In den USA gehen gerade die Kandidaten für die Primary-Season 2015 in Stellung. Das heißt für Politikjunkies, Journalisten, Aktivisten und Experten allerorten: es wird wieder spannend. Wer steht für was? Wer hat welche Chancen? Welche arkanen Besonderheiten des US-Wahlrechts werden dieses Mal den Wettbewerb verzerren? Wer finanziert wen? Und was macht überhaupt...? Bemerkenswert an dieser Saison ist bereits jetzt, dass auf der einen Seite mit Hillary Clinton und Jeb Bush zwei enge Verwandte von Ex-Präsidenten antreten. Doch noch etwas anderes ist auffällig: dass zwei weitere mächtige und bekannte Persönlichkeiten überhaupt kein Interesse zeigen, in den Vorwahlprozess einzusteigen. Auf der Seite der Republicans ist das Paul Ryan, der Vizepräsidentschaftskandidat von 2012 und aktuell Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Kongress, einer der wohl mächtigsten Positionen der Legislative. Auf der Seite der Democrats ist das Elizabeth Warren, seit kurzem Senatorin für Massachusetts. Beide haben ihren jeweiligen Fans und Fürsprechern abgesagt und wollen lieber bleiben, wo und was sie sind. Warum eigentlich?
Ich hatte eingangs erwähnt, dass Warren und Paul beide zu den mächtigsten und einflussreichsten Politikern der USA gehören. Um die Frage nach ihrer Nicht-Kandidatur zu beantworten müssen wir eines wissen: Woher kommt ihre jeweilige Stärke?
Paul Ryan steht bereits seit längerer Zeit im Rampenlicht. Am bekanntesten ist er für den "Ryan-Haushaltsplan" und seine fast schon fanatische Begeisterung für die Bibel der Libertären, Ayn Rands Roman "Atlas Shrugged". Ayn Rands Philosophie ist die einer bedingungslosen Marktwirtschaft ohne Regeln und Hilfen. Wer gewinnt, gewinnt alles, wer verliert, verliert alles. Seit Mitt Romneys gescheitertem Wahlkampf und seinen berüchtigten Bemerkungen über die 47%, die angeblich nichts leisten, ist Ayn Rand etwas aus der Mode gefallen und Ryan versucht, seine frühere Begeisterung (wer für ihn arbeitete musste das Buch lesen und wurde getestet) herunterzuspielen. Bisher nicht verleugnet hat er dagegen seinen Haushaltsplan, der geradezu absurd hohe Einsparungen bei den Sozialleistungen und Steuererleichterungen vorsieht, was dann zu gewaltigem Wirtschaftswachstum führen soll.
Dieser Haushaltsplan - beziehungsweise Ryans Philosophie dahinter - nimmt für die Republicans den gleichen Stellenwert ein wie im vergangenen Jahrzehnt der gleichfalls berüchtigte "Anti-Tax-Pledge" des Steueraktivisten Rover Norquist, der es geschafft hat, alle Republicans zu dem Eid zu bewegen, niemals und unter keinen Umständen die Steuern zu erhöhen. Diesem Eid hat Ryan nun effektiv den Eid auf Verzicht auf Schulden und Kürzungen des Sozialstaats hinzugefügt - was für Republicans eigentlich nur einen Ausweg lässt: krasse Streichungen in allen künftigen Plänen. Seit Ryan der Vorsitzende des Haushaltsausschusses ist, kann er die Früchte dieses vorherigen Erfolgs beim Prägen der ideologischen Linie der Partei nun in direkte Politik umsetzen.
Elizabeth Warren hingegen kommt vom entgegengesetzten Ende des Spektrums. Von Harvard aus, wo sie eine Spezialistin für Konkursrecht war, trieb sie als Lobbyistin diverse Verbraucherschutzmaßnahmen voran. Ihr größter Erfolg, noch bevor sie in den Senat gewählt war, war die Einrichtung eines komplett neuen Ministeriums für Finanzverbraucherschutz, das die Freiheiten der Kreditkartenfirmen, obszöne Überziehungszinsen zu verlangen ebenso einschränkte wie die der Banken und diverse Verbesserungen für die Beratung der Kunden sowie den Fall des Falles - Bankrott - vorsah. Die Erfolgschancen einer solchen Unternehmung waren vorher von den meisten Beobachtern als sehr schlecht eingeschätzt worden. Warren trat zudem als dezidierte Kritikerin der Wall Street auf, ohne dabei in bloßen Populismus zu verfallen. Sie hat ein beeindruckendes akademisches und professionelles Ressüme hinter sich.
