung mehr Bedeutung für die Politik und Gesellschaft hat als der Stadt-Land-Gegensatz. Ist ja auch in Deutschland so: Ob jemand in Stuttgart oder auf der Schwäbischen Alp wohnt macht für seine Wahrscheinlichkeit, AfD zu wählen, nicht so viel aus wie Stuttgart oder Dresden, obgleich Dresden (im Schnitt) progressiver ist als die Ränder der Sächsischen Schweiz. Man muss sich halt immer klar machen, dass man von Durchschnitten redet und wissen, was man will. Je nachdem ist die (unbestritten existierende) Stadt-Land-Spaltung oder die (ebenso unbestrittene) regionale Spaltung als Analysekategorie relevanter.

4) Der angebliche Bamf-Skandal - Ein Zwischenstand
Als Nachrichtenredakteur lässt mich das Thema mit einem schlechten Gefühl zurück. Ich gebe gerne zu, dass wir uns bei der Ursprungsrecherche angesichts der Quelle (SZ, NDR, Radio Bremen) sicherer gefühlt haben, als dies bei dem einen oder anderen Medium der Fall gewesen wäre. Lesenswert ist ein Beitrag auf dem Portal "übermedien". Dort kann man einerseits lesen, wie der Regensburger Strafrechtler Henning Ernst Müller dem Rechercheverbund fahrlässiges Verhalten vorwirft, gar "Rufmord". Andererseits findet sich dort auch eine Antwort der Journalisten. Alles deutet darauf hin, dass es den von vielen vermuteten "großen Skandal von Bremen" nicht gegeben hat. Dies wird inzwischen auch öffentlich nicht mehr behauptet. Die Folgen sind aber immens gewesen, für einzelne Betroffene, aber genauso für die gesellschaftliche Debatte. Sie sind es immer noch. Der Fokus liegt inzwischen auf der allgemeinen Überforderung einer Behörde, die mit zumindest anfangs unzureichenden Mitteln eine Herkulesaufgabe bewältigen sollte. Nachrichtenredakteure sind im Beruf grundsätzlich skeptisch und vorsichtig. So haben wir auch die Recherche zu Bremen mit all den Konjunktiven versehen, die geboten waren. Wir wären aber nicht in der Lage gewesen, alles gegen zu recherchieren. Wie sollte das gehen bei komplexen Themen wie BAMF/Bremen, Panama Papers, Russland und die US-Wahl 2016 etc.? Ein Thema zu ignorieren, bis alles geklärt ist, das ist aber auch oft keine Option. Sicher, Beschuldigungen gegen Menschen, für die wir keine Anhaltspunkte sehen, die verbreiten wir nicht. Aber "Bremen" war anders. Denn es gab und gibt ja in der Tat viele Unstimmigkeiten im BAMF-System, die von allgemeinem Interesse und allgemeiner Bedeutung sind. (Deutschlandfunk)
Viel Lärm um Nichts. Genauso wie der nicht totzukriegende Unfug vom angeblichen Rechtsbruch Merkels geistert das BAMF munter durch die verschwörungstheoriegesättigte Flüchtlingsdebatte. Es wäre zu hoffen, dass die Tatsache, dass beim Bremer BAMF nun offensichtlich doch nichts herausgekommen ist, ähnlich wie beim obigen Beispiel im Deutschlandfunk auch bei anderen Organen zu einer Introspektive und Entschuldigung führt. Ich finde allerdings auch - und habe es deswegen zitiert - dass der Deutschlandfunk absolut Recht damit hat zu sagen, dass weder selbst nachrecherchieren noch ignorieren in irgendeiner Art und Weise Optionen waren, und ich habe das ja in einem früheren Vermischten schon einmal thematisiert. Es ist wichtig, dass wir trotz aller berechtigten Kritik am Rechercheverbund nicht den Fehler machen, mit dem "Fake News"-Knüppel einmal quer über die Medien drüber zu ziehen, sonst können wir ja gleich zu den NachDenkSeiten wechseln. Würde man das tun, beziehungsweise wäre ein neues Grundmisstrauen die Konsequenz aus dem BAMF-Skandal-Skandal, dann würden die Radikalen gewinnen - denn was die wollen ist ja gerade, dass man den Medien grundsätzlich misstraut. Schwierig, das alles.

