Donnerstag, 25. Dezember 2014

PEGIDA im Substantiv

Wer oder was ist Pegida? Die Frage des grammatischen Substantivs beschäftigt Nachrichtenredaktionen in ganz Deutschland und mittlerweile auch darüber hinaus. Ist es die Mitte der Gesellschaft, die hier protestiert? Ist es eine Versammlung von "Nazis in Nadelstreifen", wie der Innenminister von Nordrhein-Westfalen meint? Ist es eine Gruppierung von Spinnern? Die Demonstranten enziehen sich den üblichen Kategorisierungen von Protestmärschen. Weder ist die Antifa mit den Autonomen und dem Schwarzen Block unterwegs, noch sind des die Neonazis und die ihnen verbundenen Gruppen mit Glatzen. Schwarz-Weiß-Rot und Springerstiefeln. Zusätzlich unscharf wird das Bild durch die Zusammenarbeit der Pegida-Organisatoren mit den Leuten hinter den eher linken "Friedensmahnwachen" und ähnlichen Protestformen, die so überhaupt nichts ins rechte Schema zu passen scheinen - und gekrönt von den schwarz-rot-goldenen Flaggen und den Rufen von "Wir sind das Volk!", die schon bei den Anti-Hartz-IV-Demos von 2004 merkwürdig deplatziert klangen. Wer oder was ist also Pegida?

Das Pegida-Gemisch ist eine sehr potente Mischung. Ihr Organisator hat aus dem Fehlschlag der HoGeSa-Demo gelernt, die in der ordnungsliebenden deutschen Bevölkerung angesichts der offensiv zur Schau gestellten Gewaltbereitschaft und dem Polizei-Großaufgebot kaum positiv gegenüber der Scharade eingestellt sein konnte. Erfolgreich erprobt wurden hier aber bereits die Codes, die für Pegida konstitutiv sein sollten: so war der Protest nicht gegen Ausländer, nicht gegen Muslime, er war gegen "Salafisten" - was auch immer das dann im Einzelnen konkret heißen mag. Bei der Pegida richtet sich der Protest dementsprechend gegen "Islamisten" und "Wirtschaftsflüchtlinge" - ebenfalls bestenfalls unscharfe, auf reine Sicht nicht überprüfbare Kategorien. Man sollte dies aber nicht als eine reine Fassade verkennen, hinter der sich ein übelwollender Rassist versteckt. Zwar mögen die neuen Code-Begriffe für manche Rassisten eine willkommene Deckung sein um sagen zu können, was sie schon immer gesagt haben, nur eben jetzt unter Zustimmung des Bürgertums. Das Gefühl, dass "die Flüchtlinge" eigentlich keine sind und stattdessen nur deutsche Sozialleistungen abgreifen wollen, ist sehr weit verbreitet und hat in den letzten Jahren (seit der großen Kontroverse um die Visa-Politik der Grünen anfangs des Jahrhunderts) schlafend gelegen. Dieses Gefühl ist auch keines, dem durch Fakten oder den Verweis darauf, dass die Leute ja gar kein Asyl bekommen, beizukommen. Solcher legalistischer Unsinn wird wenig helfen, denn dass aktuell niemand nach Syrien zurückgeschickt wird und dass eine Überprüfung der Motive kaum möglich ist ist ja gerade das zutreffende Argument von Pegida.

Auf einer realen Gefahrenlage basiert das Gefühl dagegen nicht, wie bereits unzählige Male festgestellt wurde. Gerade in Ostdeutschland, der Hochburg der Proteste, ist die Zahl der Muslime verschwindend gering. Flüchtlinge dürfte es noch viel weniger geben. Es geht auch nicht um irgendwelche konkreten Flüchtlinge, die jetzt gerade die Festung Europa berennen - die afrikanischen Flüchtlinge, die ständig im Mittelmeer ertrinken oder irgendwann in den Flüchtlingsunterkünften von Lampedusa sitzen, spielen eine auffällig geringe Rolle in den Protesten. Diese setzen "Flüchtlinge" viel mehr mit denjenigen Migranten gleich, die man schon immer nicht im Stadtbild sehen wollte. Auch gibt es aktuell keine besonders hohen oder steigenden Asylbewerberzahlen, wie dies in den 1990er Jahren der Fall war, bevor CDU und SPD von den damaligen Protesten getrieben, die Sorge und Nöte der Bürger ernst nehmend, das deutsche Asylrecht effektiv abschafften.

