Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Labour is too weak to win and too strong to die
Politics has shifted on its axis and the Labour Party does not know what to do about it. The change is easy to describe but hard to contend with. Where once voting was largely an aspect of class and occupational solidarity, now it has become an expression of cultural attitude. The gateway drug was Brexit, which has made political affiliation unrecognisable to politicians schooled on industrial politics, representing a party whose name harks back to the time when labour versus capital was a serviceable description of the contest. The Labour Party is finding this new dispensation impossible for three reasons. First, the apparent pantomime horse of the Tory coalition (rural areas and affluent towns with old industrial towns) is united on questions of culture. It is a more stable vote, at least for the moment, than it might seem. Second, Labour is deeply committed, psychologically, to being the party of the sans-culottes. Not many people go into Labour politics to represent the interests of the wealthy, university-educated, socially liberal people who are turning into its core vote. Labour has historically been made up of such people but their aim was always to talk de haut en bas to the northern working class. Now, to their surprise, the northern working class is talking back. There is a third problem even greater than getting into the frame of mind for change. Even if Labour were able to relinquish its self-image as the saviours of the dispossessed, the arithmetic is horrible. The socially liberal people tend to live together, in cities, and large clusters of people produce emphatic victories in a smaller range of constituencies, rather than decent victories in many. The 2016 Brexit referendum reproduced as a general election would produce a good victory for the right. Then, Labour has a serious problem in Scotland. The cultural vote that Labour needs in Scotland is now the preserve of the SNP. In short, the political right can unite around culture, the left is split in Britain, and that is without even venturing to suggest a merger with the Liberal Democrats, a subject liable to induce apoplexy in Labour circles. (Philipp Collins, The New Statesman)
Ich bin kein Experte für britische Politik, weswegen ich nicht zu sehr ins Detail gehen und eher auf den Vergleich mit mir bekannteren Beispielen abheben möchte. Wer sich in die Thematik weiter vertiefen möchte, siehe dazu auch diesen Artikel über das Scheitern von Keir Starmers Ansatz. Oder über seinen Mangel an Visionen hier. Offensichtlich scheint aber tatsächlich zu sein, dass das Problem Labours nicht allein Jeremy Corbyn war. Ich glaube weiterhin nicht, dass der Mann mehrheitsfähig ist; einfach nur Tony Blair 2.0 zu spielen aber scheint offensichtlich genauso wenig zu klappen.
Was für mich an der Sache auffällig ist: es ist die gleiche Geschichte wie bei der SPD und praktisch allen anderen sozialdemokratischen Parteien Europas auch. Die im Artikel beschriebene "Achsenverschiebung" sehen wir ja überall. Die klassischen "Klassengrenzen", wie sie für Jahrzehnte sozialdemokratische Politik unterfüttert haben - Facharbeitende als zentrale Wählergruppe etwa - funktionieren immer weniger. Die zentraleren Trennlinien verlaufen entlang Stadt und Land, entlang Bildungsgrenzen, entlang der Geschlechter und Ethnie, aber eben nicht mehr so sehr entlang der materiellen Lage, und die linken Parteien haben damit gewaltige Probleme. Labour scheint elektoral genauso tot zu sein wie die SPD auch, nur dass das Mehrheitswahlsystem in Großbritannien diese Tatsache noch verschleiert.
Man sollte aber nicht aus dem Blick verlieren, dass diese Achsenverschiebung auch die Tories trifft. Wir kennen die Dynamik ja aus den USA; vormals konservative Stammwählergruppen aus den wohlhabenden Vorstädten - das gut situierte Bürgertum - das früher den Kern der "Mitte" ausgemacht hat, trendet im gleichen Maß zu den progressiven Parteien, wie die früheren "roten" Stammwählerschaften mehr und mehr eine Heimat in den konservativen Parteien finden. In Deutschland profitiert davon nur nicht die SPD, sondern die Grünen, die im UK dank des Wahlrechts irrelevant sind - ebenso wie in den USA, wo die Democrats aber besser als Labour darin sind, eine "big tent coalition" zu schmieden. Man sollte auf jeden Fall nicht den Fehler machen, sich auf simplistische Zuschreibungen à la "die Arbeiterklasse wählt konservativ" zurückzuziehen, wie sie gerade en vogue sind.
