Mittwoch, 30. Dezember 2009

Der Nebel des Krieges

Der "Nebel des Krieges", für die die den Begriff nicht aus zahllosen Echtzeitstrategiespielen am PC kennen, bezeichnet das Gebiet von dem man zwar weiß, aber in das man nicht sehen kann und innerhalb dessen Geschehnisse nicht nachvollzogen werden können - feindliche Truppenbewegungen etwa. Keine Bange, ich werde nicht zum Militärblog. Die Metapher ist nur der Aufhänger für eine kurze Betrachtung der Außenpolitik und außenpolitischer Implikationen.
Ich habe oftmals das Gefühl, dass die meisten Menschen sich nicht wirklich bewusst machen, wie komplex Gesellschaften und politische Systeme wirklich sind. Ich muss zugeben, früher habe ich mir das auch selten bewusst gemacht. Man denkt gerne in Schemata, und solche werden einem in den Medien zuhauf angeboten: "der Westen", "der Osten", "die Taliban", "China" oder "die islamistischen Staaten" sind nur einige der Metaphern, die wir ständig hören. Dabei dürfte uns aus eigener Erfahrung klar sein, wie unzureichend diese Kategorisierungen sind: "Deutschland" wie es im Ausland gesehen bzw. wahrgenommen wird dürfte ein gänzlich anderes sein als unser Heimatland in unserer eigenen Perzeption. Das führt dazu, dass wir extreme Vereinfachtungen hinnehmen. So werden alle Afghanen, die der Truppenpräsenz der NATO militant-feindlich gegenüberstehen, unter "Taliban" subsumiert - eine absurde Behauptung, wie jedem klar wird der sich ein klein wenig mit Aghanistan beschäftigt (und mehr Kenntnisse als "ein klein wenig" habe ich tatsächlich nicht). Es gibt dort zahllose seit Jahrzehnten miteinander verfeindete Stämme, die die Region - von einem Land sollte man eigentlich gar nicht sprechen - viel länger prägen als es überhaupt Taliban gibt, die von vielen dort lebenden Menschen genausowenig geliebt werden wie die NATO. Worauf will ich hinaus? Wir - das heißt alle Menschen in Deutschland jenseits der Fachleute - haben extrem vereinfachte Vorstellungen von anderen Ländern. Im Prinzip ist das kein Problem, weil niemand die Zeit hat sich so tiefgehend mit ihnen zu beschäftigen, dass er sie tatsächlich verstehen würde. Es wird aber zum Problem, wenn anhand dieser extrem einfachen Vorstellungen Meinungen gebildet und sogar Politik gemacht wird. Ich will dies an drei Beispielen verdeutlichen, Iran, den USA und Afghanistan.

1) Iran
Iran, oftmals fälschlicherweise mit einem Artikel versehen ("der Iran"), ist seit 1979 für die USA und ihre Verbündeten ein Territorium non grata. Was jeder zu wissen glaubt ist, dass dort wilde Islamisten unter dem gänzlich unzurechnungsfähigen Ahjmadinedschad die Bevölkerung unterdrücken, Frauen im Besonderen, und allgemein den zivilisatorischen Stand des Mittelalters gerade so erreichen. Derzeit ist Iran viel in den Schlagzeilen, weil die dortigen Proteste es auf die Titelseiten schaffen. Das ist ein vollständig nachvollziehbarer, aber eigentlich sonderbarer Vorgang.
Wir haben einen souveränen Staat mit einer demokratisch legitimierten Regierung (sicher nicht nach den demokratischen Standards, die wir gerne an unsere Feinde anlegen, aber sicherlich nach denen, nach denen wir uns selbst und unsere Freunde messen - ich sage nur Afghanistan), der entgegen bestehenden Verträgen (Atomwaffensperrvertrag) eigentlich völkerrechtswidrig mit Sanktionen belegt und international isoliert wird. In dem Land gibt es eine minoritäre Opposition, die von uns als freundlich betrachtet wird und derzeit Proteste ausübt, die regelmäßig in Gewalt enden - warum wissen wir, wenn wir ehrlich sind, nicht, denn in den Medien erfahren wir es nicht. Wir nehmen an, dass die repressive Staatsgewalt dafür verantwortlich ist.
Ich bin kein Freund Irans. Als genereller Religionsgegner kann ich das gar nicht sein, und ich finde die Politik des Landes gelinde gesagt fragwürdig. Es ist aber auffällig, wie es hierzulande rezipiert wird. Die Opposition hat automatisch Recht. Wir unterstützen sie und assoziieren sie als die "good guys", während die Regierung die "bad guys" sind. Diese Gut-Böse-Schematisierung findet sich übrigens ständig, wenn es ums Ausland geht; sie wird uns in den USA und Afghanistan wieder begegnen.
Der Nebel des Krieges, mit dem ich den Beitrag begann, betrifft im aktuellen Fall diese Opposition. Wir wissen verhältnismäßig viel über die Regierung Irans (die übrigens in den Nachrichten, selbst in seriösem Umfeld, penetrant "das Regime" genannt wird), etwa dass sie nach Nukleartechnologie strebt - wobei wir ein Verlangen nach der Atombombe unterstellen, das nicht von der Hand zu weisen ist -, dass es relativ repressiv gegen seine Gegner vorgeht und von unserem Menschenrechtsverständnis nicht allzuviel hält. Wir wissen, dass Irans Regierung Israel gegenüber feindlich eingestellt ist und versucht, zur beherrschenden Vormacht des Mittleren Ostens zu werden, dass sie die Hisbollah unterstützt hat und im Bündnis mit China und Venezuela ist. Über die Opposition wissen wir - nichts. Mit Ausnahme der Tatsache, dass sie gegen die Regierung sind. Welche Ziele sie verfolgen hört man in den Medien praktisch nicht. Nach der Berichterstattung, die sich häufig in der Tatsache erschöpft, dass es wieder zu Gewalt kam, könnte die Opposition genausogut noch radikaler als die Regierung sein. Welche Ziele sie verfolgt, welche Ansichten sie hat, ob "die Opposition" überhaupt als monolithischer Block zu begreifen ist (wa sich bezweifle) - all das wissen wir eigentlich nicht. Wir wissen aber, dass die Opposition "die Guten" sind. Effektiv bewegt sie sich aber vollständig unter dem Radar.

