Sonntag, 31. Juli 2016

"Morning in America" in Philadelphia: die neue Mehrheitsgesellschaft

Parteitage in den USA haben hauptsächlich zwei Nutzen: Einigkeit zu demonstrieren und die Kernbotschaft der jeweiligen Partei, mit der sie ihren Kandidaten ins Rennen schickt, zu betonen. Der Parteitag der Republicans in Cleveland letzte Woche war eine feindliche Übernahme, ein Putsch von außerhalb: die Republicans wurden die Party of Trump. Die Konservativen wurden entweder zu Quislings oder gingen ins politische Exil. Wirklich einig ist die Partei daher kaum. Man kann aber nicht sagen, dass es keine Kernbotschaft gegeben hätte. Amerika, das ist die neue Meistererzählung der GOP, ist ein Dystopia, und nur ein einziger Mann kann es richten: Donald Trump, der praktischerweise in Hillary Clinton auch gleich die Hauptverantwortliche ausgemacht und zum Verbrecher abgestempelt hat. Den Zivilisationsbruch, den der Republikanerparteitag darstellte, habe ich beschrieben. Da in Hillary bei den Democrats das Establishment selbst die Kandidatin stellte, war kaum ein ähnliches Chaos zu erwarten wie in Cleveland. Die Democrats zeigten aber darüber hinaus eine überraschend deutliche Vision Amerikas, die sich krass von der der Republicans abhebt - und den Moment markiert, in dem die Democrats mit neuer Zuversicht den Anspruch verkünden, für die Mehrheitsgesellschaft in Amerika zu sprechen - ein Anspruch, den sie effektiv seit Richard Nixons "silent majority" von 1968 nicht mehr erhoben haben.

Natürlich war der DNC-Parteitag nicht ohne Probleme. Besonders am ersten Tag gab es hässliche Auseinandersetzungen mit einer lautstarken Minderheit von Bernie-Sanders-Unterstützern, die mit dem Mantra "Bernie or Bust" (Bernie oder Pleite) protestierten. Dabei überbrüllten sie eine Rede von DNC-Vorsitzenden Debbie Wasserman Schultz, was angesichts ihrer nicht gerade konfliktfreien Vergangenheit mit Bernie Sanders kaum verwundern dürfte (Clinton ergriff entsprechend die Konsequenz und zwang Wasserman Schultz bereits zu Beginn des Parteitags, statt wie geplant an seinem Ende, zum Rücktritt). Sehr unschön waren die Bilder von weißen Mittelklassedemonstrierenden, die mit "No TPP!"-Rufen schwarze Redner niederbrüllten, die von den Erfahrungen mit Polizeigewalt und Armut berichteten. Sanders' entschlossenes Eingreifen (per persönlicher SMS an alle Delegiertenführer) und vor allem Michelle Obamas und Elizabeth Warrens Reden schlossen dieses Kapitel aber schnell.

Die Rede von Michelle Obama war der erste rednerische Höhepunkt des Parteitags und setzte den Ton für den Rest. Wer auch immer die Rede geschrieben hat kann sich auf die Schulter klopfen; sie ist ein Musterbeispiel politischer Rhetorik, egal, ob man ihren Aussagen zustimmt. Besonders ein Satz stach zurecht heraus: "I wake up every morning in a house that was built by slaves. And I watch my daughters, two beautiful, intelligent black young women, playing with their dogs on the White House lawn." (Jeden Morgen wache ich in einem Haus auf, das von Sklaven erbaut wurde. Und ich beobachte meine Töchter, zwei wunderschöne, intelligente, schwarze junge Frauen, wie sie mit ihren Hunden auf dem Rasen des Weißen Hauses spielen.) Das ist die Vision von Obamas Amerika, auf den Punkt gebracht. Es ist eine bessere Zukunft für Minderheiten.