5) Kein Sommermärchen
Heute ist alles anders geworden. Weil es keine naturwissenschaftliche Bildung mehr gibt, ist Aberglaube akzeptierter Mainstream geworden in einer globulisierten Gesellschaft. Menschen bilden sich ein, wetterfühlig zu sein, wollen nicht mehr impfen, Versicherungen bezahlen nachweislich Dinge, die nicht funktionieren, wie Homöopathie und Hagelflieger, weil auch bildungsferne Abergläubische Prämien zahlen und nicht traurig gemacht werden dürfen. [...] So wird die Angst vor der AfD und the poorly educated (ein Konglomerat mit erheblicher Schnittmenge) das Regieren in ökologischen Dingen und zur Prävention von Klimawandelfolgen weitgehend lähmen, obwohl einfache und inhaltlich wirksame Maßnahmen einfach umzusetzen wären. [...] Es wäre ein Signal an die Welt, dass Deutschland zum ersten Mal irgendwas tut, was es permanent von anderen Ländern verlangt: "dass es weh tut". Viele Abgase weniger, viele Leben gerettet. Wer auf einer deutschen Autobahn fährt, erlebt nach kurzer Zeit so viele Straftatbestände von Nötigung und Schlimmerem, dass ein de facto rechtsfreier Raum einem Staat nicht egal sein dürfte. Es herrscht Anarchie, und diese Anarchie endet für viele Menschen tödlich. [...] Um all das in den Griff zu bekommen, müsste man Menschen wieder die Wahrheit sagen. Über Ventilatoren. Klimaanlagen. Hagelflieger. Homöopathie. Holzöfen. Es hat langfristig keiner Demokratie geholfen, wenn sie qua Nonchalance und Abwesenheit von Bildung allen Schwachsinn ermöglicht hat, der als Aberglaube inzwischen auch die Medien erfasst hat und von dem die Extremen profitieren. (T-Online)
Jörg Kachelmann malt mit breitem Pinsel, aber mein Gott, was für ein Rant! Ich habe den langen Artikel hier nur ausschnittsweise zitiert, aber grundsätzlich hat der Mann mehr als Recht. Was für eine Menge völlig hanebüchenen - und schädlichen! - Schwachsinns hierzulande geglaubt wird, spottet jeder Beschreibung. Mein persönliches Hassobjekt sind da die Impfgegner, denn die schaden nicht nur sich selbst, sondern auch noch ihren Kindern und allen anderen. Ich weiß allerdings nicht, ob das Problem die "naturwissenschaftliche Bildung" ist. Ich bin immer sehr skeptisch gegenüber "Die Menschen heute wissen X nicht mehr"-Erklärungen, weil sich bei tiefergehender Forschung herausstellt, dass sie es auch früher nicht wussten. Ich finde da die psychologischen Erklärungsansätze wesentlich fruchtbarer, vor allem die Ankerheuristik. Warum schließlich gehen Leute ihre Kinder impfen (oder nicht)? Letztlich läuft es drauf raus, dass wir glauben, was als allgemeiner Konsens läuft, oder halt nicht. Ist auch eine Frage der Anerkennung von Autoritäten, vor allem Experten. Was Kachelmann hier beklagt ist eher der "Death of Expertise". Die Akzeptanz jeglicher Bildung ist eine Akzeptanz der Lehrer - ob das die Unterscheidung von Dürre und Hitze, die Gefahren des Impfens oder der Kriegsursachen 1939 sind. Und das Milieu derer, die Experten nicht vertrauen und stattdessen obskuren Mist glauben, fällt sowohl ins Spektrum der AfD als auch der Grünen.