2) Die USA
Den Vereinigten Staaten von Amerika sind die Deutschen in Hassliebe verbunden. Einerseits bewundern wir sie, andererseits verachten wir sie auch gerne und nutzen sie, um selbst in einem besseren Licht zu erscheinen (Stichworte angeblicher Bildungsgrad des US-Durchschnittsbürgers,, Sozialstandards). Kenntnis über die USA ist aber nicht weit verbreitet. Die meisten Menschen sind bitter enttäuscht, dass Obama doch nicht der Heiland ist, als der er unreflektiert herbeigeschrieben wurde. Mich überrascht das keine Sekunde, denn wer sich einmal mit dem politischen System der USA beschäftigt hat müsste um den ausgeprägten Föderalismus der USA und ihre Checks&Balances wissen. Das ist jedoch nicht der Fall.
Auch bei den USA haben wir good guys und bad guys. Die good guys sind die Demokraten, die bad guys die Republikaner. Die Demokraten erscheinen uns aufgrund ihrer größeren Europafreundlichkeit als good guys, sie scheinen für Frieden und Wohlstand und Weltoffenheit zu stehen, während die Republikaner rückwärtsdenkende, aggressive warmongers sind. Dabei vergessen wir gerne, dass Demokraten den Vietnamkrieg geführt haben, und dass es Bill Clinton war, der in den 1990er Jahren massiv auf Militärinterventionen gesetzt hat, und dass es Obama ist, unter dessen Präsidentschaft nun der größte Militärhaushalt in der US-Geschichte verabschiedet wurde. Auch gibt es praktisch kein Verständnis für die amerikanische Mentalität. Die meisten Menschen sehen die Amerikaner als Europäer, die nur auf der falschen Seite des Atlantiks wohnen. Nichts könnte falscher sein. Ich will im Rahmen dieses Posts nicht zu sehr ins Detail gehen, aber allein unsere regelmäßige Verwunderung über den missionarischen Eifer der Amerikaner, ihren Idealismus in Sachen Freiheit und Demokratie und ihre davon so offensichtlich abweichende Politik spricht Bände. Diese falsche Perzeption der USA und ihrer Intentionen führt immer wieder zu Unbehagen bei Europäern und mündet leicht in antiamerikanischen Vorurteilen.

3) Afghanistan
Der größte Fehler, der meines Erachtens nach beim Thema Afghanistan gemacht wird, ist das Land überhaupt als Staat im westfälischen Sinne zu betrachten. Wie so viele Länder dieser Welt sind die Grenzen Afghanistans ein Resultat der Kolonialvergangenheit, also ein Produkt fremder Mächte. In Afrika kann man zahllose Beispiele dafür finden, die alle nicht funktionieren. So auch Afghanistan. Nach allem, was ich weiß - ich habe bereits eingangs darauf hingewiesen, dass meine Kenntnisse reichlich lückenhaft sind und ich mache keinen Versuch das zu verbergen - handelt es sich bei "Afghanistan" um ein Gebiet, in dem mehrere verschiedene Stammesgruppen leben, die sich seit Jahrzehnten und Jahrhunderten mit Inbrunst befehden - beispielsweise die Paschtunen. Diese Stammesgruppen haben kein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Konstrukt "Afghanistan" und überschreiten dessen Grenzen auch beständig mit großer Selbstverständlichkeit, vor allem nach Pakistan, das historisch zu ihrem Siedlungsraum gehört. Sowohl die Sowjetunion in ihrer Zeit als auch die NATO heute macht den Fehler, Afghanistan als Staat anzusehen und als solcher mit dem Land zu interagieren. Man hat einen Präsidenten, man hat Institutionen, und man wundert sich dass Korruption wuchert und die Regierung außerhalb Kabuls kaum Macht hat.
Das verwundert aber angesichts der eingangs vorgestellten Prämissen eigentlich nicht. Afghanistan ist kein Staat in unserem Sinne und wird wahrscheinlich auch keiner werden. Wir leben generell in der Illusion, dass unser Modell die Spitze der zivilsatorischen Evolution ist und dass alle anderen Länder irgendwann einmal diesen Status eines "modernen" Staates erreichen werden. So wird unser System aber außerhalb Europas, Australiens und Nordamerikas nur selten gesehen. Hierzulande wird das dann sofort als böse abqualifiziert. Noch einmal: ich mag unser System, und ich würde nicht mit einem Afghanen oder Kongolesen tauschen wollen. Die Vorstellung aber, dass die Leute dort nur nicht in der Lage sind, unsere zivilisatorische Spitze zu erkennen und ihr nachzueifern, ist arrogant und wenig zielstrebend.

Wenn wir außenpolitisch Erfolg haben wollen, müssen wir uns also immer klar machen, mit was wir es eigentlich zu tun. Blind in fremde Länder zu stolpern und in diesen vor sich hin zu dilettieren, in der wilden Hoffnung allein unsere Anwesenheit würde die Bösen abschrecken und die arme, unterdrückte Bevölkerung aus ihrer Unmündigkeit befreien und zur alleinseligmachenden parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts führen ist eine Illusion, die in Irak und Afghanistan blutig und teuer scheitern und uns brutal in die Realität stoßen wird. Ob wir daraus Lehren für die Zukunft ziehen, darf allerdings getrost bezweifelt werden.

Montag, 28. Dezember 2009

Zitat des Tages

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat seiner Partei etwas versprochen, als er noch gar nicht SPD-Chef war: Die sozialdemokratische Basis solle stärker über sozialdemokratische Politik mitreden dürfen, sagte Gabriel in seiner Dresdner Parteitagsrede. Danach haben ihn die Delegierten vor einigen Wochen mit überraschend großer Mehrheit gewählt.

Diesem Versprechen lag das Urteil zugrunde, die SPD habe in den Jahren an der Regierung zu wenig diskutiert. Man kann durchaus auch zu der Auffassung kommen, dass die SPD noch regieren würde, wenn sie nicht so viel diskutiert hätte.
- Nico Fried, SZ
Äh...wat? Die SPD ging an einem zu VIEL an innerer Diskussion zugrunde? Haben wir uns da vielleicht irgendwie einen Freud'schen geleistet, Herr Fried? Ich glaube wenn die SPD ein Problem in der Vergangenheit NICHT hatte, dann waren das zu viele disparate Meinungen...