Genau diese Botschaft wurde auf dem Parteitag wieder und wieder in den Mittelpunkt gestellt. Schwarze Opfer von Polizeigewalt sprachen vor schwarzen Witwen ermordeter schwarzer Polizisten, Homosexuelle berichteten von ihren Erfahrungen, Latinos begeisterten sich für den American Dream. Es war ein Leitmotiv, das den gesamten Parteitag hindurch wieder und wieder in den Vordergrund gestellt wurde.

Interessant war aber auch die Auswahl der Sprecher und ihre Präsentation auf der Bühne. Die Democrats bedienten sich ungeniert einer Sprache des Patriotismus und des Optimismus, die bisher eigentlich immer den Republicans vorbehalten gewesen war und beschwörten ein aufs andere Mal die wahre Größe Amerikas. Dieser Schwerpunkt auf dem Parteitag war nur möglich, weil Trump dieses Feld vollständig geräumt hat, um ein dystopisches Bild der Vereinigten Staaten zu zeichnen. Es ist sicher kein Zufall, dass Hillary Clinton in ihrer Rede davon sprach, dass Trump den "Morning in America" in ein "Midnight in America" verwandelt habe. Der berühmte Spot Ronald Reagans verkörperte wie kein zweiter das Gefühl, das die Republicans von sich und ihrer Politik zeichnen wollten. Die Democrats beanspruchen nun für sich, die Erben von Roosevelt UND Reagan zu sein. Dazu passen die religiösen Untertöne, die den Parteitag durchzogen (Jamelle Bouie beschrieb den Parteitag als "infused with the spirit of black church"). Trump hat auch dieses Feld geräumt, und während die Evangelikalen weiterhin jeden Kandidaten der Republicans unterstützen (mit Ausnahme relativ kleiner Abtrünniger, die aber auch nicht Clinton wählen), hat Clinton zum Stand des Parteitags bereits einen Zugewinn von über 20% bei Katholiken erzielt.

Die Democrats waren lange die Partei des "Me, too" gewesen: Wenn die Republicans ihre Gläubigkeit und ihren Patriotismus hervorstrichen, konnten die Democrats stets nur aus der Defensive heraus erklären, ja auch gläubig und patriotisch zu sein. In Philadelphia versuchten sie nun, das Vakuum auf der Rechten selbst auszufüllen und die Deutungshoheit über diese Begriffe nach über vier Jahrzehnten wieder an sich zu reißen. Dabei ist dieser Versuch eindeutig nicht die direkte Übernahme der republikanischen Spielart: die Religiosität ist offener, weniger von calvinistischen Idealen geprägt als die der Republicans. Ihr Patriotismus beschwört die Einigkeit eines bunten Amerikas. So fanden sich wie früher aus republikanischen Parteitagen viele Soldaten und Polizisten. Doch diese Botschaften wurden immer in den Kerngedanken von Vielfalt eingebunden. Am deutlichsten wurde dies wohl in der Rede von Khizr Khan, dem Vater eines gefallenen muslimischen Soldaten, der Trump direkt als unpatriotisch angriff: "You sacrificed nothing and no one!" (Sie haben nichts und niemanden geopfert) Trump, wenig überraschend, griff Khan für seinen muslimischen Glauben an und erklärte, seine harte Arbeit als CEO sei durchaus mit dem Opfer von Khans Tod vergleichbar. Die Tiefen von Trumps moralischem Abgrund sind immer aufs Neue überraschend. Auch die "großen" Namen unter den Sprechern - Barack Obama, Bill Clinton, Joe Biden, Elizabeth Warren - unterstützten diese Botschaft. Sie zeichneten ein optimistisches Bild der Zukunft, von einem bunten und einigen Amerika, das zusammenhält, und betonten die mannigfaltigen Schwächen Trumps.