 6) "Im Einklang mit der Natur" ist eine Täuschung
Es gibt Leute, die haben sich für diesen Blickwinkel ein Schimpfwort ausgedacht, es heißt "anthropozentrisch". Wer das Schicksal der Menschheit über das Schicksal der übrigen Natur stellt, finden Fans dieses Begriffs, ist irgendwie ein schlechter Mensch. Ich persönlich bekenne mich zu meinem Anthropozentrismus. Verstehen Sie mich nicht falsch: Artenschutz ist wichtig, und ich wäre der Erste, der sich freuen würde, wenn es noch Riesenwombats und Beutellöwen gäbe. Wir müssen dringend damit aufhören, die Lebensräume weiterer Tierarten zu zerstören, die Ozeane leer zu fischen und mit Plastik zu vermüllen. Aus Liebe zur Natur, aber vor allem aus Liebe zu uns selbst, denn eine monokulturelle Welt mit gigantischen landwirtschaftlichen Flächen, auf der es außer uns nur noch Kühe, Schweine, Hühner und Zuchtlachse gibt, erscheint mir alles andere als lebenswert. Trotzdem müssen wir eine Lösung für die Aufgabe finden, zehn Milliarden Menschen vor dem Verhungern zu bewahren. Übrigens: Die beste Methode, das Bevölkerungswachstum einzudämmen, ist die Bekämpfung von Kindersterblichkeit. Klingt paradox, stimmt aber. Siehe Europa. (SpiegelOnline)
"Im Einklang mit der Natur" ist auf der Bullshit-Skala nur kurz unter dem weit verbreiteten Kulturpessismismus und allem, was irgendwie "die Jugend von heute" in der Syntax hat. Diese Romantik ohne jeden Bezug zur Realität ist auch einer der größten Faktoren, die zwischen mir und den Grünen stehen (genauso wie die Impfgegnerschaft und was der Prenzlauer Berg sonst noch an Unsinn ausheckt). Gleichzeitig ist Stöckers Argument hier mehr als wichtig: Nur weil man sich zu den Realitäten des Anthropozens bekennt heißt das nicht, eine "alles egal"-Einstellung an den Tag zu legen. Anstatt auf eine mystische Rückkehr zur Natur zu hoffen, die ohnehin immer Stückwerk bleiben muss, ist es an der gesamten Menschheit, endlich systemischer zu denken und aufzuhören sich den Ast abzusägen, auf dem man sitzt.

7) Die Multis müssen mehr Steuern zahlen
Ökonom, der sich als einer der Wenigen mit diesem Thema beschäftigt, ist der Franzose Gabriel Zucman, zur Zeit Professor an der University of California in Berkeley. Er hat soeben mit seinem Co-Autor Thomas Wright von der britischen Treasury einen Aufsatz vorgelegt („The Exorbitant Tax Privilege“), in dem er der Frage nachgeht, warum die USA, der größte Nettoschuldner der Welt, ein deutlich positives Nettovermögenseinkommen aus dem Ausland beziehen. Wie kann das sein? Die Gewinnverlagerung in Steueroasen sei der eine Grund, die außerordentlich hohen Erträge der Ölfirmen aus ihren Aktivitäten im Nahen Osten der andere – das amerikanische Militär gewährt den dortigen Autokraten und Diktatoren Schutz, und die Firmen werden dafür auf die großzügigste Weise mit einer geringen Steuerbelastung entlohnt. (Die Zeit)
Die niedrigen Steuerraten für multinationale Konzernriesen, während kleinere Unternehmen, denen die ganzen Steuer"spar"konstrukte nicht zur Verfügung stehen alles mitbezahlen müssen, ist ein Dauer-policy-Problem, dessen potenzielle Lösung seit Ewigkeiten bekannt ist und die dadurch nicht leichter wird. An und für sich braucht es "nur" eine internationale Kooperation in Steuerfragen der wichtigsten Industrieländer, und das wäre dicht. Nur kriegen die sich niemals dazu aufgerafft, gemeinsam vorzugehen, weil wesentlich zu viele Partikularinteressen erfolgreich dagegen vorgehen. Das ist der ewige Fluch der Außenpolitik; die EU kann davon ja auch ein Liedchen singen, gerade in der Flüchtlingspolitik. Die Steuerflucht der großen Player ist aber nicht nur wegen der entgehenden Einnahmen etwas, das eigentlich dringend angegangen werden müsste. Sie erreichen dadurch auch einen Einfluss, den sie als nicht demokratisch gewählte Institutionen nicht haben sollten, sie verzerren marktwirtschaftliche Mechanismen und entziehen sich letztlich dem Wettbewerb, weil sie von den Staaten Vorteile erpressen die (potenziellen) Mitbewerbern nicht zur Verfügung stehen und so weiter und so fort. Besonders der letztgenannte Aspekt spielt auch im Vermischten 8) eine Rolle.