Freitag, 25. Dezember 2009

Zum Rentensystem

Neulich hat mich ein Leser angeschrieben (wofür ich immer sehr dankbar bin):
Hallo Stefan,
ich kommentiere ja manchmal in Deinem Blog, bin auch mit dem Meisten einverstanden, was du so sagst, halte deine Demographie- und Renten-Artikel aber offen gesagt zum Haare raufen.
Im Prinzip läuft das, was du sagst doch auf folgende Punkte heraus:
- die umlagefinanzierte Rente ist eben DOCH besser!
- der ganze Privatrentenkram ist Scharlatanerie.
Etwas plakativ, aber grundsätzlich dürfte das doch richtig wiedergegeben sein, oder etwa nicht? Ich möchte gerne vermeiden, hier in breitere Debatten über Bevölkerungspilze u.ä. einzusteigen, bitte dich aber einmal, deinen Gedanken weiterzuführen, und dir zu überlegen, warum gewisse Dinge zumindest sonderbar sind.
Angenommen, deine Überlegungen wären richtig. Dann würde aus ihnen ja auch eindeutig folgen, dass die Leute, die in private Renten investieren, am Ende allesamt zu den Verlierern gehören. Sie hätten ihr Geld besser mal in die gesetzliche Rente gesteckt, statt in private Renten mit höheren Verwaltungskosten u.ä. Das wäre die direkte Konsequenz aus der Aussage "die gesetzliche Rente ist doch besser". Wenn das aber so ist, warum sorgt die Klientelpartei FDP bei ihrer ureigensten Klientel, den Selbstständigen, nicht dafür, dass diese alle in die gesetzliche Rentenversicherung kommen?
Verstehst du meinen Punkt? Es kann nur eines richtig sein. Entweder, du hast Recht. Dann ist die FDP gerade dabei, ihre eigene, verdammt große und relevante Klientel der Selbstständigen komplett hinters Licht zu führen. Oder du hast Unrecht. Dann wäre es für einen Menschen mit freier Wahl lohnender, seine Rentenbeiträge in eine private Kasse zu stecken.
Wie sieht das also deiner Meinung nach aus? Angenommen, ich müsste 20% meinens Lohns in die gesetzliche Rentenkasse oder eine private Vorsorge stecken, könnte aber frei entscheiden. Ansprüche würde ich nach den heutigen Regeln erwerben. Denkst du dann dass ich mit der Investition des Geldes in die gesetzliche Kasse tatsächlich besser fahren würde?
Alles Gute
Ich habe ihm daraufhin eine längere Antwortmail geschrieben, die ich euch nicht vorenthalten will:
Hi,
erst mal danke für deine Kritik, ich bin dankbar für jeden Input.
Tatsächlich würde ich dir widersprechen wollen. Ich verstehe, worauf du hinauswillst, aber ich unterstelle dir einen Denkfehler. Angenommen, deine Überlegungen über meine Überlegungen sind richtig, dann hast du natürlich Recht, und die FDP würde ihre Klientel sicherlich nicht so über den Tisch hauen, die davon abgesehen sicherlich bis drei zählen kann und deutlich besser als die FDP versteht, welche Politik "ihre" Partei macht. Aber die von dir unterstellte binäre Wahl zwischen "meiner" Theorie, nach der alle privaten Renten Unsinn sind und die Umlagefinanzierte das einzig Wahre, gibt es schlicht nicht. Selbstverständlich lohnt es sich für das genuine FDP-Klientel - also diejenigen unter den Wählern, die tatsächlich bis drei zählen können, nicht der Haufen, der sie in diese völlig irreale zweistellige Umgebung gepusht hat - in eine private Altersvorsorge zu investieren. Nur werden die bestimmt nicht Riestern, denn DAS lohnt sich definitiv nicht. Die werden irgendwas anderes nehmen, Aktienfonds, Staatsanleihen, Gold, marode US-Immobilienkredite, was weiß ich. Gar keine Frage.
Worum es mir geht sind zweierlei:
Erstens, die private Altersvorsorge als Allgemeinmodell ist Unfug, weil nicht gangbar. Und zweitens, die Demographie hat keinen Effekt auf unser aktuelles Rentensystem. Ich will genauer darauf eingehen.
1) Angenommen, rund 40 Millionen erwerbstätige Deutsche würden beginnen, Rücklagen für ihre private Vorsorge zu bilden, weil es keine (oder nur noch eine vernachlässigbare) staatliche Rente gibt. Zu diesem Zweck braucht ein Arbeitnehmer, der mit 67 Jahren in Rente geht bei einer Lebenserwartung von rund 80 Jahren 13 (Jahre) x 12 (Monate) x 1000 Euro Rücklagen von 156.000 Euro, nur um eine Mindestsicherung zu haben (und wir können 1000 Euro hier für ein ordentliches Leben durchaus guten Gewissens als Untergrenze festlegen). Und hier ist noch keine Inflation drin für die nächsten 45 Jahre Erwerbstätigkeit plus 13 Jahre Rente, in denen er dann davon leben will, unser zukünftiger Privatrentner. Das präsentiert uns zwei Probleme auf einmal, die beide unlösbar sind. Erstens, eine ungeheure Menge an freiem Kapital, denn diese Rücklagen kommen ja nicht in den Sparstrumpf, da fräße die Inflation sie ja auf. Unser heutiger Rentner hätte nach diesem System in den 1960er Jahren angefangen zu sparen, da war das Geld sehr grob über den Daumen gepeilt sechsmal so viel wert wie heute, er hätte heute also nur noch ein Sechstel (hätte er es im Sparstrumpf). Rechnen wir mal kurz die benötigten Rücklagen auf die Bevölkerung hoch: 40.000.000 (Menschen) x 156.000 (Euro) macht 6.240.000.000.000 Euro, wobei wir der Einfachheit halber annehmen dass die Zahl der Sparer konstant bleibt, weil so viele Leute neu ins Berufsleben einsteigen und damit Sparen anfangen wie Leute in Rente gehen und damit Kapital aus dem System entnehmen. Das bedeutet, dass, in Worten, 6 Billionen 240 Milliarden Euro Kapital allein aus Deutschland auf den Kapitalmarkt fluten, wo sie zu einer Rendite über der Inflationsmarke angelegt sein wollen, also rund 3% und eigentlich viel mehr, weil ja Vermarktung und die Leute, die das machen bezahlt werden müssen, also 5%. Die Realwirtschaft, auf deren Rücken das Ganze liefe, müsste also allein für die Renten lächerliche 312.000.000.000€ generieren, ohne überzogene Vorstandgehälter, die dann allerdings nach Worten des ehemaligen Deutsche-Bank-Chefs wirklich nur noch Peanuts wären. Und das ist nur für Deutschland. Europaweit wären das 16.741.463.414.634€ Kapital, rechnen wir die USA mit rein 40.331.707.317.073€. Du merkst, worauf ich hinauswill? Es ist einfach völlig unmöglich. Die Realwirtschaft kann mit diesem Kapital überhaupt nichts anfangen. So viel Geld GIBT ES NICHT.
Aber wie schon gesagt, die FDP-Wähler können bis drei zählen (oder, in unserem Fall, bis 40 Billionen). Entsprechend wissen sie das, und man kann annehmen, dass die Westerwelles, Clements und Merzens dieser Welt es auch wissen. Was passieren wird ist also das folgende: die große Mehrheit der Bevölkerung wird keine Rücklagen bilden können. Stattdessen werden sie weiter in ein teures Umlagesystem einbezahlen, das trotzdem nicht in der Lage ist die stetig sinkenden Mindestrenten zu finanzieren, weil jeder, der es sich leisten kann .- und ich garantoere dir, das werden keine 15% der Bevölkerung sein - aus diesem System raus will. Der Weg in die private Rentenversicherung katapultiert uns in die kapitalistische Steinzeit zurück, vor Bismarck, als 95% des Volkes arm und elend lebten und 16 Stunden am Tag ihre Gesundheit ruinierten und doch am Ende des Monats weder genug Geld für Miete noch Essen hatten.
Doch diese Kapitalflut ist noch längst nicht alles. Denn diese unvorstellbare Geldmenge muss ja nicht nur renditeträchtig untergebracht werden, sie muss auch ERHALTEN werden. Die Inflation, also Bedrohung Nummer 1, lässt sich nur durch die nicht zu erreichende Menge Rendite herstellen, die ich oben diskutiert habe. Aber in unseren 58 Jahren, in denen das Geld aufgebaut und dann wieder verkonsumiert wird (wehe dem Arbeitnehmer, der älter als 80 wird!), muss es erst einmal erhalten werden können, durch Rezessionen und Währungskrisen hindurch. Für einen Westdeutschen, der um 1940 geboren wurde und heute am Lebensabend steht wäre das vielleicht (!) noch möglich gewesen, obgleich seine Generation ständig mit dem nuklearen Holocaust lebte. Ein 1890 geborener Deutscher hätte im Ersten Weltkrieg alles verloren, in der Währungskrise 1923 alles verloren, in der Weltwirtschaftskrise 1929 alles verloren und im Zweiten Weltkrieg alles verloren, um dann den kümmerlichen Rest durch die Währungsreform 1948 abgenommen zu bekommen. Wer kann garantieren, dass die BRD noch einmal 60 vergleichbar friedliche Jahre erlebt wie die letzten, die ohne existenzbedrohende Krisen abgingen? Ich bin Historiker, und als solcher kann ich dir sagen dass diese vergangenen 60 Jahre eine Anomalie waren, kein Normalfall. Ich hoffe von ganzem Herzen dass diese Anomalie zum Standard wird, aber who knows? Das Umlagesystem dagegen kreirt keine solch absurden Kapitalmengen, hat geringe Kosten und ist relativ krisenssicher (einen Staatsbankrott oder ähnliches überlebt es natürlich auch nicht).
2) Die Demographiedebatte ist in diesem Zusammenhang das Dümmste, was je unter selbsternannten Intellektuellen diskutiert wurde. Sämtliche dieser Argumentationslinien sind von vorne bis hinten undurchdacht.
Zum einen wird fröhlich verkündet, dass im Jahr 2050 (!) die Bevölkerung Deutschlands so oder so groß sein werde. Großartige Prognose, aber jede Kaffeesatzleserei ist seriöser. Nicht nur, dass die Bandbreite von den Prognostikern selbst bei rund 20 Millionen (!) liegt, also einem lächerlichen Viertel der Bevölkerung, so hat ein Prognostiker, der 1900 eine Statistik für das Rentensystem ins Jahr 1950 errechnet leider zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise nicht bedacht, die das System zweimal völlig erledigt haben, während der 1950 rechnende Prognostiker weder Pillenknick noch Wiedervereinigung oder Gastarbeiter/Volksdeutschenmigration in seine Berechnungen integriert hat, die allesamt die Bevölkerungszusammensetzung unglaublich stark beeinflusst haben. Eine solche Hochrechnung über die nächsten an einer Hand abzählbaren Jahre hinaus ist nur eines: unseriös. Selbst wenn diese Berechnungen aber stimmen würden wäre es totaler Unfug, die aktuelle Finanzlage des Rentensystems auf einen Effekt zurückuzuführen, der selbst nach Aussagen dieser Scharlatane erst in 40 Jahren eintreffen wird!
Außerdem ist die ständig wiederholte Konsequenz aus dieser Rechnung, dass nämlich irgendwann wie bisher drei nur noch ein Arbeitnehmer auf einen Rentner kommt völlig irrelevant, weil sie die Produktionssteigerung außer Acht lässt. Zu Bismarcks Zeit kamen 12 Arbeiter auf einen Rentner, unter Ludwig Erhard noch sieben. Nach dieser Logik müssten wir schon längst am Abgrund sein, aber wir sind es nicht.
Zuguterletzt sind diese Rechnungen also nicht nur auf völlig falschen Annahmen getroffen worden und man hat die völlig falschen Schlüsse gezogen, nein, man hat auch noch falsch gerechnet! Der Kinder-pro-Frau Faktor stimmt hinten und vorne nicht, der Akademikerinnengeburtsstreit ist ein Phantom und es gibt auch nicht das geringste Argument dafür, dass weniger Deutsche einen negativen Effekt hätten, außer mehr Platz in einem überbevölkerten Land.
Anmerkung: Ich habe alle persönlichen Passagen gekürzt, damit Anonymität gewahrt bleibt. Jetzt seid ihr gefragt: was ist eure Meinung?

