“Nach SZ-Informationen bereitet die Koalition eine groß angelegte Strategie vor, mit der Dickmacher sowie ungesunde Zutaten in verarbeiteten Lebensmitteln und Fertiggerichten verringert werden sollen.
Um die Zahl ernährungsbedingter Krankheiten wie Diabetes zu senken, soll zusammen mit der Lebensmittelwirtschaft eine „Nationale Reduktionsstrategie für Salz, Zucker und Fett“ auf den Weg gebracht werden. Aus der SPD-Fraktion hieß es dazu, viele Lebensmittel kämen auch mit weniger Salz, herzschädlichen Fetten oder Zucker aus – und würden trotzdem noch gut schmecken. Da es vielen Verbrauchern leichter falle, zu ausgewogeneren Produkten zu greifen, wenn sich der Geschmack nicht plötzlich radikal verändere, müsse der Zucker- oder Salzgehalt schrittweise reduziert werden. [...]
Für die SPD ist zudem die Einführung einer „Zuckersteuer“ denkbar. Dies sollte „kein Tabu mehr sein“. Gemeint ist damit die volle Besteuerung von Süßwaren, Süßgetränken und Knabberzeug.”
Nanny-State reloaded? Man könnte glatt meinen, die SPD wolle den Grünen ihr Veggie-Day-Fiasko nachmachen. Hat sie nicht schon genug den Ruf einer Partei der Regulierung und des überbordenden Staates?
Wie die Reaktionen auf einen solchen Plan ausfielen, ist sicher nicht schwer zu erraten. Schließlich wissen wir doch alle selbst am besten, was wir essen wollen und sollen und wer Übergewicht hat, ist selbst schuld, oder? Vielleicht auch nicht. Fest steht: Übergewicht ist nicht nur weit verbreitet und ein gesellschaftliches Problem, sondern auch für viele Menschen ganz individuell eine schwere Herausforderung. “Rund 70 Prozent der Männer und 50 Prozent der Frauen in Deutschland sind übergewichtig, jeder fünfte Deutsche ist fettsüchtig (BMI 30 und darüber)”, fasst der Fokus das Ergebnis einer Studie von 2010 zusammen.
Gerade von liberaler Seite hochgehaltene “mündige Verbraucher” ist zwar ein schönes Ideal, aber im Alltag doch eher die Ausnahme. “Für die allermeisten ist es IMHO auch nicht schwer ein leichtes Energieminus zu fahren. Man muss es nur machen”, glaubt etwa unser liberaler Twitter-Freund Metaliberal. Wie lässt sich dann erklären, dass Fettleibigkeit so weit verbreitet ist und der individuelle Kampf dagegen so oft in Niederlagen endet? Das weist auf ein systematisches Problem der modernen Lebensmittelindustrie im Zeitalter des Convinient-Foods und der immer unregelmäßigeren und achtloseren Essenskultur hin.
Warum sollte der Staat nicht ein wenig nachhelfen, wenn schon die Hundertste Diät aus der “Brigitte” wieder nichts gebracht hat? Nicht alle Maßnahmen sind wohl gerechtfertig, nicht alle lassen sich politisch durchsetzen, nicht alle sich wirkungsvoll. Notwendig sind smarte Regulierungen, die letztlich von den Verbrauchern nicht einmal als Einschränkung empfunden werden müssen, sondern sogar eine Erleichterung beim täglichen Navigieren durch das kulinarische Überangebot darstellen.
Will man das Problem also nicht ganz ignorieren, ist durchaus ein Einschreiten des Staates - wie genau, dazu später mehr - angezeigt, denn die Lebensmittelindustrie alleine hat jedenfalls kein Interesse daran, an der gängigen Praxis von relativ hohen Fett-, Zucker- und Salzanteilen in Fertiggerichten und “processed foods” insgesamt etwas zu ändern, schließlich machen diese Stoffe ja teils sogar süchtig, wie die Forschung weiß.
Von der Familie zur neoliberalen Arbeitswelt - Gründe für den Wandel der Esskultur
Ein unangenehmes, omnipräsentes Fakt, das niemand sich anzusprechen traut nennt man im angelsächsischen Sprachraum den “elephant in the room”. In unserem Fall ist der Elefant die Frage, warum die Leute sich eigentlich so schlecht ernähren, und warum das früher anders war. Die fortschreitende Industrialisierung mit ihrem Angebot an schlechten Fertiglebensmitteln ist sicher ein Erklärungsansatz, aber die Technologien sind schon länger verfügbar als das Angebot. Woher also der plötzliche Nachfrageschub der letzten zwei, drei Dekaden?