8) Jeff Bezos' fortune is a failure of policy
He has gotten $50 billion richer in less than a year. He needs to spend roughly $28 million a day just to keep from accumulating more wealth. This is a credit to Bezos’s ingenuity and his business acumen. Amazon is a marvel that has changed everything from how we read, to how we shop, to how we structure our neighborhoods, to how our postal system works. But his fortune is also a policy failure, an indictment of a tax and transfer system and a business and regulatory environment designed to supercharging the earnings of and encouraging wealth accumulation among the few. Bezos did not just make his $150 billion. In some ways, we gave it to him, perhaps to the detriment of all of us. [...] Moreover, Amazon itself paid no federal corporate income taxes last year, despite making billions of dollars in profits. It has fought tooth-and-nail against state and local taxes, and has successfully cajoled cities into promising it billions and billions and billions in write-offs and investment incentives in exchange for placing jobs there. (Given that Bezos is a major Amazon shareholder, such tax-dodging redounds directly to his benefit.) Or consider the country’s low minimum wage, a policy that again benefits corporations at the expense of workers. Amazon’s starting wage is about $5-an-hour below the country’s national living wage, and its median full-time wage is a full dollar below it as well: The company is profitable and has money to invest in operations and expansions because its labor force is so cheap. Of course, it is not cheap for the taxpayer, which ameliorates the effects of poverty wages with policies like the Earned Income Tax Credit, Medicaid, and the Supplemental Nutrition Assistance Program. One in three Amazon employees in the state of Arizona is reportedly on food stamps. (The Atlantic)
Das ist die wahre Ungeheuerlichkeit hinter den bereits in 7) angesprochenen Steuerflüchtlingen: Nicht nur berauben sie die Gemeinschaft um Abgaben, die dieser eigentlich zustehen und mästen sich selbst daran, sie lassen die Gemeinschaft auch noch doppelt bezahlen. Es ist absolut relevant, wie das der (sehr lange und unbedingt lesenswerte) Artikel im Atlantic tut, die Problematik als policy-Versagen zu bewerten und nicht als ein moralisches Problem.
Das ist das eine Feld, auf dem ich persönlich das Hypermoralisieren satt habe: dass jedes Mal, wenn solche schmutzigen Geschäftspraktiken bekannt werden, das als moralisches Versagen des jeweiligen Unternehmers begriffen wird. Es ist aber ein systemisches Probmem. Dass Jeff Bezos so viel Geld wie möglich verdient, auf Kosten von Gesellschaft, Kunden, Arbeitnehmern und Geschäftspartnern ist im System so angelegt. Moral spielt nur insofern eine Rolle, als dass die meisten Menschen nicht in der Lage sind, sich so asozial zu verhalten, aber das ist einer der Gründe, warum es nicht so viele Menschen wie Bezos gibt (oder die Gebrüder Albrecht, oder oder).
Wer glaubt, hier mit Forderungen, doch bitte ein bisschen netter zu sein irgendetwas erreichen zu können, hat elementare Wirkungsmechanismen der Marktwirtschaft nicht verstanden. Das trifft ironischerweise links wie rechts. Denn auch Liberalen und Konservativen wird ja zurecht mulmig, wenn solche riesigen Player den Markt dominieren, aber sie kommen meist nicht darüber hinaus die Hände zu wringen und irgendwie auf ein Einsehen werteorientierteres Verhalten bei den Unternehmern zu hoffen, also zu moralisieren. Und auf der Linken macht man meist dasselbe, nur zorniger.