Dienstag, 22. Dezember 2009

Willkommen in Absurdistan

Die schwarz-gelbe Regierung ist noch keine drei Monate im Amt, aber ihre Regierungszeit wird bereits jetzt von Tag zu Tag absurder, ein Status, für den sich rot-grün seiner Zeit mehr als eine Legislaturperiode Zeit gelassen hat. Im Wahlkampf haben sich CDU/CSU auf einen Überbietungswettbewerb mit der FDP beim Thema Steuersenkungen eingelassen, den sie unmöglich gewinnen konnten - hat doch die Union wenigstens den Anspruch, Politik zu gestalten, worin die FDP die Macht eigentlich nur als Mittel zu sehen scheint, die eigenen Ideen auf Biegen und Brechen umzusetzen und ansonsten dem Weltuntergang vom Logenplatz aus zuzusehen - Spaßpartei reloaded, aber da war einem das Original von 2002 dann doch lieber, die waren nur albern, nicht zusätzlich auch noch gemeingefährlich.
Nachdem jetzt allen endgültig aufgefallen ist, dass die Kosten der Finanzkrise und die bisherige Staatsverschuldung den Etat beim derzeitigen wirtschaftspolitischen Kurs über die Gebühr spannen, ist der Katzenjammer eingekehrt. Die FDP ist auf Tauchstation gegangen; Westerwelle jettet durch die Welt wie es Schröder und Merkel erst am Ende der Legislaturperiode taten, in der sicheren Erkenntnis, dass rote Teppiche publikumswirksamer sind als rote Zahlen. Auch Dirk Niebel arbeitet sich lieber "in die Entwicklungspolitik ein", als weiter dumme Kommentare zu Steuersenkungen von sich zu geben. Nachdem man das von wirklich allen Seiten kritisierte Steuergeschenk für Hoteliers durchgeprügelt hat, um ja nicht mit dem Odium des Wortbruchs behaftet zu werden und nicht zugeben zu müssen, dass die eigenen Ideen nicht gerade der Brecher und höflich ausgedrückt nicht wirklichkeitskompatibel sind, hat Schäuble nun erkannt, dass er zur Einhaltung der mit großem Hallo eingeführten Schuldenbremse ab 2011 die Neuverschuldung des Bundes um jährlich 10 Milliarden senken muss - vollkommen unmöglich angesichts der Einnahmen- und Ausgabensituation des Bundes. Da eine Steuererhöhung mit der Spaßpartei nicht möglich ist und auch die CDU sich im Wahlkampf darauf festgelegt hat, muss man zur Mehrwertsteuererhöhung - die im beschränkten Horizont der schwarz-gelben das einzige Mittel zu sein scheint - noch eine mindestens einjährige Schamfrist verstreichen lassen, ehe man urplötzlich und unerwartet auftretende Sachzwänge (wie die Schuldenbremse) zur Legitimation anführen kann, wird die Situation der Regierung immer verzweifelter, die ihre Felle davon schwimmen sieht. Anders kann ich mir den neuen Vorschlag nicht erklären.
Denn angeblich plant man, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 2,8% auf 4,5% anzuheben - eine wahrlich drastische Steigerung, die, wie ich schwarz-gelb zu kennen glaube, hundertpro allein von Arbeitnehmerseite ohne Arbeitgeberausgleich getragen werden wird. Begründet wird dies damit, dass sich die geplanten Steuersenkungen anders nicht gegenfinanzieren lassen, was endgültig für den intellektuellen Todeskampf der schwarz-gelben Regierung spricht. Seit Jahren liegen uns die Neoliberalen landaus, landein mit dem Lamenta in den Ohren, dass die Arbeit in Deutschland zu teuer sei, und jetzt wollen Union und Spaßpartei mal eben 1,7% aufsatteln, einfach so. Für die Konjunktur hat das sicher grandiose Auswirkungen, und der Effekt irgendwelcher utopischer Steuersenkungen ist damit auch dahin, weswegen man sich die ganze Chose eigentlich sparen könnte. Schwarz-gelb hat sich in eine Falle aus den eigenen dummen Versprechen gegeben, die nun mit der Realität kollidieren; versucht Forderungen aus der fröhlichen Wünsch-dir-was-Oppositionszeit fröhlich umzusetzen und scheitert an der Wirklichkeit. Ich bin gespannt, wann da die Reißleine gezogen wird und wer sie reißt.

