Mittwoch, 31. August 2016

Triumph des Establishments

Als sich die Niederlage von Bernie Sanders in den demokratischen Vorwahlen immer stärker abzeichnete, wandelte sich die Frage aller Kommentatoren weg vom "Kann er Präsident werden?" zu "Wird seine Bewegung ihn überleben?", eine Frage, die nicht ganz zufällig auch für Donald Trumps Rechsextremisten im Raum steht. Sanders kündigte an, seine Bewegung am Leben halten und für die Wahl von progressiven Kandidaten in den Kongress einsetzen zu wollen. Zynische Zeitgenossen wiesen daraufhin, dass Obama das für seine eigene Anhängerschaft auch mit geringem Erfolg versucht hatte, aber Sanders' gewaltige Erfolge besonders bei der Akquise von Finanzmitteln sprachen sehr für ihn. Da viele primaries für die Kongressabgeordneten erst Ende August sind, hatte Sanders auch nach seiner Niederlage beim DNC Parteitag noch Zeit, Geistesverwandten auszuhelfen beziehungsweise dem Establishment Steine in den Weg zu legen. Ziel Nummer eins war dabei Debbie Wasserman Schultz, die als DNC-Vorsitzende zur Nemesis der Sandernistas¹ erklärt und auf dem DNC zum Rücktritt gezwungen wurde. Gleichzeitig fand auf der Rechten eine ähnliche Bewegung statt, wo Herausforderer von republikanischen Größen wie Paul Ryan und John McCain Unterstützung und PR von Trump und seiner eigene Fanbasis erhielten. Gestern waren die Vorwahlen für den Kongress. Wie also haben die Herausforderer abgeschnitten? Die Überschrift verrät es schon: nicht gut.

So gewann Marco Rubio, der noch in den Debatten stets angekündigt hatte, seine Karriere im Senat zu beenden und über die Arbeit dort zu klagen, seine Vorwahl mit 72,0% vor seinen Herausforderern, obwohl er sich wiederholt weigerte zu versprechen, dass er die volle Amtszeit ableisten würde. Debbie Wasserman Schultz, deren Herausforderer Tim Canova bereits früh von Sanders ein endorsement und von seinen Anhängern tiefe Feindschaft erhalten hatte, gewann 56,8% zu 43,2%. John McCain besiegte seine Herausfordererin Kelli Ward mit 51,7% zu 39,2%, obwohl er einen äußerst unvorteilhaften Zweikampf mit Trump führte und bereits 80 Jahre alt ist. Bereits am 9. August schlug Paul Ryan den von Sarah Palin und zeitweilig von Donald Trump unterstützten Paul Nehlen 84,1% zu 15,9%. Insgesamt verloren nur drei republikanische und ein demokratischer Amtsinhaber ihre Sitze gegen innerparteiliche Herausforderer. Letzteres gilt natürlich auch für die Tea-Party-Kandidaten, die sehr Establishment-feindlich eingestellt sind. Insgesamt aber zeigen die Kongress-primaries dieses Jahr, dass der Aufstand der extremen Flügel zumindest vorerst nur auf der präsidialen Ebene Erfolge verbuchen konnte. Und selbst hier besiegte Clinton ihren Herausforderer ziemlich deutlich.

Interessant ist daher die Frage, warum das so ist. Warum materialisierte sich die gewaltige Unterstützung der Establishment-Feinde nicht auf der Ebene des Kongresses? Selbst das knappste dieser Ergebnisse, die primary von Debbie Wasserman Schultz, fiel angesichts ihrer Unpopularität bei den Sandernistas und der profilierten Unterstützung durch Sanders während des Vorwahlkampfs gegen Clinton überraschend deutlich aus. Mehrere Gründe sind ausschlaggebend hierfür.

Da wäre zuerst der Organisationsgrad zu nennen. Die Amtsinhaber verfügen über ein ordentlich geöltes Unterstützernetzwerk und, vor allem, etablierte Spender. Sie haben außerdem den Rückhalt ihrer jeweiligen Parteirorganisation, des RNC und DNC. Das wirkte sich bereits in den Präsidentschaftsvorwahlen stark aus - daher ja auch der Hass der Sandernistas gegen Wasserman Schultz - und ist bei den durch geringere Aufmerksamkeit und insgesamt geringere Geldmengen geprägten Kongresswahlen deutlich ausschlaggebender. Allein die Koch-Brüder, die aus Protest gegen Trump kein Geld in den Präsidentschaftswahlkampf stecken, pumpen Millionen in die Kongresswahlen und -vorwahlen, um eine demokratische Übernahme zu verhindern.