Es dürfte kaum überraschen, dass der Parteitag der Democrats eine deutlich diszipliniertere Geschichte war als das Chaos bei den Republicans, und dass er in der Lage war, ein deutliches Narrativ zu zeichnen, für was die Democrats stehen. Und das ist eben deutlich mehr als nur ein "wählt nicht Trump", und das wird sich in den kommenden drei Monaten noch mehrmals zeigen. Die Republicans haben letztlich nur das Argument für sich, dass Trump einer der ihren ist. Marco Rubio begründete seine Unterstützung Trumps erst jüngst wieder damit, dass man keinesfalls die Nominierung eines Supreme Court Richters aus der Hand geben dürfe. Als Begründung, einen Präsidenten zu wählen, ist das aber eigentlich eine Bankrotterklärung. Die Umfragewerte Clintons stiegen nach dem Parteitag denn auch; sie liegt nun zwischen sechs und zehn Prozent vor Trump.

Das branding der Democrats aus dem Parteitag aber ist auch jenseits der direkten Konsequenzen für die Wahl interessant. Ich habe bereits oben ausgeführt, dass die Democrats damit das Odium des "Me, too" abschütteln. Es ist aber wichtig, dass sie nicht einfach versuchen, das bisherige branding der Republicans für sich zu kooptieren. Stattdessen stellen sie es in den Kontext ihres eigenen Selbstverständnisses; sie reklamieren den Mantel der Mehrheitsgesellschaft für sich, die für über 40 Jahre von den Republicans beansprucht wurde. It's morning again in America.

Mittwoch, 20. Juli 2016

Machtergreifung in Cleveland

Begeben wir uns auf eine kleine Reise in die Welt des Hypothetischen. Wir schreiben das Jahr 2004. George W. Bush kandidiert für eine zweite Amtszeit. Das Land ist polarisiert, denn der Krieg im Irak stellt sich als desaströser heraus als angenommen worden war und die Massenvernichtungswaffen Husseins, mit denen er begründet worden war, finden sich nirgends. Die kurze Welle von Einigkeitseuphorie nach 9/11 ist schon lange vorbei, und was bleibt ist eine gespaltene Nation. Zahlreiche Abgeordnete der Democrats sehen sich primary-Herausforderungen durch linke Aktivisten gegenüber. In den Vorwahlen des DNC hat der völlige Außenseiter Michael Moore das durch die Zustimmung zum Irakkrieg geschwächte Feld von starken Kandidaten wie John Edwards, Howard Dean und John Kerry hinter sich gelassen und die notwendige Schwelle an Deligierten überschritten, um offizieller Kandidat der Democrats beim Parteitag in Boston zu werden. Er begeisterte die Basis der Democrats mit feurigen Anklagen gegen George W. Bush, wie sie in seinem Bestseller "Stupid White Men" zu lesen gewesen waren. Er forderte eine Anklage Bushs wegen Kriegsverbrechen und seine Auslieferung an Den Haag, die er für den Fall seiner Wahl versprach. Ein Grundpfeiler seiner Wahlkampfauftritte war die Herausforderung George W. Bushs zu einem Spelling-Bee-Wettbewerb auf dem Niveau der Elementary School. Die Politiker der Democrats bezeichnet er stets als Feiglinge, häufig auch als korrupt oder kriegstreiberisch.

In den Medien und unter Politikexperten wird ein Desaster für den anstehenden Parteitag vorhergesagt, dem praktisch alle namhaften Politiker wie Edwards, Kerry, Dean und Hillary Clinton fernbleiben. Auch Ex-Präsidenten Clinton und Carter haben abgesagt, ebenso die meisten Gouverneure und Kongress-Abgeordneten. Moore füllt die Sprecherplätze stattdessen mit C-Listen-Politikern die weitgehend unbekannt sind und deren Reden vom DNC nicht gegengelesen wurden. Dazu kommen viele Aktivisten zu Wort; als Höhepunkte sind unter anderem Susan Sarandon und Janeane Garofalo angekündigt. Auf dem Parteitag selbst wird darüber diskutiert, alle Schusswaffen komplett zu verbieten, Schlüsselindustrien zu verstaatlichen, eine allgemeine Krankenversicherung für alle und kostenlosen Universitätsbesuch einzuführen und die NATO durch ein System kollektiver Sicherheit zu ersetzen, dem auch Russland und China angehören sollen. Als spezieller Gast der Delegation aus Tennessee ist Raul Castro, der Bruder von Fidel Castro, gekommen und hält eine Rede über die Vereinbarkeit von Sozialismus und Kapitalismus und fordert eine engere Zusammenarbeit beider Länder. Am Rande des Veranstaltungsgeländes fordert eine kleine, aber viel gefilmte Gruppe Solidarität mit Nordkorea. Die Reden der einzelnen Sprecher befassen sich fast alle mit Bushs "verbrecherischem" Irakkrieg und werden oftmals von lauten "Den Haag!"- und "Tribunal!"-Rufen unterbrochen. Zwischen politischen Einlagen dieser Art treten Mütter von im Irak und in Afghanistan gefallenen Soldaten auf, die unter Tränen Bush die direkte Schuld für den Tod ihrer Kinder geben, während ihnen Moore einfühlsam den Arm um die Schulter legt.