Der Erfolg Pegidas beruht ja aber gerade auf dem Fakt, dass die Proteste gegen Flüchtlinge und Ausländer nur einen wenn auch wichtigen Teil der Botschaft ausmachen. Pegida ist, was ihre Positionen anbelangt, ein großer Gemischtwarenladen, in dem eigentlich jeder etwas finden kann. Denn die Ausländerfeindlichkeit Pegidas ist nur ein Symptom, kein zentrales Element dieser Bewegung. Sie wird geeint von etwas anderem: dem diffusen und stets vorhandenen Gefühl, abgehängt zu sein vom Mehrheitskonsens in Deutschland, ihm nicht mehr anzugehören und den Kontakt zum eigenen Land zu verlieren. Die Furcht vor der "Islamisierung", so albern sie auch ist, hat ihre Wurzeln in einer wesentlich schwieriger zu formulierenden Furcht vor einer ganzen Reihe von Faktoren, die die moderne BRD bestimmen: Individualisierung, Wertewandel und wirtschaftlicher Wandel.

Die ungeheure Individualisierung, die ihren Katalysator vor allem im Internet findet, aber auch stark durch den wirtschaftlichen Wandel befeuert wird. Immer mehr und mehr kollektive Tätigkeiten werden zugunsten individueller Tagesplanung aufgegeben. Hobbys zerfasern, Interessensgebiete werden spezieller. Freundschaften bestehen über längere Distanzen und sind weniger ortsgebunden als früher. Das Individuum wird viel mehr in den Vordergrund gerückt und muss sich weniger gegenüber der Gesellschaft rechtfertigen. Dies führt zwangsläufig zur Auflösung bisheriger Tabus. Besonders hervor sticht hier die männliche Homosexualität, deren Akzeptanz im Elitenkonsens der neuen BRD die traditionelle Wertewelt der Demonstranten zutiefst erschüttert. Dies geht mit einem gleichzeitigen Angriff auf bisherige traditionelle Geschlechterrollen einher. Toxisch wird diese Mischung dadurch, dass jeder, der sich diesen neuen Werten verweigert - wie übrigens auch dem Lippenbekenntnis zur Integrationsgesellschaft - in der Ecke der "Bösen" steht. Man ist dann Rassist, reaktionär oder patriarchalisch.

Die letzten 20 Jahre haben einen gewaltigen gesellschaftlichen Wandel gesehen. Unter Rot-Grün wurde eine Tradition, die die Menschheit effektiv mindestens die letzten Jahrhunderte pflegte - die Xenophobie - plötzlich in die Ecke des schlechten Geschmacks gestellt. Wer sich nicht veränderte, war plötzlich Nazi - nur wer sich änderte, wer seine Grundeinstellungen revidierte (oder zumindest so tat), konnte weiter am Elitenkonsens teilhaben, der von Politik, Journalismus und Bildungssystem aus definiert wird. Unter der Großen Koalition geriet dann das traditionelle Familienbild unter Beschuss. Das Elterngeld zementierte endgültig die Zielvorstellung einer nicht nur gleichberechtigten, sondern gleich gelebten Partnerschaft zwischen Mann und Frau. Dieser Schwenk der CDU in Richtung Moderne ist für ihr traditionelles Klientel genauso bedeutsam wie für die SPD-Wählerschaft Hartz-IV war, nur hat sie es bisher - auch wegen der klassischen konservativen Beharrungskräfte - besser verkraftet. Wie die Montagsdemos 2004 aber die SPD für ihre Abkehr von den klassischen Werten der gewerkschaftlich organisierten Produktionsindustrie angriffen, so greift nun Pegida die CDU für ihre Abkehr von konservativen Kernbeständen an, wenngleich mit einem deutlich weniger deutlichen Feindbild.