Da wäre zum zweiten die Mobilisierung. Die Präsidentschaftsvorwahlen sind leicht zu greifen und machen es leichter, Werbung für die Teilnahme zu machen. Aber in Floridas 23. Distrikt genügend Streiter für einen Vorwahlkampf für den Kongress zu finden ist schwer. Das Gleiche gilt für Arizona und Wisconsin natürlich ebenso. Das Thema eignet sich nicht für einen kurzfristigen "Angriff von oben", wie es die Präsidentschaftsvorwahlen tun. Wie die Tea Party gezeigt hat, ist hier eine große Bewegung von unten notwendig. Das ist Sanders aber nicht.

Der hat stattdessen mit seiner neuen Organisation "Our Revolution" einige organisatorische Missgriffe getan. So registrierte er sie als eine 501(c)(4)-Organisation, was auf ihren steuerlichen Status hinweist (grob vergleichbar mit einem gemeinnützigen eingetragenen Verein in Deutschland). Dadurch muss Our Revolution nicht alle Geldströme nachweisen, unterliegt aber scharfen Auflagen, was den Eingriff in Wahlkämpfe anbelangt. Das bekam besonders Wasserman Schultz' Herausforderer Tim Conova zu spüren, für den Sanders nicht ein einziges Mal in Florida auftrat und der auch sonst nur wenig Unterstützung erhielt.

Es zeigt sich einmal mehr, dass der Präsidentschaftswahlkampf als Instrument einer tiefgreifenden Veränderung denkbar ungeeignet ist. All politics is local, wie es das alte Sprichwort will, und die hohe Beteiligung in den Vorwahlen täuschte oft über den mangelnden Rückhalt in der breiteren Bevölkerung hinweg. Wenn die Progressiven in der Wandlung der demokratischen Partei erfolgreich sein wollen, müssen sie so vorgehen wie es die Tea Party getan hat und ihre eigenen, lokal verwurzelten Kandidaten herausbilden, also eine bundesweite, professionelle Fraktion bilden. Ob das insgesamt so erstrebenswert ist, sei einmal dahingestellt. Den Republicans brachte der scharfe Rechtsruck den Totalkollaps jeglicher Gestaltungsmacht im Kongress und einen Präsidentschaftskandidaten Trump ein - in nur sechs Jahren nach ihrem Triumph bei den Midterms 2010. Das ist die Definition eines Pyrrhussiegs, und wenn der Preis zu seiner Vermeidung Kandidaten der Mitte wie Wasserman Schultz und Clinton sind, dann ist das sicherlich besser als die Alternative. Jede progressive Graswurzelbewegung sollte daher stets das Schicksal der Tea Party und der Republicans vor Augen haben und sich gut überlegen, wie viele Institutionen man niederbrennen kann, bevor einem der ganze Bau über dem Kopf zusammenbricht.

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¹ Begriff für die Anhänger Sanders. Analog dazu Clintoniten, Trumpisten.

Sonntag, 21. August 2016

Hält die Mitte?

Turning and turning in the widening gyre.
The falcon cannot hear the falconer;

Things fall apart; the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,

The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere

The ceremony of innocence is drowned.

The best lack all conviction, while the worst

Are full of passionate intensity.

(W. B. Yeats, "The Second Coming", 1919)

Das Jahr 2016 ist bisher nicht gerade eines der erfreulichen im 21. Jahrhundert. Wer nur oberflächlich im Netz unterwegs ist wird bestimmt schon auf den einen oder anderen Scherz darüber gestoßen sein, dass man es am besten aus dem Kalender streicht oder zurückgibt oder später im Geschichtsunterricht totschweigt. Und während die Zunahme des Terrors in der westlichen Welt, die ersten sichtbaren Schattenseiten der Willkommenskultur, der Brexit und der Aufstieg der Rechtspopulisten dieseits wie jenseits des Atlantiks immer wieder die gern gefühlte Ruhe in den heimischen Wohnzimmern erschüttert, stellt sich die bange Frage: hält die Mitte? Can the Center hold? Anders ausgedrückt: versinkt der Westen - und um den geht es, wenn wir ehrlich sind, denn es gibt nur wenig Empathie für Venezuela und Brasilien - in "bloßer Anarchie", überrollt von einer "blutdunklen Welle"?


Verfolgt man die Nachrichten, könnte man meinen dass dem so ist. Schließlich sind diese voll von Berichten über kriminelle Flüchtlinge/Migranten/sonstige Ausländer, von Terroranschlägen, von politischen Schocks (Trump! Brexit! Putin!) und kulturellem Verfall (Smartphones verderben die Jugendlichen, Autos fahren selbst, etc.). Wissenschaftler wie Steven Pinker allerdings relativieren dies mit dem Verweis darauf, dass Gewalt, Armut, Krankheit und Unterdrückung weltweit auch 2016 auf dem Rückmarsch sind. Nun war es natürlich nur Wenigen ein Trost, dass ihre aktuelle Not nur ein Ausreißer vom generellen Trend ist, denn die Not bleibt ja real, und der eigene Horizont ist notwendigerweise von den eigenen Umständen bestimmt. Deswegen verabschieden wir uns an dieser Stelle von einer ganzheitlichen Betrachtung und betreiben Nabelschau für unsere eigene, westlich geprägte Welt.