2) We Found the Textbooks of Senators Who Oppose The 1619 Project and Suddenly Everything Makes Sense
White people love critical race theories. While they generally oppose Critical Race Theory, the academic movement started by Black scholars, they have historically embraced the uncapitalized version of race theory. However, because so many see whiteness as a default, they don’t understand that their entire education has already been racialized. [...] Even though no teacher in America has been hogtied and forced to teach the curriculum devised by historians, journalists and people who know things, The Root was curious. If The 1619 Project is an attempt to rewrite history, which version of history does the GOP fear is being altered? The Root decided to see what some of the signatories to Mitch McConnell’s Strawberry Letter knew about slavery and Black history. We dug through state curriculum standards, yearbooks and spoke with teachers to see which interpretation of history the white tears-spewing politicians learned when they were in elementary and high school. In doing so, there are certain things we realized [...] Now it all makes sense. This is why they oppose expanding the historiography of our national story. American schools have never taught a version of history that wasn’t racialized. But, apparently, it’s perfectly fine if the racial narrative skews toward whiteness. They can’t be opposed to learning a different historical perspective because they never learned history; they were spoonfed fiction in bite-sized morsels. (Michael Harriot, The Root)
Die Auszüge aus den Geschichtsbüchern hier sind echt blanker Wahninn. Ich kann nur empfehlen, den Artikel in seiner Gänze zu studieren. Solche Abgründe tun sich hier nicht ansatzweise auf. Natürlich ist der Vergleich in Teilen unfair, weil die zitierten Geschichtsbücher deutlich älter sind; teilweise gehen sie bis in die 1960er Jahre zurück. Aber leider eben nur teilweise. Und ich weiß, dass viele der kritisierten Abschnitte sich auch in heutigen Geschichtsbüchern vor allem der Südstaaten noch finden.
Zum Vergleich, meine intimen Kenntnisse deutscher Geschichtsbücher beginnen in den 1970er Jahren, als das berühmt-berüchtigte Gesamtwerk "Fragen an die Geschichte", das jede Geschichtslehrkraft mit Selbstachtung entweder besitzt oder gerne hätte, erstmals erschien. Irgendwann dieser Tage schreibe ich mal einen Beitrag darüber, wie sich die Geschichtsbücher in Deutschland seither entwickelt haben, das ist absolut faszinierend.
3) Linke Tagträume über den Weltfrieden
Die Linke-Chefin erinnerte daran, dass die Grünen als Friedenspartei gegründet worden seien. Die Nato sei aber ein „Kriegsbündnis“. Wissler zeigte exemplarisch, dass noch immer ein altes ideologisches Blockdenken in ihrer Partei die Programmatik in der Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt. Vereinfacht lässt es sich so zusammenfassen: Die USA sind imperialistisch, Russland fühlt sich davon bedroht; Krieg (und damit auch Militär) ist böse, Frieden (also kein Militär) ist gut. Aus diesem Denken heraus ergibt sich auch die pauschale Ablehnung der Nato. [...] „Wir haben in den letzten 20 Jahren keinen einzigen Auslandseinsatz verhindert, indem wir von der Seitenlinie die immer gleiche Fundamentalkritik aufs Spielfeld brüllen“, sagt der Linke-Bundestagsabgeordnete Matthias Höhn WELT. [...] Pflüger, verteidigungspolitischer Sprecher im Bundestag, betont, es sei wichtig, dass die Linke konsequent bleibe. „Es ist wie in anderen Politikbereichen auch: Man darf das, was man programmatisch für richtig hält, nicht zugunsten von möglichen Bündnissen aufgeben.“ Für die Linke aber ist die Außenpolitik kein Bereich wie jeder andere, sondern Teil ihrer DNA. Sie zu hinterfragen ist tabu. [...] Ähnlich vage bleibt die Linke auch beim Thema Bundeswehr. Seit 2011 unterscheidet sie im Grundsatzprogramm zwischen „Auslands-“ und „Kampfeinsatz“. Während flexiblere Geister darauf hinweisen, dass die Bundeswehr in keinem der jetzigen Auslandseinsätze kämpfe, halten Dogmatiker schon die Bereitstellung von Infrastruktur für Beteiligung am Kampf. Es wird für die Spitzenkandidaten im Wahlkampf schwierig werden, aus diesem Dilemma herauszufinden. (Luisa Hofmeier, WELT)
Für mich ist das mehr oder weniger die definitive Absage an Rot-Rot-Grün. Mein Bauchgefühl - ohne jeden Beleg - ist, dass das Absicht der Grünen-Führung war und dass sie der LINKEn eine Falle gestellt haben. Habecks Bedingung an die Partei, die NATO und die Auslandseinsätze zu akzeptieren, konnte nur zu einem von zwei möglichen Ergebnissen führen: dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Partei akzeptiert und damit das größte policy-Hindernis für eine Koalition aus dem Weg räumt, oder der sehr viel wahrscheinlichere Fall, dass sie es ablehnt und damit als diejenigen aktenkundig sind, die R2G verhindert haben und somit die Ampel als einzigen Ausweg ohne die CDU lassen.