Aber dadurch dass es ein systemisches Problem ist, oder wie der Atlantic das fasst, ein policy-Versagen, kann man da auch mit policy ran. Von stärkerer Durchsetzung der Wettbewerbsüberwachung (Amazon zerschlagen), eine vernünftige Mindestlohngesetzgebung (hoch genug dass ein Empfänger nicht auf Essensmarken angewiesen ist), eine Einhegung des Erpressens von Steuervorteilen, höhere Steuern auf Spitzeneinkommen, Aktiengewinne etc. und und und - die Liste ist endlos. Es gibt auch eine Reihe von Maßnahmen, hinter denen sich Konservative und Liberale versammeln könnten, denn eine Marktmacht wie die Amazons oder Googles oder Facebooks kann auch nicht in deren Interesse sein. Stattdessen moralisieren sie. Das aber ist billig.

Die Deutschen erzählen sich gerne Geschichten, zum Beispiel: Es gibt kein Rassismusproblem. Integration ist keine Einbahnstraße. Oder: Es können nicht alle kommen. Statt zu würdigen, wer dieses Land mitaufgebaut hat, mitaufbaut und prägt, setzt sich solche Folklore durch. [...] 1979 legte der erste "Ausländerbeauftragte" Heinz Kühn zwar sein Memorandum vor, wo Begriffe wie "Integration" auftauchten und in dem er Deutschland als "Einwanderungsland" bezeichnete. Aber es wurde weitgehend ignoriert. Stattdessen machte Helmut Kohl später die "Ausländerfrage" zu einem der vier wichtigsten Punkte in seinem Dringlichkeitsprogramm und wollte die Zahl "der Türken um 50 Prozent reduzieren". Sein damaliger Innenminister Friedrich Zimmermann sagte in der Rede vor dem Bundestag am 1. Mai 1983: "Ein konfliktfreies Zusammenleben wird nur möglich sein, wenn die Zahl der Ausländer bei uns begrenzt und langfristig vermindert wird, was vor allem die großen Volksgruppen betrifft." Diese Sätze klingen immer noch aktuell - tatsächlich sind wir heute kein Stück weiter, sind die abwertenden Erzählungen immer noch dieselben, wenn zum Beispiel der heutige Bundesinnenminister Horst Seehofer sagt: "Nein. Der Islam gehört nicht zu Deutschland", oder in der Präambel seines Masterplan Integration schreibt: "Erfolgreiche Integration kann nur gelingen mit einer Begrenzung der Zuwanderung." Die Frage in Deutschland ist damals wie heute: Was bringt uns Migration? (SpiegelOnline)
Ich sag immer wieder, die Wurzel allen Übels liegt im Endeffekt 1979. Das Memorandum von Heinz Kühn kann man heute noch genauso veröffentlichen; die Problembeschreibungen sind so aktuell wie eh und je, und es passsiert nichts. Stattdessen wird davon schwadroniert, dass die Leute irgendwie weg müssen. Die Kohl-Regierung hat 16 Jahre lang einfach den Kopf in den Sand gesteckt und so getan, als würde das Problem von alleine weggehen, wenn man die Leute nur genug diskriminiert. Wenig erstaunlich hat das nicht funktioniert. Rot-Grün hat versucht, hier einen neuen Punkt zu setzen - geändertes Staatsbürgerschaftsrecht, das viel gescholtene "Multikulti" und so weiter - aber hatte insgesamt zu wenig Zeit und eine zu geringe Prioritätensetzung dafür. Es ist aus dieser historischen Perspektive grimmig lustig zu hören, wie von rechts plötzlich die Gastarbeiter als positive Beispiele gegenüber den Flüchtlingen heute aufgestellt werden. Es ist wirklich jede Generation dasselbe. Immer die aktuelle Einwanderergeneration wird als Untergang des Abendlandes dargestellt, und bei der letzten den Untergang des Abendlandes bringenden Einwanderergeneration erkennt man plötzlich, wie toll diese im Vergleich doch integriert sind und klopft sich auf die Schulter, weil man damit auch gleich sich selbst von jeder Verantwortung löst. Damals ging es ja auch! Und Rassismus gibt es in Deutschland nicht, damals nicht und heute nicht. Die zirkuläre Natur dieses Unfugs ist ungeheuer ätzend. Und in 30 Jahren kommentieren sie hier im Blog dann wie toll die Syrer integriert sind, im Gegensatz zu den Flüchtlingen vom Mars wegen dieses Asteroideneinschlags dort, als ob wir was dafür könnten. Fluchtursachen bekämpfen und die Marsianer zurückschicken, die können sich hier eh nicht integrieren, ganz anders als die Syrer damals...