Die fünf größten Themen, die derzeit am Fundament der liberalen Demokratie rütteln sind ohne Zweifel Terrorismus, Flüchtlingskrise, Rechtspopulismus, Russland und der reaktionärer Backlash. Diese fünf Phänomene sind alle miteinander verknüpft und spielen sich gegenseitig Bälle zu. Im folgenden will ich versuchen, sie in einen allgemeinen Kontext zu stellen.

Da wäre zum Einen die Flüchtlingskrise. Die euphorische Berichterstattung zur Willkommenskultur, die noch 2015 die Nachrichten dominierte, ist mittlerweile nicht nur unter dem Eindruck der Sylvester-Nacht in Köln deutlich abgekühlt. Die Deutungshoheit über den aktuellen Stand der Dinge ist von den klassischen Medien in die Fiebersümpfe der Sozialen Netzwerke gewandert, wo allerlei dubiose Quellen munter geteilt werden und die absonderlichsten Geschichten die Runde machen, ob es der kostenlose Mercedes für Flüchtlinge, eine Vergewaltigungswelle in den Schwimmbädern der Republik oder das Begrapschen von Frauen auf offener Straße ist. Der schieren Masse der Falschnachrichten kommen die Dementis von Polizei und Lokalpresse schon gar nicht mehr hinterher. Was aber sagen die Zahlen?

Im August unterstützen laut der Forschungsgruppe Wahlen allerdings immer noch 44% aller Deutschen die Flüchtlingspolitik Merkels; 52% lehnen sie ab. Gleichzeitig erwarten immer noch 60% der Deutschen, dass die Flüchtlinge dem Land ökonomisch helfen werden, während nur 30% negative Effekte erwarten. Die Ablehnung der Flüchtlingspolitik konzentriert sich zudem stark auf die AfD, wo satte 99% der Parteimitglieder sie ablehnen - während in der CDU 66% zustimmen. Ein guter Teil des Unmuts scheint mir zudem von den Reibungsverlusten zu kommen, die die Unterbringung von einer Million Flüchtlingen mit sich bringt. Wer jemals in einer Gegend gewohnt hat, an die ein Neubaugebiet angeschlossen werden soll, kennt den entstehenden Widerstand gut. Die diffuse Angst vor dem Fremden jedoch, die immer noch weitverbreitet ist, sollte nicht unterschätzt werden. Insgesamt allerdings steht eine solide Mehrheit in Deutschland immer noch radikalen Lösungen ablehnend gegenüber. Die Unzufriedenheit scheint daher zu einem guten Teil eher auf die konkrete Umsetzung als die Prämissen bezogen zu sein. Diese Schlussfolgerungen sind allerdings zugebenermaßen spekulativ.

Drastischere Auswirkungen hat die Flüchtlingskrise in anderen Ländern. In Osteuropa, wo sie entweder kaum (Polen, Tschechien) oder nur auf dem Durchweg (Ungarn) zu spüren ist, kapitalisieren die dortigen rechtspopulistischen Strömungen massiv fremdenfeindliche Ressentiments. Die niedrigen Asylbewerberzahlen in diesen Ländern stehen in keinem Verhältnis zu dem Hass, der den Flüchtlingen dort entgegengebracht wird - ein mittlerweile vertrautes Schema, das sich auch in Deutschland wieder besichtigen lässt, wo gerade die Regionen mit den geringsten Ausländeranteilen häufig am ausländerfeindlichsten sind. Als politisches Kampfmittel zementiert die eigentlich ferne Flüchtlingskrise so die Herrschaft der Neuen Rechten in Osteuropa und schiebt sie in anderen Ländern an. In Deutschland brachte sie die AfD aus dem politischen Nahtod zurück, in Frankreich malt sich die Front Nationale Hoffnungen aufs Präsidentenamt aus, in England nutzte UKIP sie, um den Brexit erfolgreich zu plebiszitieren und in den USA schwimmen Trump und die Republicans auf der Welle des Hasses.