Konservative würden nun vermutlich mit Werteverfall und der Zerrüttung der traditionellen Kernfamilie und ihrer Traditionen argumentieren. Und das verblüffende ist, dass sie damit Recht hätten. Denn sehen wir uns einmal kurz an, wer früher eigentlich gekocht hat. Zumindest werktags (häufig genug aber auch am Wochenende) war die Ernährung ein essenzieller Teil der Hausfrauenpflichten.
Noch vor 50 Jahren gehörte die Hauswirtschaftsschule zu einem normalen Bestandteil weiblicher Bildung, dessen letzte Reste wir etwa im Fach Hauswirtschaft der Realschule beobachten könnten. Da eine formelle Hausfrauenausbildung heute nicht mehr existiert, da der Feminismus solche einseitig-sexistischen Rollenzuschreibungen zurecht obsolet gemacht hat, aber gleichzeitig kein Ausgleich dafür geschaffen wurde, ist viel institutionelles Wissen über richtiges Kochen schlichtweg verloren gegangen.
Dass Singles sich schlecht ernähren ist eine Tradition, die vermutlich noch bei den alten Römern zu finden ist, aber normalerweise hatte sich das Problem, wenn sie heirateten. Heute aber lernen beide Seiten nicht mehr richtig zu kochen, wenn nicht die Eltern (sofern sie es noch können) den Job übernehmen. War man sich aber als junger Mann zu fein hierzu (wie der Autor dieser Zeilen), so bleibt das Repertoire häufig arg beschränkt.
Gleichzeitig ist aber noch ein weiteres Problem aufgetreten: an Werktagen hätten Männer früher auch nicht kochen können, selbst wenn es ein mutiges Brechen mit tradierten Rollenvorstellungen begehrenswert gemacht hätte. Vollzeitjobs mit langen Pendlerstrecken (ein Nebeneffekt der Völkerwanderung der Mittelschicht in die Vorstädte) ließ dafür keine Zeit. Seitdem hat sich die Arbeitswelt gewandelt; der Zweiverdienerhaushalt ist der neue Standard geworden. In dem haben aber beide Seiten keine Zeit zum Kochen, weswegen der Griff zur Tiefkühltruhe entsprechend häufiger wird.
Für die Zunahme schlechter Ernährung sind daher drei Faktoren auszumachen: der Verlust an institutionellem Kochwissen, der Zeitverlust durch den Doppelverdienerhaushalt und die ihm vorausgehende Zerstörung des traditionellen Rollenbilds. Jede Analyse, die diese Faktoren nicht mit einbezieht, wird zwangsläufig zu kurz greifen.
Was hilft und was ließe sich umsetzen?
Nun stellt sich bei jedem politischen Vorhaben immer die Frage, wie es umzusetzen ist. Wenn bereits ein unschuldiger Unterpunkt eines Unterpunkts auf Seite 126 des Wahlprogramms eine Lawine auslöst, die die Wahlniederlage entscheidend beeinflusst, dann sollte die dräuende Ausfertigung eines Gesetzes gleichen Inhalts ja erst recht die Wähler auf die metaphorischen Barrikaden bringen. Der Vorstoß der verbraucherpolitischen Sprecherin muss daher auch als ein Testballon gesehen werden, von dem sich die Parteispitze jederzeit distanzieren kann. Sehen wir uns also einmal an, welche Möglichkeiten der Umsetzung überhaupt bestehen.
Die SPD geht in ihrem Vorhaben zweigleisig vor. Neben der in Kooperation mit der Lebensmittelindustrie durchgesetzten Reduzierung von Salzen und Fetten (siehe unten) möchte sie über die Einführung einer Zuckersteuer Herz und Verstand der Konsumenten am Geldbeutel abholen. Generell ist die Regulierung auf diesem Wege aber problematisch. Alkohol- und Tabaksteuer scheinen auf den ersten Blick zu beweisen, dass das System herausragend funktioniert - ist doch der Konsum beider Volksdrogen seit Jahren massiv rückläufig. Vertreter dieser Argumentationslinie müssen sich aber fragen lassen, ob der Rückgang tatsächlich auf die Steuer zurückzuführen ist. Die Tabaksteuer etwa wird seit 1906 erhoben, während der Verbrauchsrückgang eher ein Phänomen der vergangenen Dekade ist.
