Mittwoch, 12. Mai 2021

Keir Starmer unterdrückt auf dem Gymnasium die Jugend beim Lesen von Boris Palmers alten Geschichtsbüchern - Vermischtes 12.05.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Labour is too weak to win and too strong to die

Politics has shifted on its axis and the Labour Party does not know what to do about it. The change is easy to describe but hard to contend with. Where once voting was largely an aspect of class and occupational solidarity, now it has become an expression of cultural attitude. The gateway drug was Brexit, which has made political affiliation unrecognisable to politicians schooled on industrial politics, representing a party whose name harks back to the time when labour versus capital was a serviceable description of the contest. The Labour Party is finding this new dispensation impossible for three reasons. First, the apparent pantomime horse of the Tory coalition (rural areas and affluent towns with old industrial towns) is united on questions of culture. It is a more stable vote, at least for the moment, than it might seem. Second, Labour is deeply committed, psychologically, to being the party of the sans-culottes. Not many people go into Labour politics to represent the interests of the wealthy, university-educated, socially liberal people who are turning into its core vote. Labour has historically been made up of such people but their aim was always to talk de haut en bas to the northern working class. Now, to their surprise, the northern working class is talking back. There is a third problem even greater than getting into the frame of mind for change. Even if Labour were able to relinquish its self-image as the saviours of the dispossessed, the arithmetic is horrible. The socially liberal people tend to live together, in cities, and large clusters of people produce emphatic victories in a smaller range of constituencies, rather than decent victories in many. The 2016 Brexit referendum reproduced as a general election would produce a good victory for the right. Then, Labour has a serious problem in Scotland. The cultural vote that Labour needs in Scotland is now the preserve of the SNP. In short, the political right can unite around culture, the left is split in Britain, and that is without even venturing to suggest a merger with the Liberal Democrats, a subject liable to induce apoplexy in Labour circles. (Philipp Collins, The New Statesman)

Ich bin kein Experte für britische Politik, weswegen ich nicht zu sehr ins Detail gehen und eher auf den Vergleich mit mir bekannteren Beispielen abheben möchte. Wer sich in die Thematik weiter vertiefen möchte, siehe dazu auch diesen Artikel über das Scheitern von Keir Starmers Ansatz. Oder über seinen Mangel an Visionen hier. Offensichtlich scheint aber tatsächlich zu sein, dass das Problem Labours nicht allein Jeremy Corbyn war. Ich glaube weiterhin nicht, dass der Mann mehrheitsfähig ist; einfach nur Tony Blair 2.0 zu spielen aber scheint offensichtlich genauso wenig zu klappen.

Was für mich an der Sache auffällig ist: es ist die gleiche Geschichte wie bei der SPD und praktisch allen anderen sozialdemokratischen Parteien Europas auch. Die im Artikel beschriebene "Achsenverschiebung" sehen wir ja überall. Die klassischen "Klassengrenzen", wie sie für Jahrzehnte sozialdemokratische Politik unterfüttert haben - Facharbeitende als zentrale Wählergruppe etwa - funktionieren immer weniger. Die zentraleren Trennlinien verlaufen entlang Stadt und Land, entlang Bildungsgrenzen, entlang der Geschlechter und Ethnie, aber eben nicht mehr so sehr entlang der materiellen Lage, und die linken Parteien haben damit gewaltige Probleme. Labour scheint elektoral genauso tot zu sein wie die SPD auch, nur dass das Mehrheitswahlsystem in Großbritannien diese Tatsache noch verschleiert.

Man sollte aber nicht aus dem Blick verlieren, dass diese Achsenverschiebung auch die Tories trifft. Wir kennen die Dynamik ja aus den USA; vormals konservative Stammwählergruppen aus den wohlhabenden Vorstädten - das gut situierte Bürgertum - das früher den Kern der "Mitte" ausgemacht hat, trendet im gleichen Maß zu den progressiven Parteien, wie die früheren "roten" Stammwählerschaften mehr und mehr eine Heimat in den konservativen Parteien finden. In Deutschland profitiert davon nur nicht die SPD, sondern die Grünen, die im UK dank des Wahlrechts irrelevant sind - ebenso wie in den USA, wo die Democrats aber besser als Labour darin sind, eine "big tent coalition" zu schmieden. Man sollte auf jeden Fall nicht den Fehler machen, sich auf simplistische Zuschreibungen à la "die Arbeiterklasse wählt konservativ" zurückzuziehen, wie sie gerade en vogue sind.