In all diesen Ländern wird im Diskurs, und das ist der zweite Punkt, die Flüchtlingskrise mit der Zunahme des Terrorismus verbunden. Eine tatsächliche Korrelation ist dabei nur schwierig herzustellen, denn die großen Attentate wie in Nizza, Paris oder in der Normandie wurden von Menschen verübt, die entweder schon länger als 2015 im Land waren oder nur einen Migrationshintergrund in zweiter Generation hatten. Sie sagen daher mehr über verfehlte Integrationspolitiken als über Flüchtlinge aus. Aber diese Feinheiten gehen in der Furcht genauso unter wie die statistisch eher geringe Terrorgefahr. Bei über einer Million Flüchtlingen in Deutschland allein ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis eine nach August 2015 geflüchtete Person eine Gräueltat begeht und die Diskussion damit erneut in voller Stärke aufflammt. Tatsächlich ist die Terrorangst, ob berechtigt oder unberechtigt, so stark wie seit 2001 nicht mehr. Die kulturell bedingte, meist rassistisch unterfütterte Ablehnung von Fremden vermischt sich daher bis zur Unkenntlichkeit mit der Furcht vor Terrorismus.

Unterstützt wird das zusätzlich durch den gezielten Einfluss von außen, in diesem Fall die assymetrische Kriegführung Russlands. Staatlich gesteuerte Fernsehsender wie Russia Today (RT), finanzielle Unterstützung rechtspopulistischer Parteien und Politiker wie der Front Nationale oder Donald Trump, gezielte Hacks (wie beim DNC) und Heerscharen von Internettrollen, ein guter Teil davon KI-gesteuert, die in den Sozialen Netzwerken für Unruhe sorgen produzieren eine gewaltige Unsicherheit und attackieren die Meinungshoheit der liberalen Medien. Beispielhaft für das aus diesen Einmischungen entstehende Klima dürfte die Geschichte des 13jährigen Mädchens sein, das von Flüchtlingen vergewaltigt worden sei. RT Deutschland nutzte die Story massiv um Vertrauen in die Medien zu untergraben (die die Story angeblich totschweigen) und Stimmung gegen die Flüchtlinge zu machen. Inzwischen ist erwiesen, dass an der Story - wie an vielen, vielen anderen - nichts dran war. Die Attacken allerdings heben gezielt den Unterschied zwischen Fakt und Trug auf und machen wirre Theorien und Meinungen salonfähig, indem sie Unsicherheit und Verwirrung schaffen¹.

Auf diesem fruchtbaren Nährboden der Furcht, der Unsicherheit und des Hasses gedeihen aktuell die rechtspopulistischen Parteien und Politiker. Sie kapitalisieren ihn, ohne dabei irgendwelche Antworten zu haben. Meist wird eine diffuse Größe in der historischen Vergangenheit beschworen, ob in Polen ("einfaches Volks" vs. "kosmopolitische potentzielle Landesverräter"), Ungarn ("traditionelles Familenmodell"), Frankreich ("Weder rechts noch links - französisch!") oder den USA ("Make America Great Again"), ein Weg der aus naheliegenden Gründend er AfD in Deutschland nicht offensteht. Alle diese Parteien folgen dabei einem ähnlichen Schema. Sie werden geführt von einem "starken Mann" (der wie in Frankreich auch eine Frau sein kann) und lehnen die traditionellen Werte einer liberalen Demokratie ab: Toleranz, Kosmopolitizismus, Meinungsfreiheit, Pluralismus, oft auch Marktwirtschaft (vor allem in Ungarn). Einmal an der Macht ändern sie fast immer relevante Gesetze und wenn möglich auch die Verfassung, brechen bestehende liberal-demokratische Normen (etwa die Unabhängigkeit von Presse und Justiz) und lösen politische Konflikte häufig per Akklamation (Volksentscheid).

Legitimiert werden diese Schritte zumeist einerseits historisch in der Wiederherstellung einer konstruierten, "reinen" Identität und der Restauration der damit einhergehenden Werte, häufig eines ethnisch reinen, religiös unterfütterten Patriarchats. Die Opfer dieser Entwicklung sind immer Minderheiten, entweder ethnische (etwa Sinti und Roma) oder kulturelle (LGBT, kosmopolitische Eliten). Sie versuchen, die herrschende Unsicherheit zu nutzen, die auch durch den massiven kulturellen Wandel der vergangenen zwei Jahrzehnte hervorgerufen wird, der mittlerweile einen veritablen backlash produziert hat.

