Mittwoch, 27. Mai 2015

Warum wir die Fraktionsdisziplin brauchen

Die Fraktionsdisziplin gehört zum parlamentarischen System wie die Butter aufs Brot. Genauso gehört die Kritik an ihr zum guten Ton all jener, die gerne den Politikbetrieb kritisieren. Wie kann es auch sein, dass da dem Abgeordneten, der von Grundgesetz wegen die Garantie des Freien Mandats besitzt, ein Kollektivwille, nun ja, aufdiszipliniert wird? Wäre es nicht viel besser, wenn die Abgeordneten frei über Sachfragen diskutierten und abstimmten, geleitet nur von Fakten und dem unbedingten Willen, dem deutschen Volk zu dienen? Klar, das wäre super, aber das gleiche gilt für Freibier, jeden Tag, das ganze Jahr. Wäre schon toll. Is' nur nich'. Trotzdem wird man die romantische Vorstellung nicht los, dass es auch ohne die landläufig gerne "Fraktionszwang" genannte Einrichtung geht. Warum also hält sich eine Einrichtung, die permanent geleugnet wird und auf der Beliebtheitsskala nur knapp über Fußpilz rangiert so beharrlich in den Parlamenten weltweit?

Um den Sinn der Fraktionsdisziplin zu verstehen, muss man sich zuerst gewahr machen, wie das deutsche politische System funktioniert. Die meisten der hier getroffenen Aussagen lassen sich auf andere parlamentarische Systeme verallgemeinern, generell ist aber Vorsicht geboten. In präsidialen Systemen wie etwa den USA sind die Regeln nicht ganz so deutlich, in anderen, etwa in Großbritannien, sogar noch schärfer und stärker institutionalisiert. Beide Länder kennen den speziellen Posten der "whip", Peitsche, dessen Job es ist, die Abgeordneten auf Linie zu halten. Eine solche offizielle Funktion fehlt in Deutschland und wird am ehesten von Generalsekretären und Fraktionsvorsitzenden übernommen. Mit diesem caveat, ab in medias res. Und da sag mal einer, das Große Latinum sei zu nichts nütze.

Jenseits aller Verfassungstheorie, die für gewöhnlich dem einzelnen Abgeordneten eine beeindruckende und praktisch unabhängige Stellung einräumt, ist eine Wahl ohne eine Partei-Affiliation praktisch unmöglich. Selbst in den USA, wo die Unabhängigkeit der Abgeordneten verglichen mit Europa relativ groß ist, lassen sich die Independents an einer Hand abzählen (es sind zwei, bevor jetzt jemand nachschaut, beide im Senat - seit 1949 waren im House of Representatives gerade einmal 11 Independents, im Senat noch weniger). Obwohl in Deutschland durch die Erststimme theoretisch gesehen ein einzelner für den Wahlkreis verantwortlicher Kandidat gewählt wird, findet auch hier in der Praxis eine Parteiwahl statt. Wer das nicht glaubt, darf gerne den Test machen und aus dem Kopf die Kandidaten der fünf Parteien seines Wahlkreises nennen (Bonusaufgabe: welche davon sitzen im Bundestag?). Sich gegenüber den Parteistrukturen auf die Unabhängigkeit des Mandats zu berufen dürfte da nur für Heiterkeit sorgen, denn ohne die Partei kommt niemand in den Bundestag. Die Unabhängigkeit des Abgeordneten ist daher schon bei der Wahl reine Fiktion.

Ist der oder die Abgeordnete dann im Parlament, gibt es eine ganze Reihe von Kollegen. Im aktuellen Bundestag sitzen derzeit 631 Abgeordnete. Ist man für die CDU/CSU im Parlament, so hat man satte 310 Kollegen. Selbst eine grüne Abgeordnete darf sich über 62 Kollegen freuen. Hat jemals jemand versucht, mit einer größeren Gruppe von Freunden eine sachliche Debatte zu führen? Wie gut funktioniert das, dass alle zu Wort kommen und am Ende nach Sachlage und Fakten entschieden wurde? Und da reden wir von Freunden, nicht von Parteifreunden. In so großen Gruppen überhaupt irgendetwas diskutieren zu wollen ist zum Scheitern verurteilt. Das macht aber auch nichts, denn im Normalfall wüsste man ohnehin nichts beizutragen.

