Mittwoch, 7. März 2012

Viktor Orbáns Europa - eine Analyse

Von Stefan Sasse

Viktor Orbán 2010
In der FAZ ist jüngst ein längliches Interview mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán erschienen. Orbán ist der Vorsitzende der Fidesz-Partei, die bei den letzten Wahlen in Ungarn eine Zwei-Drittel-Mehrheit errang und eine neue Verfassung verabschiedet hat, die EU-weit auf harsche Kritik stieß, da sie elementare Bürgerrechte einschränkt und geradezu ethnische Säuberungen gegen Sinti und Roma durchführte. Orbán fiel auch dadurch auf, dass er aggressiv Posten mit eigenen Leuten besetzte und Gesetze auf die Bedürfnisse von Fidesz zuschnitt. Dass das Thema Ungarn hierzulande außer in einigen Nischenbereichen wie dem Verfassungsblog wenig zu Wort kam liegt auch an der Sprachbarriere: es gibt praktisch niemanden außerhalb Ungarns, der Ungarisch spricht, und Fidesz war nicht gerade eifrig dabei, die Dokumente ihrer Herrschaft in andere Sprachen zu übersetzen. Das Interview mit der FAZ ist schon alleine deswegen bemerkenswert, wirklich interessant aber wird es durch etwas Anderes. Ich bin zwar kein Kenner der ungarischen Politik und kann deswegen nicht beurteilen, wie "echt" der Orbán ist, der sich dem Interviewer hier präsentiert; eines aber ist sicher: seine Aussagen in diesem Interview sind von einer bemerkenswerten Offenheit. Sie erlauben einen tiefen Einblick in die Gedanken- und Seelenwelt des Mannes, der gerade Ungarn führt - und in den Augen der meisten EU-Staaten deutlich von der europäisch-demokratischen Idee entfernt. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, Orbáns Äußerungen in einen Zusammenhang zu stellen und sie einzuordnen.

Gleich zu Beginn postuliert Orbán das entscheidende Narrativ seiner Europapolitik: er glaubt, einen allgemeinen Verfall europäischer Macht und europäischer Werte erkennen zu können, sieht einen allgemeinen Niedergang Europas als politische und wirtschaftliche Macht. Als Argumentation zieht er dafür die wachsenden Welthandelsanteile anderer Länder sowie die prozentual abnehmende Bevölkerung heran. Diese Argumentation ist nicht neu. Exakt die gleichen Fakten lagen auch Helmut Schmidts flammender Rede vor dem SPD-Parteitag zugrunde. Die Schlussfolgerung, die daraus gezogen wird, unterscheidet sich bei beiden Männern aber drastisch. Während Schmidt ein Aufgehen in den europäischen Institutionen propagiert, sieht Orbán aus gerade dieser Sicht den Hauptquell der Schwäche Europas. Er verweist stattdessen auf die Rivalen Europas, den "islamischen Raum" und die "östlichen Länder", die jeweils Stärke in ihren eigenen Traditionen und ihrem Glauben fänden. 

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Orbán bei der Wahl zum Ministerpräsidenten
Für Orbán ist Europa ein christlich gepräger Kontinent voller christlicher Traditionen, aus denen es Stärke schöpfen könne und müsse. Nationen, die sich selbst in diesen Traditionen verwurzelten, schöpften daraus "Energie". Mit dieser Energie erheben sie energischen Anspruch, ihre Interessen auf der europäischen Bühne gehört zu bekommen; als Beispiele nennt Orbán Sarkozys Frankreich ("ein de gaullischer Hauch") oder Polen. Diesen nationalen Aufwallungen hängt eine "Glorie" bei, die er nur bewundern könne. Die Gruppe der traditionsorientierten Staaten, allen voran deren Bannerträger Ungarn mit den von Orbán positiv hervorgehobenen Massenaufmärschen der Rechten zu den Wahlterminen, steht mannigfaltigen Herausforderungen gegenüber. Dazu gehören die grassierende "political correctness", die sich quasi wie eine lähmende Decke über alles legt, "die Linke", die bei Orbán Gestalt einer weltumspannenden, einheitlichen Bewegung von Barrack Obama bis Sahra Wagenknecht annimmt sowie der entfesselte Kapitalismus, den er mit den Sozialisten assoziiert (!). Den Zweiten Weltkrieg sieht Orbán als große Katastrophe, bezeichnet ihn explizit als einen "christlichen Bürgerkrieg", der Europa nachhaltig geschwächt habe.