So ist die Akzeptanz abweichender Sexualpraktiken (Homosexualität ist da nur primus inter pares) in diesen zwei Dekaden ebenso massiv angestiegen wie die Tabuisierung von offenem Rassismus und Sexismus sowie genereller Engstirnigkeit. Die Zeiten, in denen sich ein Bundeskanzler wie Gerhard Schröder noch Anfang der 2000er Jahre mit offensivem Proletentum profilieren konnte sind in der deutschen Politik vorbei. Das führt zu einem backlash bei jenen, die damit ihren Lebensstil in Gefahr sehen - ein Phänomen, das sich am eindringlichsten in Trumps Invektiven gegen "political correctness" beobachten lässt, die häufig aus wenig mehr als dem gezielten Tabubruch, dem Widerstand gegen Normen und Konventionen bestehen, ein Verhalten, das man sonst eher pubertären Jugendlichen zuschreibt. Nicht, dass das diese Leute davon abhalten würde sich über den Werteverfall der Jugend und ihre Verderbnis zu beklagen während sie gleichzeitig ihren Hass und Unrat in die Welt hinausschreien.

All diese Faktoren bedrohen die liberale Demokratie und drohen, sie in einen Abwärtsstrudel zu reißen, an dessen Ende eine autokratische, auf gezielter Desinformation und Diskriminierung basierende Herrschaftsform steht. In Putins Russland kann man sie in Reinform sehen, Ungarn ist nicht mehr weit weg, Polen auf dem besten Wege. In Frankreich, Großbritannien und den USA stehen gerade die Gründerstaaten der liberaler und republikanischer Ideen vor diesem Strudel. Die Frage ist daher, erneut: Can the center hold? Hält die Mitte?

Die beschriebenen Faktoren schaffen schließlich keinen Automatismus. Die Horrorversion habe ich beschrieben, und sie würde 2016 tatsächlich zu einem furchtbaren Jahr machen. Es ist aber auch möglich, dass die Mitte hält. Die Nachrichten aus den USA bleiben unvermindert gut. Donald Trumps Zustimmungswerte sind schlecht, und ein Sieg Hillary Clintons bleibt wahrscheinlich. In Großbritannien machen die Tories wenig Anstalten, der UKIP in ihrer Radikalrhetorik nachzufolgen, und Labour führt noch immer einen Kampf um die eigene Seele und den Angriff durch eine ähnliche, nur in diesem Fall linkspopulistische Strömung durch Jeremy Corbyn, dessen Sieg auch nicht garantiert ist. In Frankreich könnte ein Bündnis der Mitte Marie Le Pen durchaus stoppen. In Deutschland steht die AfD zwar stärker da als je zuvor, aber gleichzeitig bleibt der Konsens für die liberale Demokratie außerordentlich stark. Es gibt also Gründe zum Hoffen und nicht nur zum Bangen. Es ist an jedem Einzelnen, dem Unrat keinen Platz zu geben und seinen Teil dazu beizutragen, dass die großen Errungenschaften der letzten Dekaden nicht der dunklen Seite unserer Seelen zum Opfer fallen.

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¹ Es hat natürlich eine gewisse Ironie, dass der Westen zur Zeit des Kalten Kriegs dieselben Taktiken anwendete, etwa mit RIAD oder Voice of America.

Mittwoch, 10. August 2016

Trumpdämmerung?

Seit dem Parteitag der Democrats in Philadelphia kennen die Umfragewerte für Clinton nur noch eine Richtung: nach oben. Während Trumps Umfrageschub seines eigenen Parteitags, der ihm eine knappe Parität mit Clinton einbrachte, nach einer Woche bereits verflogen war, hält Clintons nicht nur unvermindert an, sondern steigt sogar. In allen Swingstates - die Staaten, die den Ausschlag in einer Wahl geben weil sie möglicherweise an eine andere Partei gehen könnten - mit Ausnahme Arizonas führt Clinton. Und Arizona war bislang nicht einmal ansatzweise als Swingstate auf dem Bildschirm irgendeines Parteistrategen gewesen. Genausowenig übrigens wie Georgia, wo Clinton in Umfragen mittlerweile führend ist. Angesichts dieser dramatischen Zahlen stellt sich daher vor allem die Frage, ob das die Trumpdämmerung ist: der Anfang vom Ende der republikanischen Kandidatur, oder ob es nur eine Momentaufnahme ist, die sich jederzeit wieder ändern kann.

