Ob in Deutschland oder in den USA, die Zeitungen sind voll von Selbstkasteiungen: warum man Trump unterschätzt hat, wieso man es nicht hat kommen sehen, wieso man sich seiner selbst so sicher war. Verbunden ist es immer mit der Aufforderung, nun - unter dem Schock der Niederlage nach dem sicher geglauten Clinton-Sieg - die Blase der liberalen Küstenelite zu verlassen und einen Blick in die ländlichen Regionen zu werfen, die Trump zum Sieg verholfen haben, vom Rustbelt des Mittleren Westen über den Panhandle Floridas hin zu den Counties der Appalachen. Was Clinton das Genick schließlich brach waren Trumps knappe Siege in ihrer "Firewall", von Wisconsin über Michigan zu Pennsylvania. War es also liberale Arroganz, den Aufstand des real America nicht zu sehen? Waren wir in unseren culture wars verheddert und sahen nicht, dass sich Amerika von uns abwandte? Haben wir zu sehr "identity politics" betrieben und darüber vergessen, was wirklich zählt? Es ist ein schönes und gut greifbares Narrativ, und es ist kein Wunder, dass es gerade überall zu lesen ist. Es erhöht auch immer gleich den Schreiberling, der es entweder immer schon gewusst hat oder nun Bescheidenheit demonstrieren und sich auf die Siegerseite stellen kann. Es ist aber leider auch ungeheuer heuchlerisch.
Natürlich ist der Ruf nach Empathie nichts, was man ablehnen sollte. Empathie ist gut¹, und sicherlich bin ich wenigstens ein wenig schuldig darin, allzu theoretisch an die Lage herangegangen zu sein und den Statistiken über die Entwicklung der Arbeitslosenquote (nach unten) und der Reallöhne (nach oben) in 73 ununterbrochenen Monaten Obama-Präsidentschaft² gegenüber der gefühlten Realität in den Hochburgen der Weißen Arbeiterklasse (white working class, ein Begriff, der mit Trumps Wahl in keiner Analyse fehlen darf) zu viel Gewicht zugesprochen zu haben. Was mich auf die Palme bringt, ist aber die dahinterstehende Heuchelei, die den Leuten zu allem Überfluss nicht einmal bewusst ist, weil sie selbst in einer riesigen Blase stecken und selbst Identitätspolitik betreiben, nur eben für heterosexuelle Weiße.
Was ich damit meine? Obama siegte in zwei Wahlen hintereinander. Auf beide Wahlen reagierten die Republicans, indem sie ihm jegliche Legitimation absprachen und totale Obstruktionspolitik betrieben. Nie gab es eine große Welle der Introspektive bei den großen Zeitungen, die Empathie mit den Teilen der Obama-Koalition forderten, die bisher marginalisiert und stigmatisiert waren und nun mit Macht auf die politische Bühne gedrängt waren. Stattdessen entstand eine endlose Debatte über die außer Kontrolle geratende "political correctness". Im Ton größter Ernsthaftigkeit und Folgenschwere wurde die Frage diskutiert, ob es weißen Männern wirklich zumutbar ist, beim Sex das Einverständnis der Frau einzuholen, Schwarze als Nachbarn zu akzeptieren und Homosexuellen (und sind wir ehrlich: gemeint sind Schwule) das Recht zuzugestehen, sich in der Öffentlichkeit zu küssen.
Von all den culture-war-Themen, die in den letzten drei, vier Jahren die Schlagzeilen beherrschten, hat keine einen vergleichbaren Grad an Forderungen nach Empathie hervorgerufen. Dabei hätte gerade diese Empathie den backlash deutlich abmindern können, den so viele Journalisten und sonstige Beobachter nun mit unverhohlener Schadenfreude prognostizieren. Man kann das problemlos an diversen Beispielen erkennen.
So schrieben ernsthaft viele Journalisten, als Trumps Angeberei über seine eigenen sexuellen Übergriffe bekannt wurde, dass ja "jeder Mann" schon so geredet habe und dass das alles kaum ernstzunehmen sei, und überhaupt, wer könne schon jemals bei Frauen so genau sagen, ob ein Nein nicht doch ein Ja sei? Es entbrannte eine Debatte darüber, ob es für eine Frau unzumutbar sei, 600 Kilometer zur nächsten Abtreibungsklinik zu fahren oder ob die Unzumutbarkeitsgrenze erst bei 1000 Kilometern erreicht ist. Und als es um den Schutz von Vergewaltigungsopfern ging, drehte sich die Debatte fast augenblicklich um die Frage, ob denn den Männern zugemutet werden könne, einem solchen Verdachtsmoment ausgesetzt zu sein. Hätten die männliche Bevölkerung hier mehr Empathie gezeigt, Trump wäre heute vielleicht nicht Präsident.