Deutschland weist Orbán in diesem Weltbild eine Sonderrolle zu. Deutschland habe ein "Schicksal". Es ist zu groß, um nur eine von vielen europäischen Nationen zu sein, aber zu klein, um sie zu dominieren. Da Deutschland aber nicht wirklich führen wolle und Frankreich und England es effektiv auch daran hindern würden sieht Orbán die deutsche Dominanz positiv. Er bescheinigt Deutschland einen "Naturinstinkt", der es dazu geradezu prädestiniere. Als strategischen Partner bietet er sein Ungarn an, ein Bündnis, das ihm sehr natürlich erscheint. Er begründet es mit den europapolitischen Vorstellungen Otto Graf Lambsdorffs, der ein Bismarck-Porträt in seinem Amtszimmer hängen hatte, und Helmut Kohls, für den alle Nationen entlang Rhein und Donau in Europa integriert sein müssten. 

Soweit grob Orbáns Sicht auf Europa. Es bleibt die Frage, wie das alles einzuordnen ist. Orbán selbst erklärt im Interview, dass man ihm vorwerfe, seine Sicht sei rückwärts gerichtet, er selbst aber sehe sie als der Zukunft zugewandt. Tatsächlich stammen seine Ideen aus einer längst vergessenen Zeit, sind bereits rund 200 Jahre alt, haben den Zenit ihrer politischen Wirkmacht vor rund 100 Jahren erreicht. Da aber auch sozialdemokratische und liberale Ideen bereits eine lange Vergangenheit besitzen, kann man darüber hinwegsehen.

Orbáns Vorstellungen sind in einem alten Begriff von Nation und Volk verwurzelt. Für ihn ist beides nicht zu trennen. Völker besitzen Charakter, haben bestimmte Wesensmerkmale, die sie scharf von anderen Völkern trennen, und die Völker haben sich in Staaten zu organisieren. Für weit über ein Jahrhundert war diese Ansicht beherrschende common knowledge in der Welt und fand ihren politischen Ausdruck im von Woodrow Wilson erfundenen "Selbstbestimmungsrecht der Völker". Orbáns Konzeption eines Europas souveräner, stolzer Nationen allerdings ist ebensowenig neu. Die Idee war unter dem Namen des "Europas der Nationen" bereits in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, so populär sogar, dass die Nazis sich der Idee bedienten, um ihre eigene Außenpolitik zu legitimieren. Erfolg hatte diese Bewegung jedoch letztlich nicht; die Partikularinteressen der stolzen Völker Europas erwiesen sich als deutlich stärker als der Versuch, sie in einer gleichberechtigten Partnerschaft zusammenzubringen. Das leistete erst nach dem Zweiten Weltkrieg die EWG, indem sie ihre Institutionen ohne jedes Gepränge die "Identität" der Staaten weitgehend ignorieren und sich stattdessen auf die Ebene der tatsächlichen politischen Aspekte herunterbegab. Tatsächlich zeigen auch alle Versuche von stolzen Völkerauftritten seit 1945 von de Gaulle bis Kaczyński, dass sie vor allem eines provozieren: Abwehrreaktionen, Abneigung und Krisen. Die deutsche Außenpolitik der Bonner Ära war jahrzehntelang erfolgreich damit, jegliche Glorie zu vermeiden und stattdessen im Hintergrund ihre Interessen durchzuziehen.

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Orbán mit George W. Bush, 2001
Wesentlich bedenklicher als die Völker-Romantik Orbáns aber ist sein Rechtsstaatsverständnis. Bei den Fragen, die das ungarische Mediengesetz und die umstrittene Verfassung betreffen, äußert er sich im Interview auch wesentlich vorsichtiger, flüchtet sich eher in Politikerphrasen als in den Episoden, in denen er dem Europa der Nationen die ungarische Königskrone aufsetzt. Den meisten Fragen weicht er aus, indem er sich in Formalien flüchtet, indem er etwa die absolute Zahl von Rechtsbeschwerden der EU gegen Ungarn mit denen gegen andere Staaten vergleicht, was natürlich ein Milchmädchentrick ist: während es bei anderen Angelegenheiten vielleicht um Verstöße gegen die Gurkenkrümmungsgradrichtlinie geht, beschwert man sich in Ungarn wegen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen. Zu den Menschenrechten bekennt sich Orbán auch eiligst, schiebt aber eine schwerwiegende Einschränkung hinterher: die Grund- und Menschenrechte seien lediglich abstrakt, "ohne Leben". Diese Idee allerdings klingt äußerst vertraut, hervorgeholt aus dem Verdauungstrakt der Geschichte.