Montag, 21. Dezember 2009

Drei Fundstücke

Ich bin gerade ziemlich beschäftigt, deswegen kommen nur so unregelmäßig Beiträge, entschuldigt bitte. Für heute habe ich in Kürze drei Fundstücke zu kommentieren:

1) Die drei Kaffeekonzerne Tschibo, Melitta und Dallmayer sind wegen illegaler Preisabsprachens seit 2000 zu einem Rekordbußgeld von 160 Millionen Euro verknackt worden. Natürlich fühlen sie sich ungerecht behandelt; witzigerweise nicht wegen der Verurteilung an sich, sondern nur wegen der Höhe des Bußgeldes. Allein für die Begründung sollte man die Strafe gleich verdoppeln; die geben ja offen zu, dass sie das gemacht haben und erkennen daran auch nichts Falsches, sie beschweren sich nur drüber, dass sie bestraft werden (und mal ehrlich, für einen Konzern wie Tschibo, der nach eigenen Angaben Marktführer in fünf Ländern inklusive Deutschland ist, wären die 160 Millionen selbst alleine ein Witz, geschweige denn ein Teil davon). Das Beispiel ist symptomatisch dafür, dass in Deutschland Wirtschaftskriminalität einfach nicht ausreichend bestraft wird. Vielleicht sollte man auch dazu übergehen, nicht das Unternehmen selbst mit Bußgeld zu belegen - letztlich leidet darunter am Ende nur der Kunde und der Angestellte - sondern die Managmentleute, die diese Preisabsprachen machen. Schließlich kann sich keiner rausreden, dass das in einer rechtlichen Grauzone wäre und er nicht wusste, dass es illegal ist. Leute, die solche Preisabsprachen treffen respektive sie in Auftrag geben persönlich belangen, einfach weil sie ein Verbrechen begehen - das wäre doch was.

2) Schäuble wehrt eine Gehaltsforderung des Öffentlichen Dienstes von rund 5% entsetzt mit dem Argument ab, dass der Staat doch kein Geld habe. Heribert Prantl kommentiert dies mit den richtigen Worten. Milliarden für die Banken und die Autoindustrie zum Fenster rausschmeißen, aber dann keine paar Cent pro Nase für den Öffentlichen Dienst haben? Schon klar. Finanziert's doch mit einer Sondereinkommenssteuer für Ackermann gegen, der hat's eh verdient.

3) Anlässlich des Prozesses um Demjanjuk, der dank seines Anwalts immer mehr zur Farce gerät, hat die SZ eine Bildergalerie von im hohen Alter angeklagten und verurteilten Nazis hochgestellt. Schaut sie euch ruhig mal an. Es ist irgendwie merkwürdig zu lesen, wie diese Typen, die alle mehrfache Mörder sind, die Jahrtausendwende als über 90jährige erlebt haben, während ihre Opfer alle schon Staub sind. Und auch, dass man sie trotzdem zur Rechenschaft zieht. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie sinnvoll das eigentlich ist, einen krebskranken 90jährigen zu verknacken, den man ein halbes Jahr später haftunfähig schreibt und dann danach sterben lässt. Aber hier geht es ums Prinzip. Es geht darum, dass die Schuld dieser Menschen anerkannt und durch ein Urteil bestätigt wird, auch im Interesse der Opfer und deren Nachfahren. Ich finde es außerdem eine interessante Vorstellung, dass die Leute entlassen werden und zwei Wochen später zu Hause sterben, anstatt dass man sie in eine Todeszelle steckt oder lebenslänglich verknackt. Es ist irgendwie ein schöner Beweis, dass wir heute menschlicher sind.

UPDATE: Die Kaffee-Manager haben auch Strafen bekommen, höre ich grad im Radio. Aber meine Aussage bleibt trotzdem stehen.

Donnerstag, 17. Dezember 2009

Chuzpe als Generationengerechtigkeit

Ein Gastbeitrag von Jürgen Voß.


Das schöne jiddische Wort „Chuzpe“ wird in der Regel mit „Rotzfrechheit“ übersetzt. Um „Chuzpe“ zu veranschaulichen, wird oft die Geschichte von dem Mörder erzählt, der Vater und Mutter umgebracht hat und dann vor Gericht mildernde Umstände für sich reklamiert, da er ja jetzt Vollwaise sei.


Wer in diesen Tagen und Wochen das neoliberale Leitmedium unserer Zeitungslandschaft, die Süddeutsche, aufmerksam liest, bekommt weiteren Anschauungsunterricht in Sachen „Chuzpe“.


Anstatt angesichts des Desasters, das die neoliberale Ideologie weltweit angerichtet hat, wenigsten einen Moment der Reflektion einzulegen, macht die nach wie vor marktradikal ausgerichtete Wirtschaftsredaktion der SZ einfach fröhlich weiter, als wenn nichts geschehen wäre.