Gleichwohl muss man dem entgegenhalten, dass die Tabaksteuer zwischen 2002 und 2015 massiv erhöht wurde (unter anderem zur Finanzierung der Terrorabwehr), was vielleicht auf einen Zusammenhang hindeutet. Eindeutig ist dieser jedoch trotzdem nicht. Akzeptieren wir für einen Moment die kausale Korrelation, so zeigt sich, dass erst ab einer bestimmten Höhe ein starker Effekt eintritt. Ob eine Tafel Schokolade 90 oder 95 Cent kostet, dürfte nur für die wenigsten Käufer bestimmend sein. Eine Erhöhung des Preises um 100% oder 200% aber dürfte politisch kaum durchzusetzen sein.
Einer hypothetischen Zuckersteuer steht somit nur ein indirekter Regulierungseffekt zur Seite. Das Vorhandensein per se ist für die Bevölkerung ein deutlicher Signal der Unerwünschtheit eines bestimmten Konsumverhaltens. Ob dies angesichts der Beliebtheit des Bundestags die gewünschte Signalwirkung entfaltet, darf dagegen bezweifelt werden.
Eine andere Steuerungswirkung über eine Reform des Steuersystems, obwohl politisch noch schwerer durchsetzbar, scheint hier erfolgversprechender: die grundsätzliche Reform des Mehrwertsteuersystems. Zucker- und transfetthaltige Lebensmittel mit 19% (oder noch höher) zu besteuern, während man gleichzeitig Grundnahrungsmittel wie Gemüse, Obst oder Brot ganz von der Mehrwertsteuer befreit, könnte eine solche Reform sowohl für den Staatshaushalt aufkommensneutral halten als auch für den Geldbeutel der Geringverdiener nicht weiter belasten. So könnte so der Einspruch vermieden werden, es ginge dem Staat bloß um die (derzeit ja gar nicht notwendige) Sanierung des Haushalts, wie dies immer wieder fälschlicherweise im Zusammenhang mit der Ökosteuer geschah.
Eine gleichzeitige steuerliche Entlastung von Grundnahrungsmitteln würde zudem die Steuerungswirkung deutlicher erkennbar machen - eine Notwendigkeit für eine solche Operation, wie wir oben argumentiert haben.
Schrittweise Regulierung
Die andere Stoßrichtung des SPD-Programms setzt auf eine Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, die per Gesetz zur Reduzierung von gesundheitsgefährdenden Stoffen gezwungen werden soll. Dieser Ansatz ist nichts Neues. Wir sehen ihn bei der Entfernung von Blei aus Benzin, FCKW aus Sprühdosen, Asbest aus Isolierung und Arsen aus Hautcremes. Solange der Verbraucher am Ende ein Produkt erhält, das die gleichen Zwecke erfüllt wie vorher, wird er kaum einen Unterschied feststellen.
Stellt man naiv die Frage, warum die Lebensmittelhersteller überhaupt so viel Fett, Salz und Zucker in ihre Produkte packen, so landet man bei zwei Haupterklärungen: weil es süchtig macht und weil es billig ist. Kein Hersteller kann der erste sein, der die Anteile verringert, weil er befürchten muss, Marktanteile zu verlieren. Hier funktioniert eine legislative Strategie analog zum Mindestlohn: der Staat springt ein und erschafft künstlich einen neuen Status Quo, der Marktprinzipien beibehält, indem er gleichzeitig alle Konkurrenten auf dieselbe Stufe stellt. Ein grundsätzlich gefährlicher und individuell ungünstiger, gesellschaftlich günstiger Schritt wird somit schlicht herbeigeführt.
Diese Idee hat mehrere politische Vorteile. Unter der Annahme, dass die Regulierung weiterhin ein unattraktives Politikgebiet bleibt (was wahrscheinlich ist) wird so nur minimale Aufmerksamkeit erzeugt und die Verantwortung maximal nebulös gehalten. Die Idee, die Grenzwerte schrittweise zu reduzieren, um die Verbraucher langsam an “gesündere” Versionen ihrer ungesunden Dickmacher zu gewöhnen, hat daher aus politischer Perspektive einen gewissen Charme. Gleichzeitig ist es auch kein direkter Eingriff in die Marktprozesse wie es die Regulierung über das Steuersystem ist.
Die Festlegung von Grenzwerten in Absprache mit der Industrie ist dabei eine seit langem eingeführte und bewährte Praxis. Wir finden sie in den Schadstoffklassen von Autos, in der Giftstoffbelastung von Textilien, in Energieeffizienzklassen in Küchengeräten, in Dezibelmaximalbelastungen bei öffentlichen Veranstaltungen, in Feinstaubgrenzwerten in Städten, in Weichmacherbegrenzungen in Spielzeug - die Liste ist endlos. Ausgerechnet einen so elementaren Bereich wie diesen auszunehmen ist widersinnig.
