Originalbeitrag auf Deliberation Daily.
Ja, er darf.
Ok, vielleicht sollten wir etwas spezifischer werden. Bundespräsidenten sind im bundesdeutschen System bekanntlich eine gewisse Kuriosität, etwas, das man sich leistet, das aber keine essenzielle konstitutionelle Signifanz besitzt. Der Anspruch an das Amt ist es, tagespolitische Streitigkeiten zu meiden und stattdessen Deutschland und das deutsche Volk als Ganzes zu repräsentieren - ein demokratischer Nachhall von Kaiser Wilhelm II. "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche." Im Großen und Ganzen ist das den Bundespräsidenten bislang gelungen. Gauck ist wohl derjenige, der sich seit Theodor Heuss am offensivsten einmischt und dabei auch gerne einmal tief ins Klo greift. Seine Kommentare zu Thüringen und der Frage eines linken Ministerpräsidenten allerdings sind ein Wandel auf einem schmalen Grat, ohne dass Gauck herunterfällt.
Das gilt im Übrigen nicht für seine jüngsten Einlassungen zur Außenpolitik - diese sind tatsächlich indiskutabel. Es kann nicht sein, dass ein Teil der Exekutive einen anderen konterkariert und die BRD so widersprüchliche Signale aussendet, gerade, wenn diese vom formal höchsten Amt im Staate kommen. Das ist im besten Falle unprofessionell und dilettantisch, im schlimmsten Falle extrem gefährlich, gerade wenn es um Russland und die Ukraine-Krise geht.
Auf der innenpolitischen Ebene kann der Bundespräsident daher ohne größere Kollateralschadengefahr unterwegs sein, besonders, weil das Amt tatsächlich als nicht besonders mächtig gilt. Das aber ist kein Argument gegen die sonst übliche Zurückhaltung, denn tatsächlich hat der Bundespräsident sich unparteiisch zu verhalten. Im Falle der Regierungsbildung in Thüringen allerdings hat Gauck es geschafft, die Kurve gerade noch zu kriegen. Zum Einen äußerte er sich dezidiert in seinem Lieblingsthemengebiet, der Freiheit, und aus seiner persönlichen Biographie als Bürgerrechtler im Osten heraus. Es war also mindestens so sehr ein Statement des Privatmenschen Gauck wie das des Bundespräsidenten.
Zudem schaffte Gauck es, in der Formulierung seiner Antwort alles im Konjunktiv zu lassen. Er sprach davon, dass sich "ein Mensch in seinem Alter" anstrengen müsse, um das zu akzeptieren, und dass Teile der LINKEn in ihrer Verfassungstreue Zweifel aufwerfen würden. Er sagte dezidiert nicht, dass dies auf die Führungsriege in Thüringen zuträfe; seine Bemerkungen waren noch halbwegs als allgemeiner Natur einstufbar. Wie gesagt, ein schmaler Grat, aber dieses Mal blieb er gerade noch auf der Seite, die ihm erlaubt ist. In der Vergangenheit hatte er sich schon deutlich schärfer und konfrontativer gegenüber der LINKEn gezeigt.
Es zeigt sich hier einfach einmal mehr, dass die Wahl eines Charakterkopfs in das Amt ein zweischneidiges Schwert ist. Gauck stieß sicherlich mehr Debatten an als Köhler. Er ist mit Sicherheit eine interessantere Figur als Wulff, mit mehr Ecken und Kanten und Persönlichkeit. Aber das heißt halt auch, dass diese Ecken und Kanten, nun ja, anecken. Und dass Gauck das mit Sicherheit mehr am linken als am rechten Spektrum tut dürfte bei seinem Hintergrund nicht verwundern. Verbieten wir Gauck aber, diese Äußerungen zu tun, so verbieten wir es ihm auch, wenn AfD oder NPD in Greifweite der Macht kommen. Und das kann niemand ernsthaft wollen.
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