So war eine große Diskussion auf den amerikanischen Campussen die Frage der so genannten micro-aggressions. Ein Großteil der Berichterstattung über diese Diskussionen, die - wie so häufig - unter dem Schirmbegriff der political correctness ablaufen, befasste sich mit der Frage, wie schlimm die Auswirkungen für weiße Männer sind, und kaum mit der Frage, woher die Befürchtungen kommen und welche Grundlage sie haben oder endete, Gott bewahre, mit einer Forderung nach Empathie (die der political correctness immer zugrunde liegt). Hätte die weiße Mehrheitsbevölkerung hier mehr Empathie gezeigt, Trump wäre heute vielleicht nicht Präsident.
So war die größte Bürgerrechtsbewegung der letzten zwei oder drei Dekaden, #BlackLivesMatter, von Anfang an in der Defensive. Schwarze sind mehrfach wahrscheinlicher das Opfer von unbegründeten Stopps, von Polizeigewalt, von Inhaftierung, von Tötung durch Polizisten. Nach Trayvon Martin, Ferguson und Eric Garner versuchte die #BlackLivesMatter-Bewegung, auf dieses gesellschaftliche Problem aufmerksam zu machen. Die Antwort des konservativen Amerika war nicht etwa Empathie, sondern die primitiv-dumme Retorte "All Lives Matter". Da konnten progressive Journalisten auch noch so oft erklären, wie falsch das ist - in den meisten Massenmedien war #BlackLivesMatter damit eine nur für die jeweilige Parteibasis relevante, zum reinen Wahlkampfslogan degenerierte sideshow. Hätte die weiße Mehrheitsbevölkerung hier mehr Empathie gezeigt, Trump wäre heute vielleicht nicht Präsident.
So wurde die unbedeutende Gesetzesänderung, Transsexuellen die Nutzung der für das "neue" Geschlecht angebrachten Toilette in öffentlichen Gebäuden zu erlauben, von den Republicans zu einem Wahlkampfhit aufgebläht, indem sie Transsexualität auf die gleiche Stufe wie Pädophilie stellten und so taten, als ob dank dieses Gesetzes nun Kinderschänder in die Duschräume des Mädchensports eindringen könnten. Ekel wie Mike Huckabee erklärten im Vorwahlkampf sogar rundheraus, dass sie genau das getan hätten, wenn ihnen das Gesetz die Möglichkeit gegeben hätte. Es wäre nicht einmal Empathie nötig gewesen, um diesem Unsinn einen Strich durch die Rechnung zu machen - eine einfache Recherche, was Transsexualität eigentlich ist, hätte ausgereicht. Und Trump wäre heute vielleicht nicht Präsident.
So konnte eine Diskussion über die Abschiebung von Millionen Minderjähriger in Länder, die sie noch nie besucht haben, deren Kultur ihnen fremd ist und deren Sprache sie teils gar nicht beherrschen, völlig ohne eine nähere Betrachtung der Personen auskommen, um die es geht. Als Trump ankündigte, eine Grenzmauer bauen und Millionen abschieben zu wollen, fertigten zig Reporter investigative Reportagen über die weißen Grenzmilizen an, die in ihrer Freizeit versuchen illegale Migranten teils mit Waffengewalt aufzuhalten. Die empathischen Reportagen über die Millionen, um die es dabei eigentlich ging, kann man mit der Lupe suchen. Hätte die weiße Mehrheitsbevölkerung Empathie für die DREAMers gezeigt, Trump wäre heute vielleicht nicht Präsident.
So führte eine Forderung Donald Trumps, auf unbestimmte Zeit allen Muslimen, auch solchen mit amerikanischem Pass, die Einreise in die USA zu verbieten, hauptsächlich zu abstrakten Diskussionen über die Frage, wie verfassungsgemäß ein solcher muslim ban eigentlich sei. Kaum jemand fand etwas dabei, dass konservative Rechtsgelehrte dabei positiv auf den Präzendenzfall der japanischen Internierungslager im Zweiten Weltkrieg verwiesen. Hätte die weiße Mehrheitsbevölkerung Empathie für diese flagrante Gleichsetzung aller Muslime, egal aus welchem Land und Kulturkreis, mit IS-Terroristen gezeigt, statt das einfach als gegeben hinzunehmen, Trump wäre heute vielleicht nicht Präsident.