Es ist die Argumentation rechtsradikaler Juristen der zwanziger und dreißiger Jahre, allen voran Carl Schmitts. Es ist die Argumentation mit dem "gesunden Volksempfinden". In der Beschwerde, dass den Rechten das "Leben" fehle und sie lediglich abstrakt begreifbar seien, offenbart Orbán einen grundlegenden Mangel an Verständnis für die Funktionsweise und Prinzipien eines Rechtsstaats. Orbáns Rechtsverständnis ist flexibel. Wenn die Mehrheit des Volkes einer bestimmten Meinung ist, so muss diese Meinung richtig sein und steht über den Gesetzestexten. Es ist das Entscheiden aus dem Bauch heraus, anstatt mit dem kalten Verstand des Juristen. Es ist eine sehr, sehr gefährliche Straße, die fast sicher in einer menschlichen Katastrophe enden muss. Für ihn ist es deshalb auch kein Problem, die populistische Kritik am Neoliberalismus und dem Finanzkapitalismus aufzugreifen, seiner Bewegung anzupappen und gleichzeitig Finanzkrise und Deregulierung mit den Sozialisten zu assoziieren.

Da passt es ins Bild, dass er einen Gutteil seiner Legitimation aus dem Wahlergebnis zieht. Orbán gibt sich gegenüber der geschlagenen Linken zivil und attestiert ihr politischen Selbstmord. Obwohl er erklärt, dass ein Aufstieg "wie Phoenix aus der Asche" nicht auszuschließen ist, schimmert seine Überzeugung, alle erdenklichen Steine in den Weg zu legen immer wieder durch. Orbáns Demokratieverständis ist keines, das das westliche Europa einschließlich der Bundesrepublik teilen könnte. Wer die Macht hat, hat für Orbán das Recht. Diese Macht rücksichtlos für den Dienst an seiner Sache zu nutzen ist Orbán bereit, darin sieht er die Stärke seiner Partei und seines Landes - wir sind wieder beim Rückgriff auf die "christlichen Traditionen", aus deren mythischer Tiefe er seine Legitimation bezieht. Deswegen attestiert er auch Ungarn das Potenzial, Merkels harten Sparkurs durchzuziehen, im Gegensatz zu den "schwachen" Nationen des Südens. Richtig gruselig ist es, dass er den deutschen "Naturinstinkt" mit dieser Zwei-Drittel-Mehrheit gleichsetzt. Für Orbán sind die Deutschen in einem ständigen, mentalen Ausnahmezustand der Machtfülle. Wo Ungarn die überwältigende parlamentarische Mehrheit braucht, reicht in Berlin die deutsche Volksseele.

Viktor Orbán ist definitiv ein Novum in der EU. Das Ungarn, das er zu schaffen gedenkt, hat wenig gemein mit den Idealen der EU und den meisten Staaten, die sich in ihr befinden. Sein Verständnis von Staat und Nation stammt aus einer eigentlich versunkenen Zeit und garantiert schwere Konflikte in Europa mit Ungarns Nachbarn, denn Budapest hat es nie verwunden, dass ethnische Ungarn in Rumänien und anderen Nachbarstaaten leben, und Orbáns Äußerungen lassen nicht gerade darauf hoffen, dass er eine Politik der Nichteinmischung in Anderer Angelegenheiten bevorzugt. Er ist entschlossen, die in seinen Händen konzentrierte fast unbegrenzte Macht zu nutzen und zu verhindern, dass sie ihm wieder entrungen wird. Die Interpretationen etwa Max Steinbeis' vom Verfassungsblog sind wohl richtig. Orbán verwandelt Ungarn in eine Autokratie, einen Fidesz-Staat, und er empfiehlt sich als Modell für Europa. Orbán offenbart eine tiefgehende Unfähigkeit, die Grundlagen des modernen Rechtsstaats nachzuvollziehen, und zieht aus einem merkwürdig veralteten Geschichtsbegriff die Legitimation für seine rechtspopulistische Ideologie. Mit Ungarn steht Europa noch Einiges bevor, besonders wenn andere Staaten Orbáns ausgestreckte Hand ergreifen sollten. 