Bis zu Trumps Kandidatur galt in Wahlkämpfen stets das Gesetz politischer Gravitation. Aktionen, Werbung, Reden, Bilder und Interviews üben eine Kraft auf die Attraktivität eines jeweiligen Kandidaten aus, die ihn zu Boden zieht, wenn er einen Fehler macht. Was ein Fehler ist ist dabei nicht immer auf den ersten Blick offensichtlich. Völlig harmlose Fehltritte (gaffes) können durch ausdauernde mediale Berichterstattung zu epochalen Momenten des Wahlkampfs werden, die einen Kandidaten definieren. Andererseits können schwerwiegende Wissenslücken oder Beleidigungen unter dem Radar fliegen, weil niemand darüber berichtet. Nur eines war immer klar: wenn ein gaffe zum nationalen Thema wird, greifen die Gesetze der politischen Gravitation und ziehen den Kandidaten nach unten. Nun ist Trump offensichtlich ein Jahr lang quasi Mr. Gaffe gewesen, ohne dass ihn das irgendwie behindert hat, stets gemäß seiner eigenen Parole dass jede PR gute PR ist. Und solange Trump damit seinen Konkurrenten den politischen Sauerstoff nahm und Clinton mit ihrem Abwehrkampf gegen Sanders beschäftigt war, hat das auch gut funktioniert. Ob er mexikanische Einwanderer als Vergewaltiger pauschalisierte, ob er Bush als Lügner bezeichnete, ob er offensichtlich von Nichts außer dem Immobilienrecht eine Ahnung hatte, obwohl er Fox News angriff oder die Menstruation als ekelerregenden Vorgang darstellte - nichts schien ihn zu berühren, und er gewann die Nominierung der Republicans. Jeder, der mit ihm in Berührung kam, erlitt furchtbare Einbußen in den Umfragewerten¹.

Seitdem Trump aber anlässlich des Parteitags der Democrats die Khan-Familie angriff, hat ihn die politische Gravition in ihrem Würgegriff und lässt ihn nicht mehr los. Dabei möchte ich keinesfalls den Eindruck erwecken, dass dieses Ereignis der singuläre Wendepunkt wäre. Das wäre deutlich überzogen. Der Parteitag stellt aber definitiv eine Wasserscheide dar, und sollten Clintons Werte halten, wovon wir vorläufig für die Analyse einmal ausgehen wollen (ein konterfaktisches Argument findet sich am Ende des Artikels), stellt sich die Frage woran genau das liegt. Während der Angriff auf die Khans sicherlich ein Faktor ist - selbst rund 70% von Trumps eigenen Anhängern finden die Ausfälle falsch - reicht er aber nicht alleine aus, um den Absturz zu erklären. Was also sind die Faktoren, die eine Gravitationswirkung auf Trump ausüben?

Da wäre zum einen die Frage der Berichterstattung. Wie bereits oben erwähnt war es eine Erfolgsstrategie Trumps, den Gegnern in den primaries schlichtweg die Aufmerksamkeit zu entziehen. Laut Schätzungen hat Trump während der primaries kostenlose mediale Berichterstattung in Höhe von über zwei Milliarden Dollar bekommen (gerechnet gegen die Kosten, hätte er sie als TV-Spot-Zeit gekauft), und die Zahl ist Anfang August auf 4,3 Milliarden Dollar gestiegen. Die Grafik rechts, die 538 hilfreicherweise zusammengestellt hat, zeigt die gewaltige Aufmerksamkeit Trumps. Sie zeigt aber auch, dass Clinton im Juli - zeitgleich mit dem Parteitag - aufholte. Über sie wird nun praktisch genausoviel berichtet wie über Trump. Dieser Vorteil Trumps ist also verschwunden und wird auch nicht wiederkehren, dafür sorgen die natürlichen Dynamiken eines Zwei-Personen-Wettkampfs. Während Clinton jede Berichterstattung, die sie irgendwie beeinflussen kann, positiv zu drehen versucht, ist Trump immer noch im primary-Modus und betrachtet auch Berichterstattung über irrsinnige Kommentare als gut - seine Hälfte der Berichterstattung ist also deutlich negativer als die Clintons.

Der zweite Faktor ist die ungeheure Schieflage in Werbung. Seit Trump die Nominierung mit Cruz' Aufgabe Anfang Mai effektiv gewann, bombardierte das Clinton-Team (sich seines eigenen Siegs in den primaries sicher) Trump mit Negativ-Wahlbotschaften. Besonders in den Swingstates schaltete Clinton große Mengen von Spots und anderen Maßnahmen. Trump dagegen schaltete - gar nichts. Wochenlang standen Clintons Angriffe unwidersprochen im Raum. Man sollte sich dabei nicht dem Irrtum hingeben, Trump sei ohnehin durch die primaries so ausdefiniert, dass diese Attacken keine Wirkung hätten. Auch wenn die primaries einen Großteil der medialen Aufmerksamkeit auf sich vereinen beachtet sie nur eine Minderheit der Amerikaner. Die meisten fangen erst im August an, sich aktiv für den Wahlkampf zu interessieren. Clinton konnte diesen Wählern zwei Monate lang ein Best-Of von Trumps größten gaffes und Beleidigungen präsentieren². Auch im August ist die Waffenungleichheit nicht beseitigt. Clinton investiert deutlich mehr Geld in den Wahlkampf als Trump und der RNC dies tut.

