Begeben wir uns auf eine kleine Reise in die Welt des Hypothetischen. Wir schreiben das Jahr 2004. George W. Bush kandidiert für eine zweite Amtszeit. Das Land ist polarisiert, denn der Krieg im Irak stellt sich als desaströser heraus als angenommen worden war und die Massenvernichtungswaffen Husseins, mit denen er begründet worden war, finden sich nirgends. Die kurze Welle von Einigkeitseuphorie nach 9/11 ist schon lange vorbei, und was bleibt ist eine gespaltene Nation. Zahlreiche Abgeordnete der Democrats sehen sich primary-Herausforderungen durch linke Aktivisten gegenüber. In den Vorwahlen des DNC hat der völlige Außenseiter Michael Moore das durch die Zustimmung zum Irakkrieg geschwächte Feld von starken Kandidaten wie John Edwards, Howard Dean und John Kerry hinter sich gelassen und die notwendige Schwelle an Deligierten überschritten, um offizieller Kandidat der Democrats beim Parteitag in Boston zu werden. Er begeisterte die Basis der Democrats mit feurigen Anklagen gegen George W. Bush, wie sie in seinem Bestseller "Stupid White Men" zu lesen gewesen waren. Er forderte eine Anklage Bushs wegen Kriegsverbrechen und seine Auslieferung an Den Haag, die er für den Fall seiner Wahl versprach. Ein Grundpfeiler seiner Wahlkampfauftritte war die Herausforderung George W. Bushs zu einem Spelling-Bee-Wettbewerb auf dem Niveau der Elementary School. Die Politiker der Democrats bezeichnet er stets als Feiglinge, häufig auch als korrupt oder kriegstreiberisch.
In den Medien und unter Politikexperten wird ein Desaster für den anstehenden Parteitag vorhergesagt, dem praktisch alle namhaften Politiker wie Edwards, Kerry, Dean und Hillary Clinton fernbleiben. Auch Ex-Präsidenten Clinton und Carter haben abgesagt, ebenso die meisten Gouverneure und Kongress-Abgeordneten. Moore füllt die Sprecherplätze stattdessen mit C-Listen-Politikern die weitgehend unbekannt sind und deren Reden vom DNC nicht gegengelesen wurden. Dazu kommen viele Aktivisten zu Wort; als Höhepunkte sind unter anderem Susan Sarandon und Janeane Garofalo angekündigt. Auf dem Parteitag selbst wird darüber diskutiert, alle Schusswaffen komplett zu verbieten, Schlüsselindustrien zu verstaatlichen, eine allgemeine Krankenversicherung für alle und kostenlosen Universitätsbesuch einzuführen und die NATO durch ein System kollektiver Sicherheit zu ersetzen, dem auch Russland und China angehören sollen. Als spezieller Gast der Delegation aus Tennessee ist Raul Castro, der Bruder von Fidel Castro, gekommen und hält eine Rede über die Vereinbarkeit von Sozialismus und Kapitalismus und fordert eine engere Zusammenarbeit beider Länder. Am Rande des Veranstaltungsgeländes fordert eine kleine, aber viel gefilmte Gruppe Solidarität mit Nordkorea. Die Reden der einzelnen Sprecher befassen sich fast alle mit Bushs "verbrecherischem" Irakkrieg und werden oftmals von lauten "Den Haag!"- und "Tribunal!"-Rufen unterbrochen. Zwischen politischen Einlagen dieser Art treten Mütter von im Irak und in Afghanistan gefallenen Soldaten auf, die unter Tränen Bush die direkte Schuld für den Tod ihrer Kinder geben, während ihnen Moore einfühlsam den Arm um die Schulter legt.
Klingt verrückt? Das ist der Parteitag der Republicans, der zur Stunde in Cleveland, Ohio, stattfindet.
Wer im bisherigen Wahlkampf dachte, dass Trumps Stil und ignoranten und hetzerischen Reden eigentlich kaum zu toppen sind, wird aktuell eines Besseren belehrt. C-Promis reden unzusammenhängende Verschwörungstheorien. Trumps dritte Frau Melania Trump hält eine Rede, in der sie Trumps Loyaltität, Treue und Beharrlichkeit preist und deren Passage über die Notwendigkeit harter Arbeit aus Michelle Obamas Rede von 2008 abgeschrieben ist. Die republikanische Delegation aus Tennessee lädt Geert Wilders ein. Ständige Sprechchöre fordern, Hillary Clinton ins Gefängnis zu stecken, weil die Republicans mit ihrer Politik nicht einverstanden sind. Chris Christie hält mit der Menge einen simulierten Schauprozess gegenüber Clinton ab. Während die Sprecher ihre Reden halten, gibt Trump gleichzeitig Live-Interviews, die nichts mit den Sprechern zu tun haben. Am Rande der Veranstaltung verkündet der Kongressabgeordnete King, dass keine andere "Untergruppe" der Menschheit so viel geleistet und erfunden habe wie die weiße Rasse¹. Trump tritt auf wie ein Popstar, inklusive Nebel und Flutlicht, und fliegt am Abend des ersten Tages zurück nach New York. Als er am zweiten Tag des Parteitags formal nominiert wird, ist er nicht anwesend; stattdessen wird auf einer riesigen Leinwand mit Goldrand sein Porträt an die Wand geworfen, als ob eine Neuverfilmung von 1984 gedreht würde. Ben Carson erklärt, dass Hillary Clinton mit dem Teufel im Bunde sei². Donald Trump Jr. erklärt, dass er und seine Geschwister es als Kinder nicht besser hatten als die Arbeiterklasse Amerikas, die zudem keinen besseren Vorkämpfer als Trump finden könnte. Hätte irgendjemand diesen Parteitag so vor vier Wochen verfilmt, alle hätten es als völlig übertriebenen Propagandafilm abgetan.