Dennoch dürfte dieses Vorgehen für viele ein gewisses Geschmäckle haben, denn von einem mündigen Konsumenten, für den wir uns ja alle selbst so gerne halten, geht ein solcher Plan natürlich nicht gerade aus, der eine schrittweise Reduktion der ungesunden Stoffe vorsieht, so dass es der Käufer nicht oder kaum merkt. In Zeiten von Verschwörungen und Ressentiments gegenüber Brüssel und auch der deutschen Regierung ist auch dieses Vorgehen nicht ganz ohne Risiko. Eine rechte oder liberale Opposition könnte daraus relativ leicht politisches Heu machen, zumal, wenn der TK-Burger von Aldi dann plötzlich doch nicht mehr ganz so deftig schmeckt.
War wären die Alternativen?
Ein von der SPD bisher nicht angesprochenes Feld ist der Versuch, Veränderungen im Lebensmittelkonsum über 100% marktkonforme Ansätze herbeizuführen, die nicht in die Zusammensetzung oder den Preis der Lebensmittel eingreifen oder die auf andere Art und Weise das Essverhalten der Menschen ändern.
Das wohl bekannteste Beispiel für Regulierungen dieser Art ist die Einführung von Labels für Lebensmittel, die etwa den Salz-, Fett- oder Zuckergehalt in einem simplen, sofort erkenn- und verstehbaren System darstellen - die Lebensmittelampel etwa. Bisher war der Widerstand der Lebensmittellobby gegen diese Art Kennzeichnung zu hoch; es ist aber vorstellbar, dass es als Kompromiss zur Verhinderung gegen weitreichendere Regulierung gewählt wird. Da es grundsätzlich dem liberalen Leitbild eines informierten, rational entscheidenden Verbrauchers entspricht sollte es zudem leicht akzeptabel sein.
Eine gänzlich andere Variante hat den Charme, dass sie komplett ohne Politik auskommt: das Angebot ausgewogener, schneller und gesunder Mahlzeiten durch die Industrie. Nun ist es bekanntlich ein Merkmal der Marktwirtschaft, dass sie Nachfrage immer durch ein Angebot befriedigt, sofern dem kein Gesetz im Wege steht (und oft auch dann). Und tatsächlich gibt es seit kurzem Anbieter für genau diese Nische. Sie packen die passend bemessenen, frischen Zutaten für mehrere vollwertige Mahlzeiten zusammen mit den Rezepten in eine Box, die dann per Post zugestellt wird (Beispiele hierfür sind Hellofresh und Kochzauber).
Das Verkaufsargument: vollwertige Mahlzeiten in maximal 45 Minuten fertig gekocht. Das einzige Problem, das die Boxen aktuell haben dürften, ist der Preis. Für zwei Personen und drei Tage berappt man rund 40 Euro, bei vier Personen sind es 60 Euro. Grundsätzlich ist der Ansatz aber vielversprechend. So vielversprechend dass man sich wundert, warum Lebensmitteldiscounter wie Rewe oder Edeka bisher nicht auf den Zug aufgesprungen sind.
Qui bono?
Der politische Schaden, der der SPD (und bei erfolgreicher Verabschiedung auch der CDU) droht ist leicht zu sehen; daher vermutlich auch der vorsichtige Versuchsballon. AfD und FDP hätten beide freie Wahlwerbung, während Grüne und LINKE sich nur schwer als Anti-Regulierer profilieren könnten. Dies wäre, ein wenig um die Ecke gedacht, natürlich von Seiten der CDU nicht unklug als Wiederbelebungsversuch der freien Demokraten, so dass diese wieder als Koalitionspartner bereitstehen. Sollte aber tatsächlich eine Allparteienkoalition im Bundestag solche Regulierungen abnicken, dürfte der Fallout für individuelle Parteien überschaubar sein.
Letztlich hängt die politische Bewertung des gesamten Vorgangs vor allem von einem Trend ab: Wird es den Spin-Doktoren der Parteien gelingen, intelligente Regulierung als etwas Positives zu framen, so schafft die SPD etwas, das sie 2005 sucht: ein Thema, mit dem sie sich gleichzeitig glaubhaft nach rechts wie links abgrenzen kann, ohne dabei den Anschluss an eines der Lager zu verlieren. Eine auf kleine und kleinste Reförmchen und Regulierungen getrimmte Politik ist keine, die den Anhängern der LINKEn gefallen dürfte, noch ist es etwas, das sich natürlich in das Portfolio von Schwarz-Gelb einfügt. Für SPD und Grüne dagegen passt es wunderbar und könnte Rot-Grün endlich wieder eine positive, gemeinsame Identität geben. Das ist natürlich nichts, was Wahlen gewinnt - aber es wäre ein Anfang.
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