10) AfD-Unterstützer sind nicht abgehängt, sondern ausländerfeindlich (PDF)
Dieser Artikel untersucht mit Daten des SOEP 2016 (n=24.339) das von Holger Lengfeld gefundene Ergebnis, wonach Unterstützung für die AfD nicht mit niedrigen Statuslagen zu erklären ist. Er zeigt, dass geringes Einkommen, Berufsprestige, Bildung und Arbeitslosigkeit AfD-Unterstützung genauso wenig erklären können, wie Unzufriedenheit mit dem eigenen Einkommen oder der allgemeinen Wohlstandsentwicklung. Daraufhin erweitert der Artikel Lengfelds Analyse, indem er zeigt, dass sich AfD-Wähler in Bezug auf sehr wenige Einstellungen von sonstigen Deutschen unterscheiden. Sie sind jedoch unzufrieden mit der Demokratie und machen sich stärkere Sorgen um Kriminalität und den sozialen Zusammenhalt, denn sie meinen, dass Flüchtlinge Deutschlands Kultur untergraben und Zuwanderung generell Anlass zur Sorge bereitet. AFD-Unterstützer kommen somit aus allen gesellschaftlichen Schichten und Milieus und unterscheiden sich fast ausschließlich durch ihre Einstellungen zu Flüchtlingen und Zuwanderung. (DIW Berlin)
Falls es mal jemand Schwarz auf Weiß braucht: Die AfD lebt nicht von einer Abneigung gegen "die Eliten", nicht von einer Anti-EU-Haltung, nicht vom wirtschaftlichen Gegensatz von Ost und West. Sie lebt praktisch ausschließlich von der Ausländerfeindlichkeit. Das heißt nicht, dass die anderen Faktoren keine Rolle spielen. Aber sie sind deutlich untergeordnet. Ich empfehle die verlinkte Studie zur Lektüre, da wird das Ganze ausführlicher mit Zahlen untermauert.

11) Facing deportation, US Marine's wife leaves for Mexico
The 16-year-old American daughter of a U.S. Marine held back tears as long as she could Friday before her family was split in two. Her mother, Alejandra Juarez, was finally leaving for Mexico, rather than be sent off in handcuffs, after exhausting all options to stop her deportation. "My mom is a good person. She's not a criminal," Pamela said, cursing at the immigration agency before her mother checked in for her flight from Orlando International Airport. Alejandra and Temo Juarez, a naturalized citizen who runs a roofing business, quietly raised Pamela and their 9-year-old daughter, Estela, in the central Florida town of Davenport until a 2013 traffic stop exposed her legal status. [...] Afterward, she regularly checked in with U.S. Immigration and Customs officials, which typically went after higher-priority targets like people with criminal records. Temo didn't figure his vote for President Donald Trump would affect them personally. That was before the enforcement of Trump's "zero tolerance" policy toward illegal immigration. Now, the Juarez family will be divided in two: Estela will join her mother in Mexico after she gets settled, while Temo cares for Pamela and pays the bills. (Miami Herald)
Bei Geschichten wie dieser erlebt man ein Wechselbad der Gefühle, von Mitleid über Zorn. Das läuft in das Argument, das ich wieder und wieder bringe: Wählen hat Konsequenzen. Die Haltung dieses Marines ist so typisch für so viele Wähler von Rechtspopulisten durch die komplette Geschichte hindurch. Konsequenzen treffen immer nur die anderen. Wieso sollte Trump auch MEINE undokumentierte Ehefrau deportieren lassen? Die ist doch toll! Er soll bitte die ANDEREN undokumentierten Ehefrauen deportieren. Genau die gleiche Haltung haben GOP-Wähler. Kürzt die Sozialleistungen der Braunhäutigen, nicht meine! Und nachher wundern sie sich, dass eine Partei, die die Kürzungen von Sozialleistungen im Programm hat, die Sozialleistungen kürzt. Aber Wählen hat Folgen, nicht nur für andere. Dieser infantile Umgang mit dem Wahlrecht macht mich wahnsinnig. Einfach mal aus Protest und Bauchgefühl die Stimme raushauen, ohne einen Gedanken an die Folgen zu verschwenden. Es hat eine gewisse Schicksalshaftigkeit, wenn das auf die Art wieder rumkommt, aber freuen kann man sich über dieses Drama nicht. Das ist wie bei den AfD-Wählern, die ihrer ohnehin schon gebeutelten Region jede Zukunftschance zerschießen, weil die AfD-policies dafür sorgen, dass noch mehr Arbeitsplätze und Struktur wegbrechen. Konsequenzen.