Die republikanische Partei wird die Geister, die sie rief, nicht mehr los. Ein Teil der Partei hat sich zurückgezogen und beobachtet das Feuerwerk aus einer Distanz von der sie hofft, dass sie sicher sein möge und man sich nach der Wahl im November an den Wiederaufbau machen könne. Ein Teil hat jede Würde über Bord geworfen und sich mit Trump verbündet. Ein anderer Teil versucht einen Mittelweg zu gehen und es sich weder mit der Basis zu verscherzen noch zu sehr an Trump zu ketten. Die meisten werden damit scheitern. Chris Christie ist schon jetzt eine reine Witzfigur, ein Wrack seiner selbst. Er hat sich vor Trump als erster prostituiert, und zum Dank hat Trump ihm weder gesagt, dass er nicht Vizepräsidentschaftskandidat wird - was der verzweifelte Christie noch in einem mitternächtlichen Telefongespräch zu erreichen hoffte und dann am nächsten Tag wie der Rest der Welt über Trumps Twitter erfuhr - noch ihm einen hervorgehobenen Platz als Sprecher beim Parteitag eingeräumt. Den bekam stattdessen Vorzeige-Hillbilly Willie Robertson aus der Reality-TV-Serie "Duck Dynasty". Vizepräsidentschaftskandidat Mike Pence wird von Trump erst bei seiner eigenen Vorstellungsrede blamiert - Trump redete 30 Minuten über sich selbst, kündigte dann Pence an und verließ die Bühne - und dann in einem Interview mit "60 Minutes" vorgeführt. Sarah Palin, die sich wie Christie fast zu Beginn hinter Trump warf, wird gar nicht erst eingeladen, weil "Alaska so weit weg" sei.
Die Liste ließe sich fortsetzen, aber das Establishment schlägt zurück. Paul Ryan, der kaum von seinem eigenen Parteitag weglaufen kann, hält eine Rede in der er Trump kein einziges Mal erwähnt und dafür wirbt, Republicans in den Kongress zu wählen und Trump programmatisch an jeder Stelle konterkariert. Einige von rebellischen #NeverTrump-Anhängern dominierte Delegationen versuchten eine Abstimmung zu erzwingen um Trump abzusetzen. Marco Rubio ließ sich entschuldigen und sendete nur eine aufgenommene Videobotschaft. Gott allein weiß, was für eine Rede Ted Cruz halten wird. Alle anderen Größen der Partei sind nicht da, häufig mit Entschuldigungen gegen die "Ich muss noch den Brokkoli bügeln" geradezu glaubwürdig erscheinen. Die Erwartung der Eliten ist klar, dass Trump scheitern wird - und dass danach der Wiederaufbau möglich ist. Der konservative Kolumnist Andrew Sullivan verglich Trump und seine Anhänger mit einem Pickel, dessen Füllung aus Hass hoffentlich bald bersten und dann weggespült werden könne.
Was wir hier beobachten können ist der völlige Zusammenbruch jeglicher Normen einer Gesellschaft. In aller Öffentlichkeit politische Schauprozesse zu fordern und offen rassistische Parolen zu verbreiten wäre vor Kurzem noch undenkbar gewesen. Jetzt entlockt es kaum mehr ein Achselzucken, dass Leute, die zur Primetime auf dem republikanischen Parteitag reden auf Twitter Hillary Clinton als "Schlampe" beschimpfen. Die gleichen Leute, die tausende von Wörtern über die Frage schreiben, ob Hillary Clinton es vielleicht bei der Emailaffäre mit der Wahrheit nicht 100% genau nimmt interessieren sich kaum mehr dafür, dass Trumps Leute sich nicht einmal mehr Mühe geben, ihre völlig offensichtlichen Lügen zu verbergen. Trump lügt in einem solchen Ausmaß, dass die Medien mit dem Korrigieren nicht mehr hinterherkommen, und das ist keine Hyperbel. Wenn man eine Trump-Lüge widerlegt hat, hat er in der Zwischenzeit schon wieder zwei neue abgegeben.