Klingt verrückt? Das ist der Parteitag der Republicans, der zur Stunde in Cleveland, Ohio, stattfindet.

Wer im bisherigen Wahlkampf dachte, dass Trumps Stil und ignoranten und hetzerischen Reden eigentlich kaum zu toppen sind, wird aktuell eines Besseren belehrt. C-Promis reden unzusammenhängende Verschwörungstheorien. Trumps dritte Frau Melania Trump hält eine Rede, in der sie Trumps Loyaltität, Treue und Beharrlichkeit preist und deren Passage über die Notwendigkeit harter Arbeit aus Michelle Obamas Rede von 2008 abgeschrieben ist. Die republikanische Delegation aus Tennessee lädt Geert Wilders ein. Ständige Sprechchöre fordern, Hillary Clinton ins Gefängnis zu stecken, weil die Republicans mit ihrer Politik nicht einverstanden sind. Chris Christie hält mit der Menge einen simulierten Schauprozess gegenüber Clinton ab. Während die Sprecher ihre Reden halten, gibt Trump gleichzeitig Live-Interviews, die nichts mit den Sprechern zu tun haben. Am Rande der Veranstaltung verkündet der Kongressabgeordnete King, dass keine andere "Untergruppe" der Menschheit so viel geleistet und erfunden habe wie die weiße Rasse¹. Trump tritt auf wie ein Popstar, inklusive Nebel und Flutlicht, und fliegt am Abend des ersten Tages zurück nach New York. Als er am zweiten Tag des Parteitags formal nominiert wird, ist er nicht anwesend; stattdessen wird auf einer riesigen Leinwand mit Goldrand sein Porträt an die Wand geworfen, als ob eine Neuverfilmung von 1984 gedreht würde. Ben Carson erklärt, dass Hillary Clinton mit dem Teufel im Bunde sei². Donald Trump Jr. erklärt, dass er und seine Geschwister es als Kinder nicht besser hatten als die Arbeiterklasse Amerikas, die zudem keinen besseren Vorkämpfer als Trump finden könnte. Hätte irgendjemand diesen Parteitag so vor vier Wochen verfilmt, alle hätten es als völlig übertriebenen Propagandafilm abgetan.

Die republikanische Partei wird die Geister, die sie rief, nicht mehr los. Ein Teil der Partei hat sich zurückgezogen und beobachtet das Feuerwerk aus einer Distanz von der sie hofft, dass sie sicher sein möge und man sich nach der Wahl im November an den Wiederaufbau machen könne. Ein Teil hat jede Würde über Bord geworfen und sich mit Trump verbündet. Ein anderer Teil versucht einen Mittelweg zu gehen und es sich weder mit der Basis zu verscherzen noch zu sehr an Trump zu ketten. Die meisten werden damit scheitern. Chris Christie ist schon jetzt eine reine Witzfigur, ein Wrack seiner selbst. Er hat sich vor Trump als erster prostituiert, und zum Dank hat Trump ihm weder gesagt, dass er nicht Vizepräsidentschaftskandidat wird - was der verzweifelte Christie noch in einem mitternächtlichen Telefongespräch zu erreichen hoffte und dann am nächsten Tag wie der Rest der Welt über Trumps Twitter erfuhr - noch ihm einen hervorgehobenen Platz als Sprecher beim Parteitag eingeräumt. Den bekam stattdessen Vorzeige-Hillbilly Willie Robertson aus der Reality-TV-Serie "Duck Dynasty". Vizepräsidentschaftskandidat Mike Pence wird von Trump erst bei seiner eigenen Vorstellungsrede blamiert - Trump redete 30 Minuten über sich selbst, kündigte dann Pence an und verließ die Bühne - und dann in einem Interview mit "60 Minutes" vorgeführt. Sarah Palin, die sich wie Christie fast zu Beginn hinter Trump warf, wird gar nicht erst eingeladen, weil "Alaska so weit weg" sei.