Der nächste Faktor ist, dass Trump immer noch praktisch nicht über ein Wahlkampfteam verfügt. Seine Organisation ist personell völlig unterbesetzt, von Amateuren geleitet und total chaotisch. Die Bürde des eigentlichen Wahlkampfs liegt daher auf den Schultern des RNC, der Spenden einholen und Wahlkampf betreiben muss. Im Allgemeinen ist es umgekehrt, und die Partei profitiert von der Aufmerksamkeit des Präsidentschaftskandidaten, der so den eigenen Kandidaten in den lokalen Wahlkämpfen (down ballot) hilft. Dieses Jahr ist es bei den Republicans eben umgekehrt, was bedeutet, dass Trump nicht einmal in seinem eigenen Wahlkampf Herr über sein Image ist. Der RNC hat zudem ein höheres Interesse daran, die Kandidaten für den Kongress und die Parlamente der Bundesstaaten zu pushen als Trump, den die Partei immer offensichtlicher abschreibt.

Der vierte Faktor ist, dass Trumps ganzes Wahlkampfprogramm, einmal abgesehen von seiner gewaltigen Inkohärenz, nicht einmal besonders spannend ist. Abgesehen von einer rhetorischen Übersteigerung der üblichen "tough on border security"- und "tough on crime"-Rhetorik ("Build that wall!") enthält sie wegen Trumps völliger programmatischer Kapitulation vor Paul Ryan und Reince Priebus (deren Hilfe er, wie im Faktor drei beschrieben, dringend braucht) deren Wunschzettel: Abschaffung der Erbschaftssteuer, radikale Steuersenkungen für Reiche, drastische Kürzungen von Medicaid, etc. Ezra Klein nannte es das "Programm des schlechtesten beider Welten", indem Trump den offensichtlichen Rassismus und Sexismus des Populisten mit den elitistischen Wirtschaftsprogrammen der Republicans verband. Was Trump als künftiges Regierungsprogramm ausgibt, steht Mitt Romneys von 2012 in nichts nach - und liefert den Democrats Stoff für zahlreiche Werbespots, sobald eine Sättigung an Trump-Beleidigungs-Best-Ofs erreicht ist.

Der fünfte Faktor ist Trumps erratische Außenpolitik. In einer überraschenden Drehung der üblichen Dynamiken sind es die Democrats, die den republikanischen Kandidaten dafür angreifen, zu weich in Fragen der Sicherheit zu sein und als fünfte Kolonne Moskaus zu fungieren. Trumps positive Kommentare über Putin, der russische Hackerangriff auf den DNC, die Kollaboration von Wikileaks mit Russland, seine wahnwitzigen Kommentare zum Einsatz von Atomwaffen und seine Vorstellung, die NATO sei effektiv eine Truppe zur Erpressung von Schutzgeld, haben nicht nur ein riesiges Angriffsfeld geschaffen, sondern auch noch eine von Clintons Schwächen bei ihren eigenen Wählern - ihre reichlich aggressive Außenpolitik - zu einem positiven Wert gemacht, mit dem sie die Unterstützung der wenigen verbliebenen Independents und, wichtiger, republikanischer Intellektueller gewinnt.

Das führt direkt zum sechsten Faktor, dem kontinuierlichen Kampf Trumps mit seiner eigenen Partei. Während Clinton seit dem Parteitag jeden Tag weitere Sanders-Unterstützer auf ihre Seite ziehen kann - rund zwei Drittel geben in Umfragen derzeit an, sie zu unterstützen, und 90% der gesamten demokratischen Parteibasis - lehnen immer noch 20% der Republicans Trump kategorisch ab. Das ist nicht nur der doppelte Wert Clintons, es sind Leute, die im Gegensatz zu dem verbliebenen Drittel der Sanders-Anhänger kaum mehr gewonnen werden können, weil sie teils bereits dem Kandidaten der Libertären, Johnson, oder Clinton selbst (!) ihre Unterstützung ausgesprochen oder aber Wahlenthaltung angekündigt haben. Anstatt jede Anstrengung zu unternehmen, diese Leute zu sich ins Boot zu holen hat Trump sinnlose Kämpfe mit prominenten Parteigrößen wie McCain oder Ryan begonnen, die offensichtlich nichts als Retourkutschen für deren mangelnden Enthusiasmus bei den primaries und der Phase danach sind. Während Clinton als professionelle Politikerin die Kröten schluckt und ihren ehemaligen Gegnern die Hand zur Versöhnung reicht, verschafft sich Trump billige Befriedigung darin Paul Ryan mit den gleichen Worten³ das endorsement zu verweigern, mit dem Ryan es einst ihm vorenthielt - was, wie in Faktor eins beschrieben, einmal mehr rein negative Berichterstattung schafft, die alle Versuche positiven Messagings verdrängt.