Mit diesen Erfolgen und Referenzen forderte sie 2011 in Massachusetts den amtierenden Senator Scott Brown heraus und besiegte ihn. 2012, frisch im Senat, belegte sie sofort mehrere wichtige Ausschussposten und profilierte sich durch ebenso fundierte wie scharfe Attacken von links gegen Obama, während sie ihre neue Stellung nutzte, mit aller Macht gegen die Aufweichung der nach der Finanzkrise geschaffenen Regulierungen (etwa das Dodd-Frank-Abkommen) und für die Schaffung noch schärferer Regulierungen zu agitieren. Auf diese Art und Weise gewann sie besonders unter den linken Democrats starke Unterstützung. Daraus erklären sich auch deren ständige Aufrufe an Warren, endlich als Präsidentin zu kandideren ("Run, Warren, Run!"), die sie jedoch - ebenso wie Ryan - beharrlich zurückweist.
Laut der brillanten Analyse des Vorwahlprozesses "The Party Decides", die jedem Interessierten sehr ans Herz gelegt sei, gibt es vorrangig zwei Unterschiede bei Politikertypen. Die einen sind die "policy demanders", also die Politiker, denen es um die Sache geht. Sie haben häufig ein Kernanliegen, das sie mit aller Macht durchsetzen wollen. In diesen Typus fallen Ryan und Warren. Der andere Typus ist der des "ambitious politician", der versucht, an die Macht zu kommen und dem die ideologische Basis dieses Machtstrebens zweitrangig (nicht aber egal) ist. Dieser Typus gibt gerne einen Kampf verloren, wenn er dafür einen anderen gewinnen kann. Angela Merkel ist ein Paradebeispiel dieses Typus. Selten einmal kommen beide in Kombination vor; Willy Brandt oder Barack Obama wären Beispiele für diese Typen. In den Begriffen ist übrigens keine Wertung enthalten: eine funktionierende Demokratie braucht beide.
Auffällig ist aber, dass policy demander häufig kein großes Interesse an Spitzenpositionen haben. Das macht auch Sinn, denn wer in einer Führungsposition ist, der muss zwangsläufig moderieren und Kompromisse eingehen. Man sieht dies am Beispiel Obama nur zu gut. Sowohl Warren als auch Ryan haben ihre Ziele weitgehend damit erreicht, dass sie in der Rolle der policy demander mit ungeheurer Energie ihre jeweiligen Ziele verfolgt und Netzwerke und Ressourcen in den Dienst dieser Sache gestellt haben. Ihnen wäre mit einer Kandidatur nicht gedient. Würden sie eine solche anstreben, zwängen sie alle anderen (und wahrscheinlicheren, weil wesentlich umfrangreicher vernetzten und erfahrenen) Kandidaten zu einer Auseinandersetzung mit ihren Themen - und vermutlich einer Ablehnung derselben.
Bleiben sie dagegen in ihrer Rolle als policy demander, können sie alle anderen Kandidaten bei dem einen Thema, das ihnen am Wichtigsten ist, auf ihre Linie zwingen und erlauben ihnen gleichzeitigen eine differenziertere und wahlkampftaktisch sinnvollere Position. Jeder Präsidentschaftskandidat der Republicans wird zwangsläufig auf Linie mit dem Ryan Budget liegen. Das wäre unmöglich, wenn Ryan Kandidat wäre, denn dann müsste jeder Kandidat einen eigenen Haushaltsplan aufstellen. Gleichzeitig wird sich jeder Bewerber der Democrats positiv zur Regulierung der Wall Street positionieren müssen, weil nicht die automatische Ablehnung der Kandidatin Warren eine gleichzeitige Ablehnung ihrer Politik erlaubt.
Sofern Ryan und Warren sich daher nicht von Eitelkeit und Ambition zum Präsidenten berufen fühlen - und danach sieht es nicht aus - gewinnen sie wesentlich mehr, wenn sie von der Seite zusehen und den Prozess auf diese Art beeinflussen. Denn dann führt an ihnen kein Weg vorbei.
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