Guido Bohsem setzt bei der Rentendiskussion weiter auf die demographische Trumpfkarte; Marc Beise, der neue neoliberale Star, will Deutschland komplett deindustrialisieren und zur „Wissensgesellschaft“ umfunktionieren und Nikolaus Piper, der marktradikale Mentor des Blattes, der heiße Befürworter der “neoliberalen Einwanderungsgesellschaft“, der Bejubler deregulierter Finanzmärkte, der Bewunderer von Ackermann und Konsorten, inzwischen Amerika Korrespondent, kennt in Sachen neoliberaler Ideologie weiterhin keine Kompromisse: Er empfiehlt uns nach wie vor die Orientierung am amerikanischen Modell:


Dort sei „die Arbeitsproduktivität drastisch gestiegen, während sie bei uns gesunken ist“ (wenn Millionen entlassen sind, steigt natürlich die Produktivität der übrig gebliebenen, eine tolle Erkenntnis! J.V.). Deshalb sollte keine Gewerkschaft auf Lohnprozente pochen, sondern auf „Beschäftigungssicherung“ setzen. Das habe die IG Metall verstanden, Verdi noch nicht.“


Auch der prekäre Arbeitsmarkt sei schon in Ordnung. Eine schlecht bezahlte Beschäftigung zu haben, sei immer noch besser als gar keine: „Wenn man kurze Zeit einen schlechten Job hat, ist dies hinnehmbar. Wichtig ist, dass aus diesem Job heraus ein Aufstieg in ein reguläres Arbeitsverhältnis möglich ist.“ (Das ist ja bei uns garantiert der Fall! J. V.)

Dazu muss man das amerikanische Modell nicht kopieren. Aber lernen kann man schon von Amerika“ (alle Zitate aus dem Kommentar“ Die Zukunft der Arbeit“ in der SZ vom 17 Dezember 2009.


Als „älterer Herr“, der das Arbeitsleben hinter sich hat, steht es mir nicht zu, angesichts eines solchen Unfugs persönlich zu werden. Wäre ich jetzt ein junger Mensch, der trotz glänzender Examina, trotz Auslandsaufenthalte, trotz guter Fremdsprachenkenntnisse, trotz hervorragenden Computerwissens sein Dasein in einem Callcenter oder als Praktikant ohne Bezahlung fristen muss (wie es tausende leider tun), dann würde ich Herrn Piper mal fragen, ob er, mit seinem kleinem volkswirtschaftlichen Studium aus den frühen siebziger Jahren und einem Volontariat bei einen Provinzblättchen in der heutigen Zeit für sich noch den Hauch einer Beschäftigungschance sähe.


Eine Generation, die es so leicht gehabt hat wie keine zuvor, empfiehlt heute den jungen Menschen, die arbeiten wollen und können, die alternativlose Akzeptanz barbarischer Arbeitsmarktmodelle, die der eigenen persönlichen Biografie, die von einer nie gekannten Fülle an Chancen geprägt war, diametral entgegenstehen.


Dies ist nicht nur zynisch, es ist hochgradig unsensibel und menschlich widerlich. Es ist eiskalte Chuzpe.

Freitag, 11. Dezember 2009

Ausländische Mitbewerber?

Kann mir mal einer sagen was Schäuble raucht und wo man das herkriegt?

SZ: Das bedeutet, dass Sie ab 2011 jedes Jahr zehn Milliarden Euro einsparen müssen, wenn Sie die Verfassung einhalten wollen. Stattdessen verschenken Sie eine Milliarde Euro an die Hoteliers.

Schäuble: Das war nicht meine Idee. Politik heißt aber nun einmal, Kompromisse zu schließen. Und für Hotels, die ausländische Wettbewerber haben, ist diese Steuersenkung durchaus wichtig.

*schenkelklopf* Genau, anstatt in Berlin übernachte ich dann im Urlaub halt in Minsk, da isses billiger! So!

Dienstag, 8. Dezember 2009

Die leiseste Bombe der Welt

Der aktuelle Aufmacher in der SZ ist eine wahre Bombe. Entweder haben die Verantwortlichen das nicht gemerkt oder bewusst ignoriert in der Hoffnung, dass es niemand anderes feststellt. Denn mir nicht, dir nichts sagen sie das Aussterben der Deutschen und den demographischen Wandel ab, mithin DAS Argument für alle Rentenreformen der vergangenen Jahre.
Der amerikanische Demograph Goldstein leitet das Demographische Institut Rostock und hat in einem aktuellen Bericht erklärt, dass die niedrigen Geburtenraten von 1,3 Kinder pro Frau - Schock, die Deutschen sterben aus, die Republik vergreist! - wahrscheinlich ein Messfehler waren. Ups. Demnach kämen im Jahr 2030 sogar mehr Kinder un Jugendliche auf jeden Rentner als heute.
Der Artikel kommentiert das nicht weiter. Das ist ein Luxus, den ich mir nicht gönne. Denn was das bedeutet liegt eigentlich auf der Hand: unsere ganze Bande hat es hochoffiziell und amtlich, was wir seit Jahren predigen. Ihre ganze Panikmache ist völlig unbegründet, die "Demographie" ein Gespenst, eine Illusion. Das bedeutet auch, dass Riesterrente, Rente mit 67 und was des unbedingt notwendigen Unfugs mehr ist nicht nur vollkommen überflüssig, sondern auch im Gegenteil eher schädlich waren. Denn wenn das Verhältnis der jungen Menschen tatsächlich zunimmt, ist das Rentenalter nach hinten zu verschieben so ziemlich die dümmste Entscheidung, die es geben kann. Um es noch mal zu sagen: Goldstein hat einem der wichtigsten Argumente der neoliberalen Reformerbande von Marc Beise bis Hans-Werner Sinn die Grundlage entzogen. Zack. Und die SZ scheint es nicht mal zu merken.

Montag, 7. Dezember 2009

Zum Röslerinterview von Guido Bohsem und Claus Hulverscheid in der SZ Wochenendausgabe vom 5./6. Dezember 2009

Ein Gastbeitrag von Jürgen Voß.


Es ist schon erstaunlich, dass auch in diesem Interview der eigentliche Dollpunkt dieser erneuten „Gesundheitsreform“ wiederum nicht heraus gearbeitet wurde: Die Abschaffung der beitragfreien Familienmitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dies ist die notwendige Begleitkomponente der Kopfpauschale, sonst wäre sie ja sinnlos. Denn der momentane Durchschnittsbeitrag der aktiven Beitragszahler liegt ja höher als die geplante Kopfpauschale, die – alten CDU-Plänen (!!) gemäß - zwischen 230 und 250 Euro monatlich pro Person liegen soll.

Dies bedeutet aber, dass Millionen Versicherte nach Einführung dieser Pauschale im Vergleich zum Status quo den zweifachen (wie z. B. Rentnerhaushalte) oder sogar den drei bis vierfachen Beitrag zu zahlen haben, wenn es sich um große Familien handelt.