Die Liste ließe sich fortsetzen, aber das Establishment schlägt zurück. Paul Ryan, der kaum von seinem eigenen Parteitag weglaufen kann, hält eine Rede in der er Trump kein einziges Mal erwähnt und dafür wirbt, Republicans in den Kongress zu wählen und Trump programmatisch an jeder Stelle konterkariert. Einige von rebellischen #NeverTrump-Anhängern dominierte Delegationen versuchten eine Abstimmung zu erzwingen um Trump abzusetzen. Marco Rubio ließ sich entschuldigen und sendete nur eine aufgenommene Videobotschaft. Gott allein weiß, was für eine Rede Ted Cruz halten wird. Alle anderen Größen der Partei sind nicht da, häufig mit Entschuldigungen gegen die "Ich muss noch den Brokkoli bügeln" geradezu glaubwürdig erscheinen. Die Erwartung der Eliten ist klar, dass Trump scheitern wird - und dass danach der Wiederaufbau möglich ist. Der konservative Kolumnist Andrew Sullivan verglich Trump und seine Anhänger mit einem Pickel, dessen Füllung aus Hass hoffentlich bald bersten und dann weggespült werden könne.

Was wir hier beobachten können ist der völlige Zusammenbruch jeglicher Normen einer Gesellschaft. In aller Öffentlichkeit politische Schauprozesse zu fordern und offen rassistische Parolen zu verbreiten wäre vor Kurzem noch undenkbar gewesen. Jetzt entlockt es kaum mehr ein Achselzucken, dass Leute, die zur Primetime auf dem republikanischen Parteitag reden auf Twitter Hillary Clinton als "Schlampe" beschimpfen. Die gleichen Leute, die tausende von Wörtern über die Frage schreiben, ob Hillary Clinton es vielleicht bei der Emailaffäre mit der Wahrheit nicht 100% genau nimmt interessieren sich kaum mehr dafür, dass Trumps Leute sich nicht einmal mehr Mühe geben, ihre völlig offensichtlichen Lügen zu verbergen. Trump lügt in einem solchen Ausmaß, dass die Medien mit dem Korrigieren nicht mehr hinterherkommen, und das ist keine Hyperbel. Wenn man eine Trump-Lüge widerlegt hat, hat er in der Zwischenzeit schon wieder zwei neue abgegeben.

Als Melania Trump gestern des Plagiats überführt wurde, war die Reaktion des Trump-Teams, dass dahinter Hillary Clinton stecke. Warum? Who gives a shit. Im gemeinsamen Interview mit "60 Minutes" fragte der Interviewer Trump, ob er kein Problem darin sehe Clinton für ihre Stimme für den Irakkrieg zu kritisieren wenn Mike Pence ebenfalls dafür gestimmt habe. Trumps Antwort: I don't care. Wörtlich. Und er schob nach: Mike Pence darf auch mal einen Fehler machen. Der entgeisterte Journalist fragte nach: Pence darf hin und wieder einen Fehler machen, aber Clinton nicht? Trumps Antwort: Ja. Man muss sich das einmal vorstellen: der republikanische Präsidentschaftskandidat erklärt zur besten Sendezeit wörtlich, dass für ihn andere Regeln gelten. Und Clinton ist diejenige, die für sich andere Regeln in Anspruch nimmt als der Rest, weil sie gerne ihr gewohntes Emailprogramm weiterverwendet? Zur gleichen Zeit wie alle diese Frage zur Staatskrise hochstilisieren fordert Trump politische Schauprozesse und die Aufhebung der verfassungsmäßig garantierten Rechte muslimischer Amerikaner.