Die AfD ist genauso die Verkörperung dieses Unwohlseins, wie es die LINKE für die von Hartz-IV und der neuen Arbeitswelt überrollten Gesellschaftsschichten 2005 war. Sie verspricht einen Erhalt einer idealisierten "früheren" Welt, in der Werte wie Fleiß und Ordnung mit ökonomischem und familiären Erfolg korrespondieren, so wie die LINKE eine Rückkehr zum gut bezahlten 8-Stunden-Tag "beim Daimler" verspricht, der mit jährlichen Lohnsteigerungen und solider Rente einhergeht. Beide Parteien wie Demonstrationsbewegungen nutzen dabei auch die anderen Strömungen aus, die im jeweiligen ideologischen Bereich zu finden sind - Basisdemokratie und Pazifismus bei der LINKEn, klassische Rollenverteilungen und Ordoliberalismus bei der AfD. Man muss sich nur die Forderungen der Pegida-Bewegung anschauen um die Parallelen zu erkennen, die hier formuliert werden. Das heißt natürlich nicht, dass jeder Pegida-Demonstrant automatisch die AfD wählt. Die Demonstranten gegen Hartz-IV wanderten auch nicht massenweise zur LINKEn. Eine solche parlamentarische Kanalisierung des Protests wäre ja noch demokratisch gesund.

Was bei der Pegida neu ist ist das grundsätzliche Misstrauen in die Protagonisten des Elitenkonsens. Man glaubt der Mainstream-Presse nicht (und weicht stattdessen auf ideologisch einseitig fixierte Medien wie RT Deutschland aus), man vertraut der Politik nicht (nicht dass Politikerverachtung etwas Neues wäre, aber die grundsätzliche Ablehnung des Systems selbst ist etwas Neues) und mann fühlt sich generell nicht ernst genommen. Die Versuche der CDU, mit doppelten Böden und Strohmännern etwas von der Pegida-Wut zu kanalisieren werden ähnlich erfolglos bleiben wie die Versuche der SPD nach 2005, mit Initiativen à la "ALG I für 18 Monate statt für 12" das "abgehängte Prekariat" wieder für sich zu gewinnen. Die Frage ist, ob überhaupt irgendeine Partei in der Lage sein wird, die Pegida-Demonstranten politisch zu vertreten. Nach Lage der Dinge kann diese Lücke einzig die AfD füllen.

Wenn das nicht passiert, wird Pegida enden. Die Bewegung wird an Momentum verlieren, die Demonstrationen kleiner und kleiner, bis irgendwann nur noch 30 oder 40 Leute mit ein oder zwei Transparenten vor der Semperoper herumstehen. Wer wissen will, wie das aussieht, braucht nur auf die Überreste der S21-Demos in Stuttgart schauen. Zurück bleibt das Gefühl der Machtlosigkeit, das durch die Geschehnisse bestätigt wurde. Denn das perfide ist ja, dass die Demonstranten Recht haben. Sie sind abgehängt vom Konsens einer Elite, sie fallen aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft heraus, sie verstehen ihr eigenes Land tatsächlich nicht mehr, und sie haben weder in Politik noch Wirtschaft noch Presse irgendwelche Vertreter übrig. Das ist kein gesunder Zustand für eine Demokratie.

Mittwoch, 17. Dezember 2014

Was Atari und iPhone gemeinsam haben

Voraussagen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Das klassische Bonmot kann immer herausgeholt werden, wenn man sich im Nachhinein die Voraussagen anschaut, die alle nicht eingetroffen sind (und das sind die meisten). Kürzlich geisterte im Netz ein Artikel der Welt herum, in dem sich die Autoren über die Voraussage der Stiftung Warentest aus dem Jahre 1984 lustig machen, dass dem Heimcomputer keine große Zukunft beschieden sei, da sich keine vernünftigen Anwendungsmöglichkeiten finden ließen. Ho, ho, ho, die Trottel. Wenn man aber genau hinschaut, hatte die Stiftung Warentest jedoch mit ihrer Einschätzung völlig Recht. Um das zu verstehen, müssen wir ihre Prognose genauer anschauen.