Als Melania Trump gestern des Plagiats überführt wurde, war die Reaktion des Trump-Teams, dass dahinter Hillary Clinton stecke. Warum? Who gives a shit. Im gemeinsamen Interview mit "60 Minutes" fragte der Interviewer Trump, ob er kein Problem darin sehe Clinton für ihre Stimme für den Irakkrieg zu kritisieren wenn Mike Pence ebenfalls dafür gestimmt habe. Trumps Antwort: I don't care. Wörtlich. Und er schob nach: Mike Pence darf auch mal einen Fehler machen. Der entgeisterte Journalist fragte nach: Pence darf hin und wieder einen Fehler machen, aber Clinton nicht? Trumps Antwort: Ja. Man muss sich das einmal vorstellen: der republikanische Präsidentschaftskandidat erklärt zur besten Sendezeit wörtlich, dass für ihn andere Regeln gelten. Und Clinton ist diejenige, die für sich andere Regeln in Anspruch nimmt als der Rest, weil sie gerne ihr gewohntes Emailprogramm weiterverwendet? Zur gleichen Zeit wie alle diese Frage zur Staatskrise hochstilisieren fordert Trump politische Schauprozesse und die Aufhebung der verfassungsmäßig garantierten Rechte muslimischer Amerikaner.
Es fühlt sich an wie eine sich immer wiederholende Schallplatte, wenn man auf die Medien einschlägt. Aber ohne ihr kollektives Versagen wäre das Phänomen Trump nicht möglich. Sie sind es, die ihm mit seinem völligen Irrsinn eine Bühne bieten. Beleidigungen, Lügen und offensichtliches Unwissen sind urplötzlich einfach zu erwarten. Für die Republicans im Allgemeinen und Trump im Speziellen werden völlig andere Maßstäbe angelegt. Gegenüber diesem Haufen von Neofaschisten ist Hillary Clinton ein Engel. Und wir sollten uns nichts vormachen: so sehr man auch in Versuchung ist, über den Wahlkampf in Lachen auszubrechen, so muss man sich doch klarmachen, dass Trump aktuell eine 38% Chance hat, Präsident zu werden.
Aber der Wahnsinn endet hier nicht. Es ist völliger Konsens, dass Trump nicht die geringste Ahnung von Politik hat. Gegen ihn wirkt Sarah Palin kompetent. Nicht einmal seine Unterstützer versuchen ernsthaft das Gegenteil zu behaupten, stattdessen wird darauf verwiesen, dass er ein "Macher" sei. Trump selbst verkündet nonchalant, dass er ein unglaublich toller Lerner sei, der neue Themen sofort begreife. Wie das funktioniert, hat sein Ghostwriter in einem langen und empfehlenswerten Artikel deutlich gemacht: Trump hat eine Aufmerksamkeitsspanne von kaum zwanzig Minuten und liest nichts was länger als drei Seiten ist. Auch das ist übrigens nichts, das wie im anfangs erzählten Szenario in die Moor'sche Propagandakiste à la "Bush kann nicht lesen" geworfen werden kann, denn Trump und sein Team wehren sich gegen diese Vorwürfe nicht einmal. Vielmehr tragen sie sie wie eine Monstranz vor sich her. Das läuft dann als ein Kampf "gegen Eliten" und "gegen Experten".
Trump ging sogar so weit, John Kasich die Vizepräsidentschaft anzutragen. Er schlug ihm vor, der "mächtigste Vizepräsident aller Zeiten" zu werden. Kasich wäre, so Trump, für Innen- und Außenpolitik zuständig gewesen. Als Kasich verwirrt zurückfragte, was genau dann Trumps Zuständigkeit wäre, war die Antwort: making America great again. Die Republicans könnten zu diesem Zeitpunkt Beppo den Clown als Kandidaten aufstellen, und das wäre eine verantwortungsvollere und sicherere Wahl als diesen Proto-Faschisten. Trumps Programm ist das eine enge Kooperation mit Putins Russland, die Polizei auf schwarze Demonstranten zu hetzen und gleichzeitig den Ku Klux Klan loszulassen, Muslime unter Dauerbeobachtung zu stellen und ihrer Rechte zu berauben und seine politischen Gegner in Schauprozessen ins Gefängnis zu stecken. Wer glaubt, dass die Institutionen der Checks&Balances ihn davon abhalten werden - etwa der Kongress oder der Supreme Court - sollte sich klarmachen, wie dünn dieses Eis ist. Der vollkommene Zusammenbruch aller Normen hat bisher nur die Republicans erfasst, aber wenn der Kongress in ihren Händen bleibt - was im Falle eines Trump-Siegs fast garantiert wäre - könnte Trump sich vermutlich auf die opportunistischen Mehrheiten der Republicans verlassen.
Diese Partei hat jeden Anspruch aufgegeben, regieren zu können oder zu wollen. Sie hat als demokratische Kraft abgedankt. Es bleibt abzuwarten, ob sie das Year of Trump überstehen wird - und als was.
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¹ Auf Chris Hayes' entgeisterte Nachfrage korrigiert sich King zu "westlicher Zivilisation" in Europa und Nordamerika, aber das macht es wahrlich nicht viel besser.
² Nein, nicht als Metapher, à la "Hillary Clinton vollbringt das Werk Satans" oder so etwas. Sie ist tatsächlich direkt mit ihm verbündet.
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