Es fühlt sich an wie eine sich immer wiederholende Schallplatte, wenn man auf die Medien einschlägt. Aber ohne ihr kollektives Versagen wäre das Phänomen Trump nicht möglich. Sie sind es, die ihm mit seinem völligen Irrsinn eine Bühne bieten. Beleidigungen, Lügen und offensichtliches Unwissen sind urplötzlich einfach zu erwarten. Für die Republicans im Allgemeinen und Trump im Speziellen werden völlig andere Maßstäbe angelegt. Gegenüber diesem Haufen von Neofaschisten ist Hillary Clinton ein Engel. Und wir sollten uns nichts vormachen: so sehr man auch in Versuchung ist, über den Wahlkampf in Lachen auszubrechen, so muss man sich doch klarmachen, dass Trump aktuell eine 38% Chance hat, Präsident zu werden.

Aber der Wahnsinn endet hier nicht. Es ist völliger Konsens, dass Trump nicht die geringste Ahnung von Politik hat. Gegen ihn wirkt Sarah Palin kompetent. Nicht einmal seine Unterstützer versuchen ernsthaft das Gegenteil zu behaupten, stattdessen wird darauf verwiesen, dass er ein "Macher" sei. Trump selbst verkündet nonchalant, dass er ein unglaublich toller Lerner sei, der neue Themen sofort begreife. Wie das funktioniert, hat sein Ghostwriter in einem langen und empfehlenswerten Artikel deutlich gemacht: Trump hat eine Aufmerksamkeitsspanne von kaum zwanzig Minuten und liest nichts was länger als drei Seiten ist. Auch das ist übrigens nichts, das wie im anfangs erzählten Szenario in die Moor'sche Propagandakiste à la "Bush kann nicht lesen" geworfen werden kann, denn Trump und sein Team wehren sich gegen diese Vorwürfe nicht einmal. Vielmehr tragen sie sie wie eine Monstranz vor sich her. Das läuft dann als ein Kampf "gegen Eliten" und "gegen Experten".

Trump ging sogar so weit, John Kasich die Vizepräsidentschaft anzutragen. Er schlug ihm vor, der "mächtigste Vizepräsident aller Zeiten" zu werden. Kasich wäre, so Trump, für Innen- und Außenpolitik zuständig gewesen. Als Kasich verwirrt zurückfragte, was genau dann Trumps Zuständigkeit wäre, war die Antwort: making America great again. Die Republicans könnten zu diesem Zeitpunkt Beppo den Clown als Kandidaten aufstellen, und das wäre eine verantwortungsvollere und sicherere Wahl als diesen Proto-Faschisten. Trumps Programm ist das eine enge Kooperation mit Putins Russland, die Polizei auf schwarze Demonstranten zu hetzen und gleichzeitig den Ku Klux Klan loszulassen, Muslime unter Dauerbeobachtung zu stellen und ihrer Rechte zu berauben und seine politischen Gegner in Schauprozessen ins Gefängnis zu stecken. Wer glaubt, dass die Institutionen der Checks&Balances ihn davon abhalten werden - etwa der Kongress oder der Supreme Court - sollte sich klarmachen, wie dünn dieses Eis ist. Der vollkommene Zusammenbruch aller Normen hat bisher nur die Republicans erfasst, aber wenn der Kongress in ihren Händen bleibt - was im Falle eines Trump-Siegs fast garantiert wäre - könnte Trump sich vermutlich auf die opportunistischen Mehrheiten der Republicans verlassen.

Diese Partei hat jeden Anspruch aufgegeben, regieren zu können oder zu wollen. Sie hat als demokratische Kraft abgedankt. Es bleibt abzuwarten, ob sie das Year of Trump überstehen wird - und als was.