Um nicht komplett ruiniert zu sein, müssen dann Millionen Menschen als Bittsteller um steuerlichen Ausgleich nachsuchen und ihre persönlichen Einkommensverhältnisse vor der Bürokratie darlegen. Ein wahrhaft tolles (neo-) liberales Konzept und ein wirklich essentieller Beitrag zur Entbürokratisierung!

Gleichzeitig soll die GKV ihres entscheidenden Produktvorteils beraubt werden, den sie gegenüber der Privaten Krankenversicherung (PKV) heute noch hat. Nur die beitragsfreie Familienmitversicherung hält Millionen Gutverdiener als tragende Säule in der GKV. Fällt diese weg, bricht der gesamte Finanzierungsrahmen zusammen.

Dass diese Zielrichtung eindeutig ist, lässt sich ebenfalls in alten Papieren des Leipziger Parteitags der CDU nachlesen, wo die Zuschussregelung für Kinder ausdrücklich auch für Privatversicherte vorgesehen war.

Es mutet wie ein schlechter Witz an:

In einer Zeit, in der jenseits des Atlantiks zaghafte Versuche unternommen werden, wenigstens eine Hauch Solidarität in Sachen Krankenversicherung einzuführen, wird hier ein seit 1883 glänzend funktionierendes System mit dem höchsten medizinischen Standard der Welt einer neoliberalen „Reform“-Wut geopfert, die – nachdem sie es bei der Rente schon (zum Teil) geschafft hat – ihrem Hauptklientel, den Privatversicherungen, ein weiteres Milliardengeschäft zuschustern will.

Sollte diese erneute Rürupiade später (hoffentlich) mit dem Totalverlust der politischen Karriere enden, wäre das - deja vecu – nicht weiter tragisch. Der Aufsichtsratstuhl oder der hoch dotierte Beraterposten bei Ergo, Allianz und Co steht schon parat.

Zitat des Tages

"Wer abzieht, holt die Taliban heran."
- Joschka Fischer
Junge, die sind schon da. Die waren nie weg.

Deutlich

So deutliche Worte würde man wirklich gerne häufiger hören.

Freitag, 4. Dezember 2009

Routineänderungen

In der Debatte um die Verlängerung des ISAf-Mandants in Afghanistan kann man nur Routine erwarten: die Regierungskoalition plus die "Realos" der Grünen und die "Seeheimer" der SPD sind dafür, die LINKE, die meisten Grünen, ein Teil der SPD sowie vereinzelte Abgeordnete der FDP und CDU dagegen. Eine komfortable Mehrheit für die Verlängerung ist nie gefährdet. So auch dieses Mal, aber drei Störfaktoren vom sonstigen Bild gab es:
Zum einen Guttenberg, der sich nicht recht wohl in seiner Haut war und endlich, nach einem halben Jahr und einer Flut von entsprechenden Gutachten, Aussagen und Artikeln eingestehen musste dass der Angriff auf den Tanklaster dumm und militärisch eigentlich nicht zu rechtfertigen war.
Zum anderen Wolfgang Gehrcke, der in einer Kurzreplik sehr emotional den Vorwurf zurückwies, die LINKE kümmere sich nicht um das Leid der Menschen; die Antwort ist nur empfehlsenswert:

Und Christian Ströbele, der argumentierte, die Mehrheit der Menschen in Deutschland lehne den Einsatz ab und werde ignoriert. Das Lachen von CDU und FDP hier sagt mehr als tausend Worte.