Problematisch empfanden die Tester, die "verzweifelt nach Anwendungsmöglichkeiten suchten", nämlich nicht die Möglichkeiten des Geräts per se, sondern seine aktuellen Grenzen. Die schrottigen Eingabegeräte (effektiv unbrauchbare und völlig unergonomische Tastaturen), die grausame Grafikqualität, die teilweise das Lesen unmöglich machte, das Nicht-Vorhandensein von Speicherplatz und vieles andere Mankos machten die damaligen Heimcomputer (nicht zu verwechseln mit den als Arbeitsgeräte gedachten Personal Computern) zu ziemlich teuren technischen Spielzeugen, die damals eine Modeerscheinung wie das erste iPhone 2007 waren. Auch dem wurde keine Zukunft vorausgesagt, weil es letztlich für seinen Preis viel zu wenig Anwendungsmöglichkeiten bot (man denke daran, dass erst das iPhone 2 Apps besaß). 
Ebenfalls auffällig war, dass über die Hälfte der Käufer angab, gerne an den Geräten spielen zu wollen, was für rund 70% der stolzen Besitzer denn auch der Haupteinsatzzweck der Geräte wurde. Nicht gerade das Kompetenzfeld, das die Hersteller mit ihrer Betonung der Büro- und Verwaltungsoptionen immer anpriesen und das, wie die Stiftung Warentest korrekt vermerkte, angesichts der geringen Grafikfähigkeiten der Rechner auch eher ungenügend ausgefüllt wurde. 
Beide Voraussagen waren daher für ihr jeweiliges Produkt korrekt - sofern diese Mankos nicht ausgeräumt wurden, gab es für die breite Mehrheitsbevölkerung eigentlich keinen ernsthaften Grund, sich die überteuerte Hardware zuzulegen. Den Durchbruch auf den Massenmarkt schafften die Geräte daher auch erst, als eben diese Mankos ausgeräumt waren. Dies gelang für die Heimcomputer vor allem durch einfach zu bedienende Betriebssysteme und Programme, allen voran Microsofts DOS und die Office-Anwendungen dazu.
Man würde aber die Stiftung Warentest auffordern, ihr Mandat ziemlich zu missachten, wenn man sie aufforderte, einen Blick in die Glaskugel abzugeben und mögliche zukünftige Produkte einzuschätzen. Was sie bewerteten war das Produkt, das ihnen zur Verfügung stand - und das waren schwer defizitäre, völlig überteuerte Heimcomputer ohne vernünftige Anwendungsmöglichkeiten.

Dienstag, 16. Dezember 2014

Am Tor der Finsternis

Ein Kommentar von BILD-Journalist Julian Reichelt hat jüngst die Gemüter erregt:
"Andererseits denken wir an die unbequeme Frage: Was wäre wenn? Was wäre, wenn es bei einer Entführung um das Leben eines Kindes ginge – wie im Fall Metzler? Was wäre, wenn ein Terroranschlag vielleicht verhindert werden könnte? Was wäre, wenn man durch Folter Osama bin Laden auf die Spur gekommen ist? Die Antwort lautet: Es gibt darauf keine Antwort. Es ist ein moralisches Dilemma. Deswegen fürchten wir die Frage, blenden sie aus. Aber genau deswegen beschäftigt diese Frage auch schon immer Rechtsgelehrte und Philosophen."
Reichelts moralisches Dilemma beschäftigt Regierungen schon seit langer Zeit: was ist, wenn wir eine Chance haben, Menschen zu retten, indem wir, nur dieses eine Mal, anderen Menschen ihre Grund- und Menschenrechte entziehen? Weder Reichelt noch sonstwer geht dabei davon aus, dass dies Antwort auf diese Frage legal mit einer carte blanche für Folter beantwortet werden kann. Die Rechtslage ist klar, auch in Deutschland spätestens seit dem BVerfG-Urteil zum Abschuss von Passagierflugzeugen: ein Abwägen von Menschenrechten kann es nicht geben, Punkt aus Ende. Natürlich sieht die Lage immer anders aus, wenn man der arme Tropf ist, der die Entscheidung treffen muss. Der steckt dann nämlich in dem von Reichelt angesprochene "moralischen Dilemma", das der BILD-Mann aus gutem Recht nicht als legales Dilemma bezeichnet, weswegen er seinen Artikel entsprechend abschließt: "Der Rechtsstaat darf niemals zur Folter ermutigen. Wenn er das tut, stößt er die Tore der Finsternis auf." Haben die USA nun also das Tor zur Finsternis aufgestoßen, oder steht der Westen in angstvoller Anspannung zitternd vor der noch verschlossenen Türe?

"Wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein", schrieb Friedrich Nietzsche in "Jenseits von Gut und Böse", was vermutlich der Ort ist, an dem sich Dick Cheney aktuell immer noch beheimatet glaubt. In der Panik nach 9/11 - und diese Panik war ein reales Phänomen, falls man das inzwischen vergessen haben sollte - war man der Überzeugung, an einem Abgrund zu stehen und dass jeglicher Schritt weg davon unternommen werden musste und dass jedes Mittel hierzu zwingend gerechtfertigt war. In Dick Cheneys Interview-Äußerungen zeigt sich diese Überzeugung von jeder durch Erfahrung oder Altersweisheit ungetrübter Uneinsichtigkeit: die USA können per definitionem nicht foltern. Das können nur die Bösen. Für Cheney ist das was geschah schlicht keine Folter.