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¹ Auf Chris Hayes' entgeisterte Nachfrage korrigiert sich King zu "westlicher Zivilisation" in Europa und Nordamerika, aber das macht es wahrlich nicht viel besser.

² Nein, nicht als Metapher, à la "Hillary Clinton vollbringt das Werk Satans" oder so etwas. Sie ist tatsächlich direkt mit ihm verbündet.

Mittwoch, 13. Juli 2016

Eine Verteidigung der political correctness, Teil 2: consent

Die Diskussion über das political-correctness-Thema hat sich hier im Blog vor allem um die Frage der Strafbarkeit und Beweisbarkeit von Vergewaltigungen und sexuellem Missbrauch entwickelt. Ein großer Fokus liegt dabei auf der Frage, wie um Gottes Willen man aus dem Graubereich herauskommen soll. Bekanntlich ist der Moment erotischer Verführung und sexueller Spannung nicht gerade dafür bekannt, dass beide Parteien mit der Rationalität eines homo oeconomicus handeln. Es handelt sich hier mit Sicherheit auch nicht um ein kleines Problem, denn allein die Anschuldigung einer sexuellen Straftat zerstört bereits komplette Existenzen. Wir haben das öffentlichkeitswirksam in den Fällen Türck und Kachelmann präsentiert bekommen. Diese Diskussion wird aber in den Beiträgen von Stefan Pietsch und Ariane bereits geführt. Ich möchte daher auf einen anderen Aspekt stärker eingehen, der meiner Meinung nach bei den beiden zu kurz kommt.

Da wäre, erstens, die unterliegende gesellschaftliche Dynamik. Wie so oft im Problemfeld "political correctness" entstammen sowohl die Problembeschreibung hier als auch die Lösungsansätze später den USA, wo die Diskussion sich gerade um das Vorhandensein einer rape culture dreht. Gemeint ist hiermit nicht eine Gesellschaft, die Vergewaltigungen zum Standard erhebt, sondern eine, die sie ermöglicht und es den Tätern sowohl erleichtert die Tat selbst durchzuführen als auch danach ungestraft davonzukommen. Leider werden Vergewaltigungen immer noch als etwas betrachtet, das selten vorkommt und nur von richtig bösen Männern gewalttätig verübt wird. Das ist sozusagen die Hollywood-Version, mit klarem Täter und Opfer. In der Realität ist die Lage aber häufig nicht ganz so einfach, und viele Menschen sprechen gerne dem Opfer eine Teilschuld zu - das hat man auch bei Lohfink gesehen, und zwar bevor die Vorwürfe der Falschbeschuldigung aufkamen. Der Tenor: "Ja, die Lohfink, die treibt's doch eh mit jedem." Mag schon sein, aber Promiskuität ist keine Einladung zur Vergewaltigung. Schließlich darf man auch Einkäufer auf dem Kudamm nicht bestehlen, nur weil sie mit Geld geradezu um sich schmeißen. Die YouTuberin Laci Green hat das Problem schön zusammengefasst:



Das ist, was wir unter rape culture verstehen. Die toxischen Auswüchse dieser Kultur konnte man in den USA am Fall Brock Turner beobachten. Turner war ein Erstsemesterstudent und Starathlet an der Eliteuniversität Stanford. Auf einer Party schleppte er eine volltrunkene Frau hinter einige Mülltonnen und vergewaltigte die Bewusstlose. Als er von Passanten erwischt wurde, versuchte er zu fliehen, wurde aber von diesen aufgehalten und der Polizei übergeben. Der Fall ist hier ziemlich klar: hier Täter, dort Opfer. Was danach kam, war allerdings weniger eindeutig. Turners Vater versuchte mit aller Macht, eine Gefängnisstrafe zu verhindern. Zu diesem Zweck setzte er einen Privatdetektiv und hochbezahlte Anwälte ein, die die Glaubwürdigkeit des Opfers mit erniedrigen Nachforschungen über ihr Sexual- und Trinkverhalten zerstören und so quasi eine Teilschuld nachweisen sollten. Gleichzeitig schrieb Turner einen mittlerweile berüchtigten Brief an den Richter, der pikanterweise ein Stanford-Alumni ist, in dem er lang und breit die psychischen Folgen für seinen Sohn beschrieb und die Vergewaltigung als "20 minutes of action" herunterspielte. Wohl nur der großen Willensstärke des Opfers ist es zu verdanken, dass sie all diese Angriffe überstand - die Dunkelziffer für Vergewaltigungen ist ungeheuer hoch, der Widerwille zur Anzeige ebenso, und Turners Geschichte zeigt, weshalb. Dank ihrer Wortgewandtheit, die sich in einem ebenso berühmten offenen Brief an Turner eindrucksvoll zeigt, beschrieb das Opfer sowohl ihre Vergewaltigung als auch die Strapazen des Prozesses. Die Beschreibungen sind ernüchternd.