So war die Reaktion vieler Medien auf die Benennung von rechtsextremen Figuren erstaunlich gedämpft. Breitbart-Chef Steve Bannon, sich offen als "weißen Nationalisten" bezeichnet, wird gerne mit dem unverfänglichen Prädikat "umstritten" benannt. Jeff Sessions, dem 1986 die Ernennung zum Bundesrichter wegen seines amtlich festgestellten Rassismus' versagt wurde, ist jetzt heißer Anwärter auf das Amt des Bundesstaatsanwalts (attorney general). Trump erhielt glühende endorsements vom Ku-Klux-Klan und tat so, als wüsste er gar nicht wirklich was das ist, ohne dass er dafür allzu hart kritisiert worden wäre. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Diese Figuren sind für die meisten Journalisten keine Bedrohung, denn sie richten sich gegen Minderheiten, und die sind im Journalismus weiterhin selten. Hätte die weiße Mehrheitsbevölkerung mehr Empathie mit jenen Bevölkerungsgruppen gezeigt, die von den Zukunftsvorstellungen solcher Figuren tatsächlich existenziell bedroht sind, Trump wäre heute vielleicht nicht Präsident.
Diese Empathie aber wurde nicht gewährt. Auf der anderen Seite gab es dagegen eine ganze Reihe von großartigen und sensiblen Reportagen in "Trumpland", ob in Mother Jones oder glühenden Besprechungen von J.D. Vances "Hillbilly Elegy" ("book of the times"). Die vielbeschworene Empathie mit den zurückgelassenen weißen Fabrikarbeitern aus dem Rustbelt oder den Kohlekumpeln aus den Blue Ridge Mountains, sie war allgegenwärtig. Nur hatte sie stets einen Beigeschmack von Abgesang angesichts katastrophaler Umfragewerte für Trump. Die angeblichen Beschimpfungen von Trump-Wählern aber, die als argumentativer Strohmann von wahlweise in scheinheiliger Selbstkritik oder vergnügter Schadenfreude suhlendenen Journalisten links wie rechts niedergerissen werden, waren kaum das beherrschende Merkmal des Wahlkampfs. Praktisch alle professionellen Beobachter des Wahlkampfs waren auch immer vorsichtig darin, Trumps Wählern zu bescheinigen, Rassismus entweder zu ignorieren oder rassistische Äußerungen zu tätigen, bezeichneten sie aber nicht in Bausch und Bogen als Rassisten. Selbst Clinton gab sich Mühe, nur die Hälfte seiner Wähler im "basket of deplorables" zu verorten. Solch feine Distinktionen gehen in der Hitze des Gefechts natürlich unter und mögen für die meisten auch irrelevant sein, aber es ist wahrlich nicht so, als ob man sie seinen eigenen Gegnern auf der political-correctness-Front gewährt hätte.
Man kann sich an dieser Stelle natürlich die Frage herstellen, woher diese mangelnde Empathie kommt. Wie so häufig wird man dabei um die Erkenntnis nicht herumkommen, dass es nicht den einen Grund, das eine Problem gibt, das zu lösen zur Beseitigung des Problems führt. Stattdessen haben wir es mit einer Menge an Faktoren zu tun. Ein wichtiger Grund ist sicherlich der mangelnde Kontakt mit den Betroffenen. Dass dies im Falle der White Working Class als allgemeines Problem erkannt und durch diverse große Recherchereisen in die betroffenen Regionen ausgeglichen wurde, zeigt deutlich den Mangel an Problembewusstsein für die Lage dieser Gruppen. In den Medien sind Afroamerikaner und Latinos deutlich unterrepräsentiert, dasselbe gilt auch für Frauen, besonders in den höheren Positionen der Meinungsindustrie. Man sehe sich nur mal das durchschnittliche CNN-Expertenpanel an. Ein weiterer Effekt, der sich bei dieser Wahl besonders bemerkbar machte, ist die soft bigotry of low expectations, konkret: ein Kandidat wie Trump bekommt massenhaft positive Überschriften, wenn er mal einen Tag keine rassistischen Äußerungen tut - eine ungeheure Senkung des Standards, die ihm stark entgegen kommt. Am bekanntesten ist der Effekt bei den TV-Debatten, wo Trump in den Bewertungen der Journalisten teilweise einen Gleichstand erzielte, weil er nicht über die eigenen Schnürsenkel stolperte und man überhaupt nicht erst versuchte, seinen Wortsalat zu analysieren. Rassismus und grobe Unkenntnis in allen Sachfragen waren quasi bereits eingepreist. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Solange also unwidersprochen Äußerungen in den Zeitungen stehen, die eine Gleichsetzung Amerikas mit dem weißen Amerika Trumps beinhalten, kann man all den Kritikern der Identitätspolitik und Social Justice Warriors nur zurufen: Kommt erst mal aus eurer eigenen Blase raus.
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¹Was nicht gleichbedeutend mit Freispruch ist, was Jamelle Bouie gut beschreibt.
² Ein bisschen passiv-aggressiv, ich weiß, aber seht's mir nach. Es ist erst eine Woche her.
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