Selbst, wenn das nicht die intendierte Absicht war, bin ich mit dem Ergebnis insgesamt glücklich. R2G ist ohnehin arithmetisch sehr unwahrscheinlich, und die LINKE ist dermaßen unzuverlässig, dass es selbst mit einer knappen Mehrheit ein politisches Hasardeursspiel wäre (dafür sorgen auch solche Typen). Davon abgesehen sind die Positionen der LINKEn zur Außenpolitik unterirdisch. Es ist absolut faszinierend, dass die Grünen gerade die härtesten Transatlantiker und NATO-Befürworter aller Parteien sind, nachdem die AfD, die LINKE und die SPD voll und die FDP teilweise ins Lager der Putin-Versteher gewechselt sind. Selbst auf die CDU ist mit Laschet nicht mehr wirklich Verlass, obwohl ich davon ausgehe, dass die im Zweifel immer noch transatlantisch ticken werden, schon allein mit Merz und Röttgen im näheren Umfeld.
4) Die erste Krise der nächsten Regierung
Erinnern Sie sich noch an die Kopfpauschale? An die Bürgerversicherung? Oder an die Sonntagabend-Talkshow von Sabine Christiansen, in der zu Beginn des Jahrtausends dieselben Experten die immer gleichen Rezepte zur Reform des Sozialstaats wälzten? Für viele Deutsche, die beim Amtsantritt Angela Merkels noch nicht erwachsen waren, mögen das Bilder aus einer grauen Vorzeit sein. Die Mehrheit der Bürger über 40 dagegen erinnert sich noch gut daran, dass Deutschland damals der kranke Mann Europas war. Eine rotgrüne Modernisierungskoalition musste plötzlich schmerzhafte Sozialkürzungen beschließen und einen Großteil jener Vergünstigungen einsammeln, die ihre Vorgänger ausgereicht hatten. [...] Vom Weg in die Zukunft reden derzeit fast alle Parteien. Doch dafür müssen erst einmal die Versäumnisse der Vergangenheit aufgearbeitet werden. Der Gegensatz von Ökonomie und Ökologie, über den so viel geredet wird, ist dabei vielleicht nicht mal das Wichtigste. Der größere Widerspruch, so zeigen die roten Zahlen des staatlichen Versicherungssystems, betrifft möglicherweise das Verhältnis von Klimaschutz und Sozialpolitik. Denn Steuergeld, das in den Sozialkassen versickert, kann nicht gleichzeitig für den Klimaschutz ausgegeben werden. Nur wem es gelingt, die Renten- und Krankenkassen durchgreifend zu reformieren, wird deshalb auf Dauer genügend Mittel für den Ausbau erneuerbarer Energien oder die Förderung der Wasserstoffwirtschaft freisetzen können. Rasen für die Rente, das war mal ein Slogan aus der Sabine-Christiansen-Zeit der deutschen Politik. Jetzt muss das Motto heißen: Reformieren fürs Klima. (Michael Sauga, SpiegelOnline)
Lassen Sie es mich so sagen, Herr Sauga: Eine immer größere Zahl erinnert sich nicht mehr. Die Reformdebatten bei Sabine Christiansen sind jetzt 25 Jahre her; wer sie bewusst mitbekommen hat, ist mittlerweile 40+. Klar, das ist immer noch der Großteil des Elektorats, aber die Gruppe ist bei weitem nicht so krass, wie Sie denken. Ich glaube auch nicht, dass dieser abgehalfterte Diskurs wiederkommt. Es war der unattraktivste Teil von Merz' Kandidatur, der die wenigsten warmen Bauchgefühle hervorrief (ganz im Gegensatz zu seinen kulturkämpferischen Tönen bei Gender und Flüchtlingen), und selbst die FDP geht da eigentlich nur noch through the motions, wie es so schön heißt. Ich glaube, das ist das Gegenstück der klassenkämpferischen Diskurse, die wir im letzten Vermischten haben. Es ist nur noch verstaubte Altlast, von der einige einfach nicht lassen können.