Damit ist er zugegebenermaßen in einer Außenseiter-Position. Die meisten anderen Verteidiger der Folter rechtfertigen diese hauptsächlich mit dem Abwägen des moralischen Dilemmas oder den unklaren Befehls- und Kompetenzstrukturen, die eine klare Abwägung von Richtig und Falsch fast unmöglich gemacht hätten. Tatsächlich haben die Memos aus dem Justizministerium, die die Rechtmäßigkeit der Folter belegen sollten (und die mittlerweile samt und sonders zurückgezogen wurden) dem Ganzen eine Aura der Legalität und Legitimation verliehen, die für den einfachen CIA-Contractor, so es ihn überhaupt interessierte, kaum zu durchschauen gewesen sein dürfte: die Bürokratisierung von organisierter Menschenrechtsverletzung und ihr legaler Deckmantel dürfte für mehr als einen Beobachter ein Echo aus totalitären Systemen in sich tragen, inklusive der "Wir-gegen-Sie"-Mentalität und der Vorstellung, im Kampf für die gute Sache heilige der Zweck die Mittel.

Genau diese Einstellung aber heißt, jenes Tor zur Finsternis aufzustoßen, von dem Reichelt sprach. Es ist faszinierend wie sehr die Abscheu vor der Bush-Regierung jener Tage bereits wieder in Vergessenheit geraten ist, aber tatsächlich, wie uns auch Krugman erinnert, galten Bush und Cheney schon zu ihrer Zeit progressiven Geistern schlicht als Inkarnation des Bösen und als ein Irrweg in die Dunkelheit. Abgesehen von den USA selbst, wo eine Beschäftigung mit den Geschehnissen und ihre Aufarbeitung durch die innenpolitischen Grabenkämpfe völlig verzerrt wird, gibt es in der Öffentlichkeit auch kaum Zweifel an dem, was geschehen ist: die USA starrten lange in den Abgrund, und er starrte zurück. Sie tranken tief aus der Finsternis, die ihnen aus dem Tor entgegen kam. In der Zeit zwischen 2002 und 2009 waren sie ein rogue state, ein Teil jener "Achse des Bösen", zu deren Abwehr sie das Böse selbst beschworen. Debattiert wird eigentlich nur noch die Frage, ob unter Obama das Tor geschlossen wurde oder ob die Drohnenschläge es weit offenhalten.

Relevant wird daher für die weitere Bewertung der Folter-Ära vor allem sein, wie die USA selbst damit umgehen. Ihr Sündenfall wurde von jedem außer ihnen selbst bereits anerkannt. Das moralische Kapital, das sie als "Leader of the Free World" einst für sich in Anspruch nehmen konnten, ist praktisch verspielt, weggeworfen von einer wildgewordenen Neocon-Bande in einer Ära der Konfusion und Furcht. Aber die Veröffentlichung des hunderte von Seiten umfassenden Reports, der vermutlich bei weitem nicht alle Fälle behandelt, muss bereits als ein Zeichen gesehen werden. Bereits dies war hart umkämpft: mit dem Argument der nationalen Sicherheit wurde versucht, seine Veröffentlichung zu verhindern, und es zeigt sich, dass bei weitem nicht alle Konservativen den tiefen moralischen Fall ihres Landes und ihrer Partei ignorieren:


Aktuell steht die Frage an, ob es eine strafrechtliche Verfolgung der Täter geben wird. Der Senatsreport selbst ist letztlich eine Ansammlung von hunderten Seiten Beweismaterial, und die Täter haben ihre Verwicklung sogar selbst zugegeben. Rein rechtlich scheint der Fall klar zu sein: die internationalen Konventionen zur Folter verlangen eine Anklage der Täter. Gleichzeitig ist eine tatsächliche Anklage äußerst unwahrscheinlich. Die meisten nicht-westlichen Staaten werden sich eher zurückhalten, denn wer will schon für die Folter im eigenen Land unangenehme Präzedenzfälle setzen? Die meisten westlichen Staaten werden sich zurückhalten, weil ein direkter Konflikt mit den USA nicht nur sinnlos, sondern auch extrem schädlich ist. Und die USA selbst werden sich ebenfalls zurückhalten, weil eine Anklagewelle für die Vorgängerregierung durch die Nachfolgerregierung eine gigantische Gefahr für die Demokratie ist. So einleuchtend es auf dem Papier scheinen mag, man muss sich nur mit der Geschichte der Römischen Republik und Cäsars Aufstieg zur Macht beschäftigen (oder, wer es gerne näher hat, mit Erdogans Methoden in der Türkei) um zu sehen, wohin die Praxis der juristischen Verfolgung früheren Regierungshandelns führen kann.
Um vorschneller Kritik vorzubeugen, dass solche Argumente im Angesicht von Menschenrechtsverletzungen nichts verloren haben, sei noch einmal darauf hingewiesen, dass das alles nicht im luftleeren Raum stattfindet. Taten können ungewollte Konsequenzen entwickeln, die sich als deutlich verheerender herausstellen als der Schaden, den man eigentlich abwenden wollte. Man muss nur Dick Cheney fragen. Die Idee, man könne mit einigen begrenzten Fällen von "enhanced interrogation" (es geht nichts um Euphemismen, wenn man Menschenrechtsverletzungen bürokratisiert) Schaden vom Land abwenden, kommt jetzt zurück und erweist sich als ungeheuer schädlich. Die Idee, man könne mit jegliche politische Realitäten ignorierender, idealismusgetriebener Empörung den Geist zurück in die Flasche stecken, könnte sich noch als viel üblerer Rohrkrepierer erweisen. Oder glaubt jemand ernsthaft, die Destabilisierung der USA von außen (durch Angriffe ihrer Verbündeten) und innen (durch eine Radikalisierung des politischen Systems) würde künftigen Menschenrechtsverletzungen vorbeugen? In einer geradezu gespenstischen Parallelität hat die Science-Fiction-Serie "Battlestar Galactica", die ich weiterhin uneingeschränkt empfehlen kann, diese Fragestellung bereits 2004 aufgegriffen: was passiert, wenn wir im Kreuzzug für unsere Ideale zu weit gehen und die Realität aus den Augen verlieren?


Letztlich werden sich die USA vor allem an der Aufarbeitung und ihren weiteren Taten messen lassen müssen und nicht an der Frage, ob sie die Täter verfolgen. Deutschland ist auch nicht das Land, das es heute ist, weil es die Auschwitz-Prozesse geführt hat, sondern weil man seither sehr bewusst versucht hat, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und es künftig besser zu machen. Es ist die Stärke des Westens nicht so sehr, dass er seine Täter in Schauprozessen aburteilt, sondern dass er sich seinen dunklen Momenten stellen kann. Oder glaubt jemand, die Debatte, wie sie aktuell in und außerhalb der USA geführt wird, sei in Russland oder China vorstellbar, oder im Iran? Dort wären vielleicht irgendwelche Sündenböcke abgeurteilt worden, um damit Land und Gesellschaft reinzuwaschen. Dies kann nicht der Weg sein, den wir beschreiten, und er wird es nicht sein. Was wir von den USA erwarten müssen ist daher weniger, Bush und Cheney auf die Anlagebank zu setzen, sondern vielmehr, dass sie sich zu dem begangenen Unrecht bekennen und Schritte unternehmen, dieses künftig zu unterbinden. Nur so wird es möglich sein, das Tor zur Finsternis zu schließen und den Blick endlich vom Abgrund abzuwenden.

Montag, 1. Dezember 2014

Das Internet frisst unsere Kinder!!!11elf!!!!

Cyberbullying über Facebook. Mobbing über Whatsapp. Gehackte Nackbilder, gepostet auf Twitter. Beleidigende Kommentare unter Instagramm-Selfies. Zarte Kinderwünsche, in Google-Algorithmen verwandelt und für einen Judaslohn der Wirtschaft verkauft. Verwaiste My-Space-Profile. Explodierende Kosten für das mobile Internet auf dem Handy des Kindes. Ein peinliches YouTube-Video, das permanent repostet wird. Völliges Verlernen der Fähigkeit, stillzusitzen. Kinder, die beim Familientreffen wie Besessene auf die Bildschirme starren. Ein Tag Handyverbot schlimmer als drei Wochen Hausarrest. Die Liste ließe sich wahrscheinlich endlos fortsetzen. Das Netz ist der Bahnhof Zoo des 21. Jahrhunderts. Wenn man seine Kinder nur in die Nähe lässt, werden sie verrohen, ihre sozialen Fertigkeiten verlieren und zu affektgesteuerten Konsummaschinen werden. Die Ängste sind real, sie treiben Eltern um und befeuern zahllose Kolumnen in dank Zeitungssterben nicht mehr gar so zahllosen Feuilletons.