Mittwoch, 2. Dezember 2009

Die große Bedrohung

In der Zeit findet sich ein sehr langer und ausführlicher Artikel zum Thema Zeitungssterben, in dem auf das beunruhigende Blättersterben besonders auch 2009 hingewiesen und kein Blatt vor den Mund genommen wird, was die Beschreibung der Folgen angeht, vor allem das Lesern dieses Blogs wahrscheinlich bereits hinlänglich bekannte Problem des direkten Übernehmens von Agenturmeldungen und Pressesprechererzeugnissen, so dass der investigative Journalismus auf der Strecke bleibt.
So überraschend brutal ehrlich der Artikel in der Beschreibung der Umstände und Folgen ist - ein wahrer Weckruf, der hoffentlich nicht gänzlich ungehört verhallt -, so fehlt es doch auch an der genauen Ursachenanalyse für dieses Problem. Kein Artikel über die Zukunft des Journalismus kommt mehr ohne den Verweis auf "das Internet" und Web 2.0 aus. So auch hier, wenngleich sich zwischen den Zeilen eine gewisse Beunruhigung herauslesen lässt. Es scheint Autor Jens Koehler aufzufallen, dass seine Berichte von neuen Journalismusformen wie Regionalbloggern und Ähnlichem zwar schön klingen, aber gleichzeitig auch verdächtig an Lobhudeleien erinnern, wie man sie in den letzten Jahren ständig zu irgendwelchen Themen gehört hat, die kurz darauf in der Versenkung verschwanden, weil sie ein tragfähiges Geschäftsmodell dann doch nicht waren - die New Economy lässt grüßen. Dieses spürbare Unbehagen Koehlers ist begründet.
Sicher gibt es Menschen, die in ihrer Freizeit tolle Aufnahmen machen und gute Berichte über lokale Ereignisse schreiben. Sicher ergänzen die auf die Art Nachrichtenlücken, die durch das Blättersterben entstanden sind. Aber wenn wir ehrlich sind, wird solch freiwilliger Content niemals ein Ersatz für echte Zeitungsarbeit, für echten Journalismus sein können, egal wie modisch es klingt, auch die Leser für Content sorgen zu lassen. Wer tatsächlich Content liefert, der dann auch gedruckt und redaktionell genutzt werden kann, will auch dafür bezahlt werden. Niemand lässt sich gerne als Cashcow missbrauchen; mich erinnert das an das Gespräch mit dem Freitag vor einem Jahr, als dort die neue Onlineplattform diskutiert wurde, an dem ich mit Spiegelfechter und Feynsinn teilgenommen habe. Die Idee, dass Benutzer fertigen Content zur Verfügung stellen ist verführerisch, aber unrealistisch. Das dürfte auch der Freitag inzwischen verstanden haben. Dieser Weg führt also in die Sackgasse, ist nichts mehr als eine weitere der vielen Modeüberlegungen rund um das Web 2.0, das die Initiatoren solcher illusionärer Bewegungen oftmals ohnehin nicht wirklich verstehen.
Es ist aber unzweifelhaft, dass das Internet einen starken Einfluss auf den Rückgang der Zeitungsverkäufe hat. Ob er ursächlich dafür ist darf jedoch bezweifelt werden. Die Zeitungen befinden sich in einer Spirale aus immer schlechter werdendem Inhalt und weniger Verkäufen, die durch Entlassungen kompensiert werden aus denen dann schlechterer Inhalt und weniger Verkäufe resultieren. Der Niedergang des SPIEGEL unter der Ägide Stefan Austs zeigt deutlich genug dass es nicht das Internet braucht, um ein einstmals renommiertes Nachrichtenmedium zu ruinieren; das können die Medienleute ganz alleine. Für mies recherchierte Artikel, die oft genug die Intelligenz des Lesers deutlich beleidigen, will niemand Geld ausgeben, ob in Print oder im Internet, wo bisher noch jedes Bezahlmodell gescheitert ist. Warum jeden Tag eine Zeitung kaufen, wenn ich zwei Drittel davon nicht lesen will?
Das Problem, dem sich die Zeitungen gegenüber sehen ist ein Ähnliches wie es auch die Musikindustrie hat: sie verkaufen ein Produkt in einer nicht mehr zeitgemäßen Form. Nur fehlen den Zeitungen die Mittel der Musikindustrie, mittels Massenabmahnungen und einer willfährigen Justiz das Geld anderweitig aus dem Kunden zu pressen. Wenn ich von meinem Beispiel als Leser ausgehe weiß ich, welches Problem die Zeitungen haben: ich interessiere mich null für den Sport, lese kein Feuilleton, keinen Regionalteil mit Todesanzeigen und Kleintierzüchtervereinjahresfestbericht. Ich will keine Börsenkurse wissen auch nicht, welcher Bürgermeister gerade welches Museum eingeweiht hat. Stattdessen lese ich gern Meinungsartikel und Analysen, und zwar aus möglichst vielen Quellen, um ein eigenes Bild entwerfen zu können. Dieses Befürfnis steht der Form einer Printzeitung diametral gegenüber, während es im Internet hervorragend erfüllt wird. Nur, damit verdienen die Verlage nichts. Ist ihr Angebot aber kostenpflichtig, kann ich es mit wieder nur leisten EIN Abonement zu kaufen und schalte mir damit auch gleichzeitig die Inhalte frei, die mich eigentlich nicht interessieren - dieses Modell ist also nutzlos; ich bezahle nicht für etwas, das ich nicht nutzen will.
Einen Ausweg aus dieser Sackgasse haben die Verlage bisher nicht gefunden. Vor einiger Zeit hat der Spiegelfechter einen Artikel über ein System gebracht, das aus dieser Sackgasse möglicherweise heraushelfen könnte, weil es genau das oben beschriebene Problem löst. Das Programm Kachingle registriert Klicks auf implementierte Seiten. Der User bezahlt monatlich einen bestimmten Betrag - etwa 5 Euro - der dann an über Kachingle an die entsprechenden Seiten passend zur Nutzungsfrequenz ausbezahlt wird. Das ist eigentlich ein einleuchtendes Modell, aber es hat einen Haken: es ist freiwillig. Denn der Leser ist der einzige, der bestimmt, welche Seiten er überhaupt mit Geld versieht. Möglicherweise ist sogar die Menge des Geldes freiwillig. Trotzdem wäre ein solches Modell vermutlich deutlich tragfähiger als alle Bezahlinhaltsideen, die die Verlage derzeit wälzen.
Der sicherste Weg zu mehr Kunden bzw. zur Rückgewinnung verlorener Kunden ist jedoch mehr Qualität. Jens Koehlers Artikel in der Zeit umgeht ein weiteres Problem elegant: die Zeitungen sind mehrheitlich nicht mehr in den Händen von Zeitungsmachern, sondern von Leuten, die Rendite wollen. Deswegen trimmen diese Leute die Zeitungen auf Effizienz, das heißt mit möglichst wenig Leuten möglichst viel Content produzieren. Das sagt jedoch über die Qualität noch nichts aus. Bevor man darüber nachdenken kann, wie die Kunden - also das Ende der Kette - wieder zu den Medien gebracht werden können, sollte man zuerst darüber nachdenken wie die Medien selbst wieder wert werden können, dass man für sie bezahlt. Das heißt kritischer, investigativer Journalismus. Pressemeldungen der Parteien und Unternehmen kann ich auch auf deren Webseiten lesen. Dass ich das nicht tue zeigt, dass ich sie nicht lesen will - und mit mir ein gewaltig großes Publikum da draußen.

Dienstag, 1. Dezember 2009

Voll des Lobes

Man glaubt es kaum, aber es gibt doch noch Stücke von Journalismus, wie er sein sollte. Die SZ hat einen Redakteur dafür abgestellt, sich die neue Familienministerin Dr. Köhler mal näher anzusehen. Und wie das zu erwarten war, ist einem recherchierenden Journalisten nicht nur aufgefallen, dass sie "jung" ist, was in diesem Kabinett der Versager (weitere Kompetenzausweise: Baron; sieben Kinder; jung und Migrant; wollte das Ressort schon immer) ja sofort als Beweis für überragende Fachkenntnis gilt, sondern auch, woher sie eigentlich kommt. Und dabei stieß Thorsten Denkler (ja, der Thorsten Denkler!) auf die Doktorarbeit Köhlers, die er offensichtlich zumindest mal aufgeschlagen hat, was für heutige Journalisten nicht mehr selbstverständlich ist. Und dabei sind mehrere Sachen aufgefallen. Ich zitiere:
Im Wissenschaftsjargon ist das eine klassische Typ-II-Arbeit. Typ I wären Arbeiten, die inhaltlich wirklich etwas Neues zutage befördern und damit dem Autoren eine wissenschaftliche Karriere eröffnen. Zum Typ II zählen solche Arbeiten, bei denen das erste Ziel der Titel ist.
Madame wollte also einen Doktortitel, weil es gut klingt. Und dank dem "schwarzen Netz" (Artikeltitel!) hat sie den dann auch bekommen, denn sie konnte auf Minijobbasis dank CDU-Hilfe Layouter und Setzer beschäftigen und hatte Zugriff auf weitere CDU-Ressourcen.
Damit aber noch nicht genug: Denkler hat sogar beschlossen, das Köhler zugeschriebene und von der Presse leichtfertig übernommene Attribut "Integrationsexpertin" ein bisschen zu spezifizieren:
Im Februar war Köhler noch eine eher unbedeutende Bundestagsabgeordnete der CDU. Eine Hinterbänklerin mit Nachwuchsstatus. Sie fiel zuweilen durch harte Islamkritik auf sowie durch die Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus. Hervorgetan hat sie sich als Obfrau der CDU im BND-Untersuchungsausschuss.
Um es deutlich zu sagen: die Frau schwimmt in der gleichen braunen Soße wie Roland Koch und fühlt sich dabei wie der Fisch im Wasser. Ich hoffe mal, dass solche Artikel nicht die Ausnahme von der Regel bleiben, sondern bald zur Regel werden. Hoffen ist erlaubt.

UPDATE: Auch die NRhZ kritisiert Köhler scharf.