Für unseren Fall besonders interessant ist dabei die Tatsache, dass Turner versuchte, den Übergriff damit zu begründen, dass er davon ausging dass das Opfer einverstanden war. Seine Begründung: sie hatte ihm über den Rücken gestrichen. In diesem Statement zeigt sich die andere Seite der rape-culture-Medaille: es gibt nicht nur eine Tendenz, dem Täter mehr Glauben zu schenken als dem Opfer und dem Opfer eine Teilschuld zuzuweisen. Es gibt auch eine klare Unsicherheit, wo die Grenzen verlaufen. Stefan Pietsch hat in seinem Beitrag deutlich darauf verwiesen, dass ein großer Anteil Frauen will, dass der Mann den ersten Schritt macht und dass sich zieren zum Flirtspiel gehört. Das ist unzweifelhaft richtig. Und natürlich lässt sich an dieser Stelle leicht das Horrorszenario ausmalen, dass Männer künftig immer mit einem Bein im Gefängnis stehen, weil Frauen sich urplötzlich umentscheiden können. Nur: natürlich können sie das. Es soll vorkommen, dass jemand während dem Vorspiel die Lust verliert. Gerade deswegen ist es ja so wichtig, dass beide Partner darauf achten, ob der jeweils andere seine Einwilligung immer noch erteilt. Laci Green hat auch hierfür ein ordentliches Erklärvideo, das die Praxis beleuchtet und den Wert der Einwilligung deutlich macht:



Das ist eine ungewohnte Vorstellung, sicherlich, und es wirft einige traditionellen Romantikvorstellungen über den Haufen. Der Stil eines Sean Connery in den alten James-Bond-Filmen, die überraschte Frau in der Sicherheit der eigenen Attraktivität und ihrer vorausgesetzten Einwilligung gegen die Wand zu drücken und zu küssen ist damit passé. Ich fürchte es gibt keine empirischen Untersuchungen, aber diese Romantikvorstellung - vor allem der direkt folgende Beischlaf einer devoten Geliebten - war vermutlich schon immer mehr ein Hollywood-Klischee als Realität.

Man kann auch diejenigen beruhigen die eine Welle von Falschbeschuldigungen versuchter Vergewaltigungen befürchten. Andere europäische Länder wie Schweden oder Großbritannien haben bereits seit Jahren "Nein heißt Nein"-Gesetze, ohne dass man dort von einer neuartigen Welle an Falschvorwürfen gehört hätte. Besonders Großbritannien ist da instruktiv, weil die Regel erst 2010 eingeführt wurde und daher noch "frisch" ist. Die Umstände sind durchaus vergleichbar, auch gesellschaftlich und kulturell. Auch hier muss es ein Umdenken geben, auf beiden Seiten. Weder darf man wie im Fall von Lohfink von Anfang an davon ausgehen, dass eine Frau es doch wollte, nur weil sie als Partyluder bekannt ist, noch darf man dann wenn neue Fakten bekannt werden das Ganze zu einer Wasserscheide der Menschenrechte hochstilisieren. Es wäre schon viel geholfen, würde man Vergewaltigungsfälle etwas neutraler betrachten. Angesichts ihres Sensationsgrads ist das aber wohl Wunschdenken.