Der siebte Faktor ist Trumps Persönlichkeit. Es wird immer offensichtlicher, dass er an einer massiven narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet, die einen rationalen Entscheidungsprozess unmöglich macht. Clintons Spruch aus ihrer Parteitagsrede "Wer sich von einem Tweet provozieren lässt, sollte keinen Zugang zu Atomwaffen haben" ist praktisch zum Motto der Neocon-Ablehnung Trumps geworden (Max Boot⁴ etwa garniert damit gerne Trumps Tweets). Besonders Wähler und Mulitplikatoren, die auf mentale Stabilität in einem Präsidenten wert legen, sind für diese Botschaft empfänglich. Doch selbst abseits davon ist Trumps Persönlichkeit ein schwerwiegender Nachteil für ihn. Weder bringt er die Disziplin auf, seine Kernbotschaften kohärent und einem Botschafts-Plan entsprechend zu verfolgen, noch kann er Attacken einfach stehen lassen, wenn eine Würdigung ihm nur schaden würde. Elizabeth Warren etwa hat als Bluthund für die Democrats bereits mehrere Kämpfe vom Zaun gebrochen, in denen Trump schlecht aussah und die zur Story in den Medien wurden. Besonders im Hinblick auf die Debatten - so Trump überhaupt an ihnen teilnimmt, was immer weniger wahrscheinlich scheint - wird diese Persönlichkeit sich als riesiges Problem erweisen.

Diese Faktoren spielen allesamt eine Rolle in Trumps aktuellem Fall in den Umfragen. Da viele davon sich kaum mehr ändern lassen und fundamental in Trumps Charakter und Programm angelegt sind, spricht derzeit einiges dafür, dass Clintons Umfrage-Hoch anhalten wird. Im besten Falle führt es sogar zu einer Todesspirale für Trumps Wahlkampf, in dem schlechte Nachrichten und Umfragewerte für weitere schlechte Nachrichten und Umfragewerte sorgen. Eines in jedem Falle zeigen die Zahlen, selbst wenn sich die Schere wieder verengen sollte: Die Unverwundbarkeit Trumps ist ein reiner Mythos. Auch er kann sich den Gesetzen der politischen Gravitation nicht vollständig entziehen.

Was aber wenn Trumps Werte sich wieder erholen? Dies könnte mehrere Ursachen haben. Vorstellbar wäre etwa ein äußerer Impuls wie der von Wikileaks für Oktober angekündigte Datenschwall weiterer DNC-Mails, in denen sich vielleicht Inkriminierendes für Clinton findet. Dies scheint im Augenblick jedoch in höchstem Maße unwahrscheinlich. Wenn es etwas entscheidendes gäbe, hätten wir es vermutlich längst gesehen. Eine weitere Möglichkeit eines äußeren Ereignisses wäre ein schwerwiegender Fehltritt Clintons - angesichts ihrer hohen Disziplin aber unwahrscheinlich - oder eine Katastrophe wie eine Rezession oder ein großer Terroranschlag. Die letzten Wochen haben aber deutlich gezeigt, dass ein solches Ereignis eher Clinton helfen würde als Trump, dem nicht einmal die eigenen Anhänger mehr die größere Kompetenz zusprechen wollen.

Intrinsisch ist dagegen gut vorstellbar, dass die Republicans angesichts der drohenden Erdrutsch-Niederlage doch noch die Reihen schließen und sich hinter den (weiter ungeliebten) Spitzenkandidaten stellen. Die Lücke von derzeit rund 20% könnte sich dann auf die rund 90% schließen, die Clinton aktuell fehlen (viel höhere Werte sind eher unwahrscheinlich und wären auch ahistorisch). Ausreichend wäre aber auch das nicht. Selbst in diesem Szenario würde Clinton immer noch gewinnen, es wäre dann eben nur knapper.

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¹ Siehe hier.

² Dem in Philadelphia entwickelten Motiv, die Democrats als Partei der Familie und amerikanischen Werte zu präsentieren, blieb sie dabei treu und vermischte Trumps Aussagen in einem hoch effektiven Spot mit entsetzt zusehenden Kindern.

³ "I'm not quite there yet". Nach zwei Tagen verschwendeter Berichterstattung und massivem Druck hat Trump McCain und Ryan dann doch ein endorsement gegeben, unmotiviert abgelesen von einem Blatt Papier.

⁴ Intellektueller, argumentierte vor allem zu Bush-Zeiten für "einen neuen aufgeklärten Kolonialismus, wie er einst von Europäern in Tropenhelmen ausgeführt wurde".