Wenig überraschend ist, dass das Klima jetzt als Ausrede für die immergleichen Austeritätsmaßnahmen herhalten muss. Letzten Endes ist die Ausrede beliebig. Auch das ist bekannt; für diverse Linke geht es beim Green New Deal ja auch weniger um den Klimaschutz als um das Brechen der gegnerischen Front gegen massive staatliche Investitionen. Es ist allerdings ein Indikator dafür, wie viel Bedeutung das Klimathema in den letzten zwei Jahren gewonnen hat. Das wird sich noch weiter steigern, und ich denke, dass DAS, nicht ein Aufwärmen von Christiansen, der bestimmende Diskurs der nächsten Jahre werden wird - mit allerlei Trittbrettfahrern wie Sauga im Schlepptau.
5) Uns doch egal, was die Jungen wollen
Diejenigen, für die man sich die ganze Zeit eingeschränkt hat, werden jetzt von den Einschränkungen befreit. Man selbst nicht. So mancher fühlt sich verladen. Für die Jungen dagegen wurde wenig bis nichts getan: keine Verbesserung der digitalen Infrastruktur für Schulen, keine Luftfilter, keine kostenlosen digitalen Unterhaltungs- und Kontaktangebote für Kinder und Jugendliche, keine Entlastung für die Eltern, nichts. Demnächst gibt es jetzt Geld für etwas, das Kinder und Jugendliche sicher begeistern wird: Nachhilfeunterricht im Wert von einer Neuntel-Lufthansarettung. Zitat einer Schülerin aus dem Bekanntenkreis meiner Familie: »Die zeigen uns, wie unwichtig wir sind.« Bei allem Verständnis für epidemiologische und medizinische Notwendigkeiten: Das hätte man politisch auch anders handhaben können. Die Regierung erzeugt einen Generationenkonflikt von oben. [...] Mittlerweile aber funktioniert diese Strategie augenscheinlich nicht einmal mehr bei der eigenen Kernwählerschaft. [...] Mein Verdacht ist, dass auch viele Großeltern langsam das Gefühl haben, dass die hartnäckige Jugend- und Zukunftsverleugnung der Koalitionsparteien, insbesondere der Union, ein Problem ist. Unsere Welt steckt in einem sich immer weiter beschleunigenden Transformationsprozess: Klimawandel, Artensterben, Digitalisierung, Wissenschaft. Die Bewahrung des Status quo ist in dieser Situation kein sinnvolles strategisches Ziel. Die Zukunft kommt immer schneller auf uns zu. Politik, die für die Jungen gut ist, ist für alle gut. Und die Kinder sind immer noch nicht wütend genug. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Die Kritik Stöckers hier ist weder neu noch einzigartig. Auch Sascha Lobo betont in einer fast identischen Kolumne die Rentnerlastigkeit der deutschen Politik. Sie war lange Zeit eher ein Thema im liberalen Spektrum (man denke an Schirrmachers "Methusalem-Komplex"), aber die Klimakrise hat sie jetzt auch voll ins progressive Spektrum katapuliert. Auch die Wirtschaftswoche bläst in dieses Horn, was sehr auf eine Konsens-Analyse hindeutet. Das Thema "Generationengerechtigkeit" dürfte zu einem neuen, universellen politischen Kampfbegriff werden. Stefan Pietsch hat schon zu Recht darauf hingewiesen, dass etwa das BVerfG-Urteil sich ja durchaus auch auf den Schuldenstand und den Sozialstaat anwenden lässt. Da steht uns noch einiges ins Haus.