Bildnachweise: 
Orbán 2010 - EPP (gemeinfrei)
Wahl - Dodann (gemeinfrei)
Bush - White House (gemeinfrei)

4 Kommentare:

  1. Zuerst einmal vielen Dank für die ausführliche Analyse dieses Interviews mit Viktor Orbàn.
    Es liegt mir fern, die kruden Thesen Orbàns, seine Besetzung aller möglichen Ämter mit Parteigängern oder seine mehr als fragwürdigen Verfassungsänderungen zu verteidigen. Trotzdem möchte ich auf zwei Punkte hinweisen, die im "Westen" allzuoft vergessen werden oder untergehen:

    - Die Kritik der EU an den Vorhaben Orbàns ist eigentlich erst da wirklich publik gemacht worden, als er auch auf die Ungarische Nationalbank Einfluss nehmen wollte. Gegen die verschiedenen Mediengesetze gab es zwar auch schon davor Proteste, aber diese waren deutlich weniger auf der politischen Ebene vorhanden, sondern beschränkten sich auf Berichte über Demonstrationen in Ungarn. Ich habe daher den Eindruck, dass die politischen Proteste der EU gegen Orbàn das Thema "Menschenrechte" nur als Aufhänger nutzen, in Wirklichkeit aber eher die "alternativlose" EU-Fiskalpakt-Politik sichern wollen. Die Besetzung wichtiger Posten mit eigenen Leuten und die Einflussnahme auf die Medien ist auch in anderen ehemaligen Ostblockstaaten zu beobachten (z.B. in Polen unter der amtierenden Regierung Tusk), führt da aber zu keinen Beschwerden von Seiten der EU, da die Wirtschaftspolitik dieser Regierungen brav auf dem allgemeinen EU-Kurs bleibt.

    - Zu den "Sozialisten" in Ungarn und anderen ehemaligen Ostblockstaaten muss ich Orbàn leider zustimmen. Die hemmungslose Privatisierung von ehemaligem Staatseigentum nach 89 wurde in vielen Ländern vor allem von den aus den ehemaligen Einheitsparteien hervorgegangenen Sozialisten durchgeführt. Dabei wurde an vielen Stellen das Staatseigentum an einflussreiche Personen aus dem Umfeld der Sozialisten verramscht, die darauf dann ihre nahezu oligarchische Machtbasis aufbauen konnten und mit den Gewinnen zu Millionären wurden. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass Orbàn, so wie viele Bürger im Osten, den entfesselten Kapitalismus mit grossen privaten Gewinnen auf Kosten der Allgemeinheit und Quasi-Monopolen in vielen Bereichen mit den Sozialisten gleichsetzen. Daher würde ich es sehr begrüssen, wenn man die "Sozialisten" im Osten, die teilweise noch deutlich neoliberaler agieren als die SPD, etwas differenzierter betrachten würde. Selbstverständlich müssen die ungarischen Sozialisten in ihrem Kampf gegen die Verfassungsänderungen unterstützt werden. Das sollte aber nicht so weit gehen, dass man sie bedingungslos gegen jede (auch berechtigte) Kritik aus dem rechten Lager verteidigt.

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  2. Das Interessante an der Sozialistenrhetorik Orbàns ist, dass er die (richtige) Wirtschaftspolitik der ungarischen Partei in einen Topf wirft mit der vergleichbaren europaweiten Politik und eine weltumspannende linke Weltverschwörung postuliert, der sogar Barack Obama angehört. Dieses Potpourri erlaubt ihm dann, mit seinem Rechtspopulismus quasi einen Rundumschlag zu landen. Ohne dieses Element kann er sich nur auf typisch rechte Themen wie Ausländerfeindlichkeit stützen; so aber erst wird es zur echt massentauglichen Ideologie.

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  3. Orban argumentiert sehr sehr nah am Horthy Faschismus, sogar mit der selben aussenpolitschen Ausrichtung. Ungarische Paramilitärs treiben weitestgehend ungestört, zum Teil unter wohlwollenden Blicken der Orban-Partei, ihr Unwesen. Die nächsten Schritte sind zu ahnen. Wenn die EU nicht massiv einschreitet, könnte sich wieder im Herzen Europas ein Regime bilden, von dem man dachte es sei Geschichte.

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  4. Wichtig zu erwähnen, wäre noch der Umgang mit Arbeitslosen in Ungarn. Sie werden unter Orban als Menschen zweiter Klasse behandelt. Kennen wir das nicht irgendwoher?

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