Die Oswald-Spengler'sche Untergangsstimmung setzt aber an der falschen Stelle an. Berechtigte Ängste werden mit unzureichender Ursachenforschung vermengt, man gibt ihnen eine gute Portion Vorurteile und einen gehörigen Schuss Nostalgie bei und kommt dann bei Ideen wie einer FSK-18-Beschränkung für Facebook oder Prepaid-Karten statt Flatrates bei Smartphones heraus. In Hamburg haben sie jetzt dem Projekt der Schule 2.0 den Stecker gezogen aus Furcht, dass die WLAN-Strahlung diselbene Kinder unklaren Gesundheitsrisiken aussetzt, die Smartphones in der Tasche herumtragen, die ständig nach offenen WLANs fahnden und Signale von den Mobilfunktürmen beziehen. Neo-Ludditentum als Ausweis der Furcht vor einer Entwicklung, die längst jeden als "zu alt" zurücklässt, der die 30 überschritten hat. Oder so.

Dabei haben wir es durchaus mit realen Problemen zu tun. Jede Schulklasse hat dieser Tage ihre eigene Whatsapp-Gruppe (Facebook scheint da bereits aus der Mode zu sein). Was in diesen Gruppen geschrieben wird, lässt wegen mangelhafter Syntax und Rechtschreibung nicht nur dem Deutschlehrer die Haare zu Berge stehen, sondern auch den Eltern, die zufällig einen Blick darauf werfen können. Wo dem früheren Opfer von Mobbings durch Klassenkameraden immerhin der schlechte Trost blieb, nach Schulschluss bis zum nächsten Morgen Ruhe zu haben, breitet sich der Terror jetzt 24/7 über die Welt und erfasst dabei Freundeskreise und Peergroups von deren Existenz es nicht einmal vorher wusste. Fragt mal das Star-Wars-Kid.

Was mir immer völlig unklar bleibt ist aber, wie man die Verantwortung so einseitig auf die Technik schieben kann und die eigentlichen Gründe dafür einfach beiseite schiebt. Das Problem ist nicht Whatsapp, das Problem ist, dass die Kinder sich mobben. Die vorhandene Technik verstärkt diese Effekte noch einmal, aber sie schafft sie nicht. Es wird daher auch nichts helfen, ein FSK-16-Schild auf Whatsapp zu kleben, was es als Feigenblatt der Firma ja bereits gibt; das Problem ist, dass Kinder nicht gerade zu den vernünftigsten und verantwortungsvollsten Geschöpfen gehören. Die Verantwortung für den richtigen Gebrauch moderner Medien und sozialer Netzwerke liegt halt nicht nur bei den unter 13jährigen, die sich entgegen der AGB bei Facebook anmelden (die eine Altersgrenze von mindestens 13 Jahren vorsehen), sondern auch bei den Eltern. Und da hapert es gewaltig.

So ist es nicht ungewöhnlich, dass auf Elternabenden völlig schockiert darauf reagiert wird, dass in den Whatsapp-Gruppen gemobbt wird. Auf einer solchen Veranstaltung der zehnten Klasse fragte letzthin ein Elternteil völlig verwirrt, was denn Whatsapp sei. Das ist das Äquivalent dazu, Kinder draußen spielen zu lassen ohne zu wissen, was Straßen und Autos sind und den Kindern vorher beizubringen, dass man da nicht einfach rüberrennt. Genau das passiert aber mit den Medien. Ohne das geringste Verständnis für das Funktionieren der Technik oder die möglichen Apps bekommen Zehnjährige voll funktionsfähige Smartphones in die Hand. Mit derselben Strategie, die sich in den letzten Jahrzehnten als so wirksam gegen Teenieschwangerschaften erwiesen hat, wird dann als einziges Abwehrmittel Enthalsamkeit gegenüber dem Bösen gepredigt. Noch ist es nicht zu spät, vernünftige Strategien im Umgang mit modernen Medien und Kindern zu entwickeln. Der Vogel Strauß ist als Vorbild dafür aber gänzlich ungeeignet.