6) "Wissenschaft ist keine Demokratie" (Interview mit Mai Thi Nguyne-Kim)
ZEIT ONLINE: Reporter ohne Grenzen hat Deutschland vor kurzem innerhalb des Pressefreiheitsrankings herabgestuft – von Platz elf auf Platz 13. Die Lage beschreibt die Organisation nur noch als "zufriedenstellend". Überrascht Sie das?
Mai Thi Nguyen-Kim: Nein, nicht wirklich. Aber es macht mich wütend und traurig. Diejenigen, die von unterdrückter Medienfreiheit und Manipulation faseln, sind die, die dann Journalistinnen und Journalisten bedrohen.
ZEIT ONLINE: Haben Sie das selbst erlebt?
Mai Thi Nguyen-Kim: Im Netz kursieren die verrücktesten Theorien über mich: Ich wäre die persönliche Einflüsterin von Angela Merkel. Oder ich wäre von Bill Gates bezahlt oder ich würde persönlich vom Impfstoff profitieren. Die Anonymität im Internet schützt die Angreifer. Letztendlich ist es schwierig einzuschätzen, wie groß die Bedrohung tatsächlich ist. Ich möchte hier keine Details erzählen, nur so viel: Ich gehe nirgendwo mehr hin, ohne persönliche Security. [...]
ZEIT ONLINE: In der Studie der dpa und der Hamburger Behörde für Kultur und Medien gaben die Schülerinnen und Schüler an, dass ihnen bei den journalistischen Nachrichten oft der Bezug zu ihrem Alltag fehlt. Müssen auch wir Journalistinnen und Journalisten uns einen Vorwurf machen – dass wir die Jugendlichen nicht gut genug ansprechen?
Mai Thi Nguyen-Kim: Ich glaube, der traditionelle Journalismus hat ein Arroganzproblem – sie setzen für viele ihrer Inhalte und auch für ihre Sprache eine gewisse Bildung voraus, von der sich viele Jugendliche nicht abgeholt fühlen. Ein Beispiel ist Rezo. Auch bei der Diskussion um ihn schwingt immer eine gewisse akademische Arroganz mit. Wenn Rezo "worken" sagt in seinem Video statt arbeiten, dann erreicht er damit seine Zielgruppe – und das zählt. Die beste Sprache ist die, die ankommt. Über die neuen Medien wird bei den traditionellen öfter mal die Nase gerümpft, aber man sollte sich zumindest der Diskussion stellen: Was bedeutet Journalismus in der Zukunft? (Linda Tutmann, ZEIT)
Mir ist nicht bekannt, dass irgendjemand der Leute, die als vorrangige Beispiele für "cancel culture" durch die Medien gereicht werden, Polizeischutz benötigt. Dass die Querdenker mittlerweile als Bedrohung der Meinungsfreiheit gesehen werden, sollte zu denken geben. Der Feind steht rechts. Es ist auch so absurd, dass Ngyuen-Kim Polizeischutz braucht. Die Frau erklärt Naturwissenschaften! Aber heutzutage scheint das schon von vielen als Angriff empfunden zu werden.
Das von Nguyen-Kim angeschnittene Thema "jugendgerechte Sprache" sehe ich im Unterricht übrigens ständig. Die meisten Schüler*innen tun sich wahnsinnig schwer mit Texten aus dem Spiegel, von so was wie dem FAZ Feuilleton ganz zu schweigen. Die Vermutung, dass "wir Journalisten die Jugendlichen nicht gut genug ansprechen" ist für 99% der Jugendlichen sicherlich richtig. Das sollte aber keine neue Erkenntnis sein. Zu meiner Zeit haben die Leute auch kaum Zeitung gelesen.