Die meisten Themen, die im Bundestag verhandelt werden, sind nämlich tatsächlich Sachthemen. Sie zeichnen sich durch eine ungeheure Komplexität aus und benötigen Spezialisten. Da niemand Spezialist für alles sein kann - und das ist keine Frage der Intelligenz; der Tag hat einfach nur 24 Stunden - bilden sich zwangsläufig Experten. Wenn dann die Änderung der Abgasrichtlinien der letztjährigen EU-Verordnung in Bezug auf den Graphem-Gehalt im Abgas pro Kubikmilliliter für Mittelklassewagen europäischer Fertigung diskutiert wird, hält sich der Beitrag, den ich als Nicht-Experte leisten kann, in Grenzen (an der Stelle kommen Lobbyisten ins Spiel, aber das Thema sparen wir uns für ein anderes Mal auf). Ergo werde ich darauf vertrauen, dass unser Experte für Abgase in der Fraktion weiß, was er tut. Selbst wenn ich vielleicht denke, dass 22 g/cm3 reichen würden und nicht wie vom Kollegen vorgeschlagen 23g/cm3, werde ich mich seinem Votum trotzdem unterwerfen. Schließlich will ich ja, dass er nachher auch für meinen Änderungsantrag bezüglich der Kennzeichnungspflicht chinesischer Gelbgurken im ablaufenden Geschäftsjahr stimmt. Die Einarbeitung in diese Themen macht schon genug Mühe, da braucht man nicht auch noch den zusätzlichen Stress, erst einmal bei allen 630 Abgeordneten zu prüfen, wer denn nun dafür ist. Besonders wenn man bedenkt, wie viele das sind.

Nun werden manche Verteidiger der Fraktionsanarchie (mangels eines etablierten Wortes) vielleicht einwenden, dass es ja nicht um solche Kleinklein-Themen geht, sondern um die großen Entscheidungen. Hartz-IV. Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Mindestlohn. Homo-Ehe. Die Liste ist lang, wenngleich nicht endlos. Nur, erneut, in Deutschland werden Parteien gewählt, nicht einzelne Abgeordnete. Und die einzelnen Abgeordneten, die sich der Fraktionsdisziplin nicht unterwerfen wollen, standen für mich wahrscheinlich ohnehin nicht zur Wahl. Die Chance dafür steht bei 16 Landesverbänden ziemlich gut. Wenn mir also als Baden-Württemberger, der der CDU seine Stimme gegeben hat, damit sie die Homo-Ehe auch weiterhin verhindert, ein CDU-Abgeordneter aus Berlin, der versucht seinen Platz auf der Liste gegen den Ansturm des grünen Mainstreams zu retten, dazwischen schießt, ist das völlig undemokratisch. Denn ich habe die CDU ja gewählt, weil sie im Wahlkampf versprochen hat, die Homo-Ehe zu verhindern. Unser Beispiel-Renegat aus Berlin wusste das auch schon vorher und hat sich für eben diese CDU aufstellen lassen. Er schuldet es also dem Wähler, sich der Fraktionsdisziplin zu unterwerfen.

Aber Moment, was ist mit der Gewissensfreiheit? Der Freheit des Mandats? Zwingen kann die Fraktion den Abgeordneten ja nicht, oder? Nein, kann sie nicht. In Fällen, in denen der Abgeordnete wirklich seinem Gewissen folgen zu müssen glaubt, wird die Fraktionsführung auch die Enthaltung oder Gegenstimme erlauben, sofern es nicht die Mehrheit gefährdet (was selten der Fall ist). Im Notfall kann der Abgeordnete auch einfach krankmachen und die Abstimmung schwänzen. Zuletzt steht ihm außerdem natürlich immer der Rücktritt offen (in welchem Fall der Nachrücker von der Liste seinen Platz einnimmt). Wendet sich der Abgeordnete trotzdem gegen die Partei, so steht diese vor einem Dilemma. Zum einen goutiert die deutsche Öffentlichkeit mangelnde Geschlossenheit äußerst selten und wertet es als Schwäche. Demzufolge lastet ein großer Handlungsdruck auf der Parteispitze, den Abgeordneten unter Kontrolle zu bringen. Dies kann etwa durch Isolierung geschehen: die Fraktionsführung legt fest, welche Abgeordneten in welche Ausschüsse können. Und alle wichtige Arbeit findet in den Ausschüssen statt (auch das ist eigentlich einen eigenen Artikel wert). Zudem kann man ihn auch vom Informationsfluss abschneiden und seine Kernanliegen torpedieren sowie im äußersten Fall den Parteiausschluss beantragen. Auch im Ortsverband kann Druck ausgeübt werden, so dass die aktuelle Legislaturperiode des renitenten Abgeordneten sicher seine letzte ist, indem man die Wiederaufstellung verweigert. Diesem Druck können Abgeordnete eigentlich nur standhalten, wenn sie außergewöhnlich starke und loyale Ortsverbände besitzen - wie etwa der SPD-Abgeordnete Marco Bülow, der gerne gegen die Parteilinie schießt und die herrschenden Zustände in seinem Buch "Wir Abnicker" beißend kritisert hat.

Ohne Fraktionsdisziplin ist die parlamentarische Arbeit in Deutschland, ist unser demokratisches System schlicht unmöglich. So widersinnig das auch scheinen mag, wo doch die Fraktionsdisziplin demokratischen Prinzipien ins Gesicht zu spucken scheint, so ist es doch ohne sie praktisch unmöglich. Regierungen würden fallen, Arbeit liegen bleiben, Einzelinteressen ungeahnte Macht erhalten. Die Fraktionsdisziplin ist nicht ideal, keinswegs. Das hat sie mit der Demokratie gemeinsam. Wir haben nur bisher kein besseres System gefunden.

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