12) Deutschland fehlt ein zeitgemäßes Konzept vom Deutschsein
Özil ist das beste Beispiel dafür. 1988 in Gelsenkirchen geboren worden zu sein genügt zwar, um einen deutschen Pass zu besitzen und in der Nationalmannschaft zu spielen. Doch es bewahrt einen nicht davor, auf alle Ewigkeit als "Deutschtürke" bezeichnet und als falscher Deutscher ausgepfiffen zu werden. So verdammenswert das Foto mit Recep Tayyip Erdoğan war - daran, dass in Özils Brust "zwei Herzen" schlagen, ist Deutschland mitschuldig. Am deutlichsten ist das an der verzweifelten Suche nach Begriffen zu erkennen, in die man die Einwanderung zu fassen versuchte. Erst wurden "Gastarbeiter" und "Fremdarbeiter" durch das weniger ausbeuterische klingende "Ausländer" abgelöst. Doch damit war die Einwanderung begrifflich genau dort angesiedelt, wo die Ressentiments gegen das Fremde sitzen. Alle Versuche, das Wort positiv zu drehen, mussten scheitern. [...] Die vorläufig letzte Etappe dieser Begriffsgeschichte markiert der "Mensch mit Migrationshintergrund", der sich als vermeintlich nicht-diskriminierender Ersatz für das juristisch weiterhin verwendete "Ausländer" durchgesetzt hat. Doch auch hier gibt es einen Haken. Zum einen verschattet und problematisiert der Begriff jede Form der Einwanderung, auch die des für drei Jahre in Deutschland arbeitenden Microsoft-Managers, durch die tristen Bilder von Flucht und Entbehrung, die er aufruft. Zum anderen verzerrt er die Statistiken, weil er alle zu "Migranten" erklärt, die nur einen nicht-deutschen Elternteil haben. (SZ)
Auch ein Argument, das ich mittlerweile mehrfach angebracht habe. Es ist der seit Jahrzehnten nicht erbrachte Teil der Deutschen selbst zur Integrationsaufgabe, diese Definition, wann man denn ein Deutscher sei. Und währenddessen hängt die CSU Kreuze in die Behörden, um deutlich zu machen, dass die absolute Mehrheit der Deutschen mit Migrationshintergrund in ihren Augen nie, niemals, nie integriert sein wird, egal, was sie auch tun. Die Begrifflichkeitsproblematik allein macht einen kirre. Ich tanze beim Schreiben über dieses Thema auch immer um die Begriffe herum. "Ausländer" ist falsch, ein großer Teil der Leute hat ja einen deutschen Pass. "Deutschtürken" definiert auch schon wieder nach einer Herkunft, die die meisten ja so gar nicht wirklich haben. "Menschen mit Migrationshintergrund" wirft ein extrem weites Netz und definiert sie bis in die x-te Generation nach einer Herkunft, die sie vielleicht gar nicht interessiert. Auf der anderen Seite finden sich dann so behämmerte Konstruktionen wie "Bio-Deutsche", um deutlich zu machen dass man weiße und christliche Vorfahren hat und "deutscher" ist als Deutsche mit brauner Hautfarbe. Und so weiter. Diese Sprachlosigkeit alleine zeigt deutlich, wo wir ein Problem haben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.