2) We Found the Textbooks of Senators Who Oppose The 1619 Project and Suddenly Everything Makes Sense

White people love critical race theories. While they generally oppose Critical Race Theory, the academic movement started by Black scholars, they have historically embraced the uncapitalized version of race theory. However, because so many see whiteness as a default, they don’t understand that their entire education has already been racialized. [...] Even though no teacher in America has been hogtied and forced to teach the curriculum devised by historians, journalists and people who know things, The Root was curious. If The 1619 Project is an attempt to rewrite history, which version of history does the GOP fear is being altered? The Root decided to see what some of the signatories to Mitch McConnell’s Strawberry Letter knew about slavery and Black history. We dug through state curriculum standards, yearbooks and spoke with teachers to see which interpretation of history the white tears-spewing politicians learned when they were in elementary and high school. In doing so, there are certain things we realized [...] Now it all makes sense. This is why they oppose expanding the historiography of our national story. American schools have never taught a version of history that wasn’t racialized. But, apparently, it’s perfectly fine if the racial narrative skews toward whiteness. They can’t be opposed to learning a different historical perspective because they never learned history; they were spoonfed fiction in bite-sized morsels. (Michael Harriot, The Root)

Die Auszüge aus den Geschichtsbüchern hier sind echt blanker Wahninn. Ich kann nur empfehlen, den Artikel in seiner Gänze zu studieren. Solche Abgründe tun sich hier nicht ansatzweise auf. Natürlich ist der Vergleich in Teilen unfair, weil die zitierten Geschichtsbücher deutlich älter sind; teilweise gehen sie bis in die 1960er Jahre zurück. Aber leider eben nur teilweise. Und ich weiß, dass viele der kritisierten Abschnitte sich auch in heutigen Geschichtsbüchern vor allem der Südstaaten noch finden.

Zum Vergleich, meine intimen Kenntnisse deutscher Geschichtsbücher beginnen in den 1970er Jahren, als das berühmt-berüchtigte Gesamtwerk "Fragen an die Geschichte", das jede Geschichtslehrkraft mit Selbstachtung entweder besitzt oder gerne hätte, erstmals erschien. Irgendwann dieser Tage schreibe ich mal einen Beitrag darüber, wie sich die Geschichtsbücher in Deutschland seither entwickelt haben, das ist absolut faszinierend.

3) Linke Tagträume über den Weltfrieden

Die Linke-Chefin erinnerte daran, dass die Grünen als Friedenspartei gegründet worden seien. Die Nato sei aber ein „Kriegsbündnis“. Wissler zeigte exemplarisch, dass noch immer ein altes ideologisches Blockdenken in ihrer Partei die Programmatik in der Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt. Vereinfacht lässt es sich so zusammenfassen: Die USA sind imperialistisch, Russland fühlt sich davon bedroht; Krieg (und damit auch Militär) ist böse, Frieden (also kein Militär) ist gut. Aus diesem Denken heraus ergibt sich auch die pauschale Ablehnung der Nato. [...] „Wir haben in den letzten 20 Jahren keinen einzigen Auslandseinsatz verhindert, indem wir von der Seitenlinie die immer gleiche Fundamentalkritik aufs Spielfeld brüllen“, sagt der Linke-Bundestagsabgeordnete Matthias Höhn WELT. [...] Pflüger, verteidigungspolitischer Sprecher im Bundestag, betont, es sei wichtig, dass die Linke konsequent bleibe. „Es ist wie in anderen Politikbereichen auch: Man darf das, was man programmatisch für richtig hält, nicht zugunsten von möglichen Bündnissen aufgeben.“ Für die Linke aber ist die Außenpolitik kein Bereich wie jeder andere, sondern Teil ihrer DNA. Sie zu hinterfragen ist tabu. [...] Ähnlich vage bleibt die Linke auch beim Thema Bundeswehr. Seit 2011 unterscheidet sie im Grundsatzprogramm zwischen „Auslands-“ und „Kampfeinsatz“. Während flexiblere Geister darauf hinweisen, dass die Bundeswehr in keinem der jetzigen Auslandseinsätze kämpfe, halten Dogmatiker schon die Bereitstellung von Infrastruktur für Beteiligung am Kampf. Es wird für die Spitzenkandidaten im Wahlkampf schwierig werden, aus diesem Dilemma herauszufinden. (Luisa Hofmeier, WELT)