7) Die deutschen Inflationssorgen speisen sich aus einem verzerrten Geschichtsbild
Nur einer von 25 Deutschen weiß laut Umfrage heute, dass die Krise der 1930er-Jahre durch Deflation, also sinkende Preise, geprägt war. Wenn man Deutsche bitte, die Große Depression in ihren eigenen Worten zu charakterisieren, beschreiben sie diese den Forschern zufolge gleichzeitig als Inflations- und Arbeitslosigkeitskrise. Die Weimarer Republik sei durchgehend durch zu hohe Inflation geplagt gewesen. Weil die Hyperinflation bis 1923 und die Große Depression der 1930er-Jahre in der kollektiven deutschen Erinnerung zu einem Ereignis verschmelzen, kann im öffentlichen Diskurs eine falsche Vorstellung dominieren: Die Hyperinflation habe direkt zum Aufstieg der Nazis geführt. [...] Die Hyperinflationserfahrung ließ Reichskanzler Brüning davor zurückschrecken, expansive Politik zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit einzusetzen. Die Regierung ergriff per Notfalldekret weitere Sparmaßnahmen, und die Nazis erwiesen sich als äußerst effektiv darin, das durch die Sparpolitik verursachte Leid großer Teile der deutschen Bevölkerung zu ihren politischen Gunsten auszuschlachten. Wegen der schwerwiegenden Auswirkungen des Zusammenbruchs der Demokratie bleibt die Erinnerung an die Weimarer Republik ein zentraler Referenzpunkt für die Nachkriegspolitik. Doch leider werden Schlüsse für aktuelle Wirtschaftspolitik auf Basis verzerrter Erinnerungen getroffen. (Philipp Heimberger, Handelsblatt)
Ich unterrichte auch jedes Jahr gegen diesen Mythos an. Wie Fundstück 2 gezeigt hat, ist das aber wahrlich kein auf dieses Thema konzentriertes Problem. Schlechte Geschichte begegnet einem an allen Ecken und Enden. Anders als bei den meisten Wissenschaften gibt es aber bei Geschichte, wie neuerdings bei Virologie, eine ganze Menge Amateure, die der Überzeugung sind, total gut Bescheid zu wissen. Entsprechend werden ständig irgendwelche Geschichtsmythen wiederholt. Ein anderes aktuelles Beispiel ist ja diese Endlosstory vom Kaiserreich als "Obrigkeitsstaat" und dem damit verbundenen "Sonderweg", die einfach nicht sterben will.
8) Schickt endlich die Richtigen ans Gymnasium!
Für eine nahezu vergessene Gruppe trifft das Gegenteil zu: Intellektuell begabte und interessierte Kinder aus Arbeiter- und einfachen Migrantenfamilien schaffen es viel zu selten ans Gymnasium. Sie hätten zwar das Potential für den Übertritt, bekommen aber keine Gelegenheit dazu. Empirische Daten machen dies mehr als deutlich. Haben die Eltern studiert, tun dies 88 Prozent der Kinder auch. Aus Arbeiterfamilien hingegen schafft nur knapp jedes vierte Kind ein Studium. Und wenn der Vater gar keinen Bildungsabschluss hat, ist es sogar nur jedes fünfundzwanzigste. Dadurch gehen unserer Gesellschaft jedes Jahr eine grosse Zahl an intellektuell begabten jungen Menschen verloren. Es ist unabdingbar, das zu verändern. Und zwar, indem wir statt Chancengleichheit Chancengerechtigkeit anstreben. [...] Dieses Phänomen lässt sich nicht in den Griff kriegen, indem man gutsituierten Eltern einredet, sie sollten ihre Ambitionen herunterfahren. In einer demokratischen Gesellschaft kann man ambitionierte Väter und Mütter nicht daran hindern, ihre Ressourcen einzusetzen, um die Bildungslaufbahn der Kinder zu fördern. Ihre Absichten sind legitim. Die Achillesferse liegt in der fehlenden Unterstützung begabter Kinder aus einfachen sozialen Verhältnissen und in der meist zu grossen Zurückhaltung ihrer Familien. Oft wollen die Eltern ihr Kind vor einem gymnasialen Bildungsweg bewahren, weil sie befürchten, es könne sich emotional, intellektuell und strategisch von ihnen entfernen. [...] Das zeigt sich im «Habitus der Notwendigkeit», einem Verhalten, das sich an der Verwertbarkeit der Ausbildung orientiert. Solche Eltern wünschen sich, ihre Kinder sollten wie sie eine Lehre absolvieren und schnell eigenes Geld verdienen. Dieser Verwertbarkeitsgedanke kann den Horizont von Arbeiterkindern einschränken. (Margit Stamm, NZZ)
Dass die Teilung in das mehrgliedrige Schulsystem nicht das Gelbe vom Ei ist, wissen wir mittlerweile bereits ziemlich lange, und aus all den Gründen, die hier angeschnitten werden. Allerdings muss man aufpassen, dass zumindest hier für Baden-Württemberg nicht das Zerrbild eines dreigliedrigen Schulsystems entworfen wird, das so längst nicht mehr existiert. Wir haben ein ziemlich stark aufgegliedertes Schulsystem, das "abwärts" offen ist. Zwar ist ein "Aufstieg" in das allgemeinbildende Gymnasium praktisch unmöglich, aber abgesehen von dieser letzten Bastion der Elitenbildung ist das System ziemlich flexibel. Förderschulen, berufliche Schulen, Realschulen, Aufbauschulen, Abendschulen - es gibt eine ganze Latte von Optionen, und dank des Prinzips von "kein Abschluss ohne Anschluss" kommt man vom Hauptschulabschluss gegebenenfalls bis zur Habilitation.