Für mich ist das mehr oder weniger die definitive Absage an Rot-Rot-Grün. Mein Bauchgefühl - ohne jeden Beleg - ist, dass das Absicht der Grünen-Führung war und dass sie der LINKEn eine Falle gestellt haben. Habecks Bedingung an die Partei, die NATO und die Auslandseinsätze zu akzeptieren, konnte nur zu einem von zwei möglichen Ergebnissen führen: dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Partei akzeptiert und damit das größte policy-Hindernis für eine Koalition aus dem Weg räumt, oder der sehr viel wahrscheinlichere Fall, dass sie es ablehnt und damit als diejenigen aktenkundig sind, die R2G verhindert haben und somit die Ampel als einzigen Ausweg ohne die CDU lassen.

Selbst, wenn das nicht die intendierte Absicht war, bin ich mit dem Ergebnis insgesamt glücklich. R2G ist ohnehin arithmetisch sehr unwahrscheinlich, und die LINKE ist dermaßen unzuverlässig, dass es selbst mit einer knappen Mehrheit ein politisches Hasardeursspiel wäre (dafür sorgen auch solche Typen). Davon abgesehen sind die Positionen der LINKEn zur Außenpolitik unterirdisch. Es ist absolut faszinierend, dass die Grünen gerade die härtesten Transatlantiker und NATO-Befürworter aller Parteien sind, nachdem die AfD, die LINKE und die SPD voll und die FDP teilweise ins Lager der Putin-Versteher gewechselt sind. Selbst auf die CDU ist mit Laschet nicht mehr wirklich Verlass, obwohl ich davon ausgehe, dass die im Zweifel immer noch transatlantisch ticken werden, schon allein mit Merz und Röttgen im näheren Umfeld.

4) Die erste Krise der nächsten Regierung

Erinnern Sie sich noch an die Kopfpauschale? An die Bürgerversicherung? Oder an die Sonntagabend-Talkshow von Sabine Christiansen, in der zu Beginn des Jahrtausends dieselben Experten die immer gleichen Rezepte zur Reform des Sozialstaats wälzten? Für viele Deutsche, die beim Amtsantritt Angela Merkels noch nicht erwachsen waren, mögen das Bilder aus einer grauen Vorzeit sein. Die Mehrheit der Bürger über 40 dagegen erinnert sich noch gut daran, dass Deutschland damals der kranke Mann Europas war. Eine rotgrüne Modernisierungskoalition musste plötzlich schmerzhafte Sozialkürzungen beschließen und einen Großteil jener Vergünstigungen einsammeln, die ihre Vorgänger ausgereicht hatten. [...] Vom Weg in die Zukunft reden derzeit fast alle Parteien. Doch dafür müssen erst einmal die Versäumnisse der Vergangenheit aufgearbeitet werden. Der Gegensatz von Ökonomie und Ökologie, über den so viel geredet wird, ist dabei vielleicht nicht mal das Wichtigste. Der größere Widerspruch, so zeigen die roten Zahlen des staatlichen Versicherungssystems, betrifft möglicherweise das Verhältnis von Klimaschutz und Sozialpolitik. Denn Steuergeld, das in den Sozialkassen versickert, kann nicht gleichzeitig für den Klimaschutz ausgegeben werden. Nur wem es gelingt, die Renten- und Krankenkassen durchgreifend zu reformieren, wird deshalb auf Dauer genügend Mittel für den Ausbau erneuerbarer Energien oder die Förderung der Wasserstoffwirtschaft freisetzen können. Rasen für die Rente, das war mal ein Slogan aus der Sabine-Christiansen-Zeit der deutschen Politik. Jetzt muss das Motto heißen: Reformieren fürs Klima. (Michael Sauga, SpiegelOnline)

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