9) Die Ich-Unternehmer
Wäre Boris Palmer in der FDP oder der Union, bekäme er vermutlich nur einen Bruchteil der aktuellen Aufmerksamkeit. Ähnlich wie Sahra Wagenknecht. Deren publizistische Dauerpräsenz beruht mittlerweile nicht mehr auf der harschen, von liberalkonservativer Seite früher als "betonlinks" titulierten Kapitalismuskritik, sondern eher auf einer für Liberale und Konservative anschlussfähigen Form der Publikumsbeschimpfung von "Lifestyle-Linken" und "skurrilen Minderheiten", die als besonders glaubwürdig gilt, weil sie eben aus der Linkspartei kommt. [...] In dieser verfolgen Palmer, Wagenknecht, Sarrazin oder Maaßen bei allen inhaltlichen Unterschieden – natürlich liegen beispielsweise zwischen Wagenknecht und Maaßen programmatische Welten – eine Strategie des permanenten Wechselspiels zwischen Assoziation und Abgrenzung. Sie bewegen sich in gewisser Distanz zu ihren Parteien, sodass sie keine allzu großen machtpolitischen Kompromisse eingehen müssen und vor allem für sich selbst sprechen können. So können sie sich gleichzeitig als (unfair behandelte) Minderheit (in der eigenen Partei) sowie als Repräsentant einer vermeintlich schweigenden Mehrheit der "normalen Leute" inszenieren. Vor dem Hintergrund aktueller Mechanismen medialer Aufmerksamkeitsökonomie lässt sich daraus eine Art publizistisches Perpetuum mobile machen. [...] Ein Ich-Unternehmertum, wie es Palmer und Wagenknecht repräsentieren, offenbart sich im Kontext polarisierter Meinungsmärkte also zunächst einmal als gut funktionierende Medienstrategie. Das mag man verwerflich oder ausgefuchst finden, als Ausdruck populistischen Querulantentums oder als wichtigen Beitrag parteipolitischer Binnenpluralität ansehen. Wie auch immer: Es hat die besonders dialektische Pointe, dass gerade jene, die wie Palmer oder Wagenknecht fortwährend gegen Identitätspolitik und dessen vermeintlichen Kult der Besonderheit polemisieren, eine Aufmerksamkeitsstrategie verfolgen, die im Wesentlichen auf der Produktion von Alleinstellungsmerkmalen beruht. (Nils Markwardt, ZEIT)
Die hier beschriebene Dynamik steckt zweifelsohne hinter der Attraktivität dieser Leute. Es ist ja kein Zufall, dass gerade Welt und FAZ die Wagenknecht-Äußerungen feierten und die größten Fans Boris Palmers ebenfalls in diesen Redaktionsstuben sitzen, genauso wie die NachDenkSeiten wenig Berührungsängste empfanden, Heiner Geißler und Norbert Blüm aufs Podest zu stellen, nachdem die gleichen Akteure sie jahrzehntelang bekämpft hatten. Nichts fühlt sich so gut an wie Bestätigung durch den ostentativen politischen Gegner, und gleichzeitig auf der anderen Seite dessen Adulation. So ist das System attraktiv für beide Seiten.
Die Frage ist nur, wie sehr die Ursprungspartei profitiert. Der SPD etwa hat Thilo Sarrazin sicherlich nicht geholfen, und den Grünen Oswald Metzger nicht. Dagegen dürfte Leutheusser-Schnarrenberger der FDP viele Glaubwürdigkeitspunkte beim Thema "liberale Bürgerrechtspartei" gebracht haben. Bei Wagenknecht bin ich mir unsicher. Generell würde ich folgende These zur Nützlichkeit dieser Rebellen aufstellen: Wo sie sympathische Kernwerte symbolisieren, sind sie ein Plus, wo sie fremde oder unsympathische Positionen vertreten ein Minus. Deswegen sind Parteirebellen wie Maaßen ein Problem, oder Dieter Dehm.
10) Tweet
Das ist etwas, was wir auch bei den Republicans gut beobachten können: es geht vor allem darum, anderen zu schaden, weniger darum, dass sich die eigene Position signifikant verbessert. Es ist alles relativ. In dem Zusammenhang ist übrigens sehr beruhigend zu sehen, dass die FDP-Anhängerschaft sich komplett gegen den sonstigen Trend stellt, die höchste Übereinstimmung aller anderen Parteien zu Positionen der AfD zu haben und ihren Prinzipien treu bleibt. Das stimmt hoffnungsfroh.
11) Woher kommt der Kinderhass?
Aber warum? Woher kommt diese Missachtung von Kindern? [...] Kinderfeindlichkeit ist, ideologiekritisch betrachtet, eine notwendige Folge von Kapitalismus und Patriarchat. Beim Kapitalismus liegt das vielleicht noch mehr auf der Hand als beim Patriarchat, aber beides hängt natürlich zusammen. [...] Mit Kindern gut umzugehen, bringt kurzfristig weniger für die Wirtschaft, als eine Fluggesellschaft zu retten. Wer hauptsächlich das Kapital und weniger die Menschen schützen will, für den sind kleine Menschen, die noch keine Profite schaffen, hauptsächlich ein Betreuungsproblem und unfertige spätere Arbeitskräfte. [...] Die Verknüpfung von der Kinderfeindlichkeit zum Patriarchat mag für manche etwas konstruiert wirken, liegt aber eigentlich auf der Hand. Solange Kinder hauptsächlich von Frauen geboren und erzogen werden, sind Frauen- und Kinderhass nur zwei Seiten einer Medaille. [...] Wenn Frauen sich nicht von gewalttätigen Partnern trennen können, ist das oft auch eine Frage der finanziellen Abhängigkeit, und oft leiden darunter nicht nur die Frauen, sondern auch ihre Kinder. [...] Es ist kein Zufall, dass junge Menschen häufiger links, feministisch und ökologisch denken, es ist ihr Überlebenswille. (Margarete Stokowski, SpiegelOnline)
Ich kann es gar nicht anders sagen: So ein Unfug. Wenn man nur einen Hammer hat, sieht noch jedes Problem wie ein Nagel aus. "Kapitalismus" und "Patriarchat" sind aber nicht die Antwort auf jede Frage. Auch die enge Verknüpfung, die Stokowski zwischen den beiden zieht, ist eher fragwürdig. Sicher waren das Patriarchat und der Kapitalismus lange Zeit Bettgefährten, aber sie bedingen einander nicht. Vielmehr entstand und blühte der Kapitalismus in einer Zeit, die eben AUCH patriarchalisch war. Schon allein hier bestehen massive Probleme für diese Theorie. Aber wie Stokowsi selbst zugibt hat dieser Ansatz null Erklärungsgehalt dafür, warum gerade Deutschland so kinderfeindlich ist. Es gibt sowohl Länder, die wesentlich kapitalistischer und kinderfreundlicher als Deutschland sind als auch Länder, die patriarchalischer und kinderfreundlich sind. Ich habe auf die berechtigte Frage, die Stokowski aufwirft, keine Antwort. Aber ich sehe deutlich, dass ihre Standardantwort hier wohl kaum ausreichen kann.
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