Donnerstag, 26. November 2015

Im Spiegel der Flüchtlingskrise

Große Ereignisse und Krisen haben häufig die Eigenschaft, dass sie einer Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Das zwingt sie dazu, Fragen offen zu diskutieren, die man bislang im Interesse allgemeiner Ruhe und Wohlverhalten unter den Teppich gekehrt hatte. Denn tatsächlich wird Deutschland, wie Stefan Pietsch das in seinem Artikel formuliert hat, ja ein Wandel aufgezwungen. Es ist eine Debatte, die das letzte Mal zu einer Zeit geführt wurde, als Joschka Fischer noch Außenminister war und der Untergang des Abendlandes durch eine allzu freizügige Visa-Vergabe gekommen schien. Über die Ausmaße dieses Skandals kann man heute nur noch lachen.

Die aktuelle Flüchtlingskrise hat in Deutschland ein weit verbreitetes Unbehagen ausgelöst. Es ist ein Unbehagen an dem von Stefan Pietsch angesprochenen Wandel, den über eine Million syrischer Flüchtlinge praktisch zwangsläufig mit sich bringen werden. Es ist Unbehagen über den Staat, der nicht mehr in der Lage scheint, der Lage Herr zu werden. Es ist ein Unbehagen über die Meinungseliten, deren Ansichten sich oft so sehr von der der "normalen" Leute zu unterscheiden scheinen. Und es ist ein Unbehagen über die Demokratie, die nicht mehr in der Lage scheint, die Politik ausreichend zu legitimieren. Eine ganze Menge Schein, eine ganze Menge Konjunktive. Sie brechen die Selbstverständlichkeiten und Normen auf, die unseren Alltag für gewöhnlich strukturieren, und zwingen uns, uns den Fragen einer Extremsituation zu stellen.

Ist es etwa absurd, "jedem Menschen, so fremd er auch sein mag, offen und herzlich begegnen zu wollen"? Steht uns hier die Biologie wirklich im Wege, wie Stefan Pietsch postuliert? Ich bin kein Anhänger eines biologischen Determinismus. Wir sind kopfgesteuert genug dass es uns möglich ist, unsere Instinkte gegen das Fremde zu unterdrücken und eine Willkommenskultur bewusst und aus eigenem Willen zu gestalten. Wir haben im September genau das am Bahnhof in München und anderswo sehen können. Hierfür braucht es Gruppendynamik, Vorbilder und Signale. Die euphorische Berichterstattung in vielen Medien und die Äußerungen von Kanzlerin und einzelnen Ministern lieferte genau dieses.

Die vorsichtige Formulierung zeigt bereits, dass dies keine allgemeine Erscheinung war. Besonders die FAZ tat und tut sich als kritisch-pessimistisches Bollwerk gegen die Willkommenskultur hervor, und die CSU, Thomas de Mazière und die AfD bieten in den Reihen der Politik innerhalb wie außerhalb von Koalition und Parlament Kritik am Vorgehen (und das übrigens, ohne dass irgendeiner der Beteiligten deswegen gleich Rassist ist). Die Behauptung, dass gegen den (tatsächlich flüchtlingsfreundlichen) Mainstream kein Kraut gewachsen sei und kein Raum bestehe ist schlicht unwahr. Die Stilisierung zu Opfern einer Meinungsdiktatur steht diesen Pessimisten schlecht, denn sie ist offensichtlich unwahr. Es lohnt sich an dieser Stelle einmal mehr darauf hinzuweisen, dass Meinungsfreiheit nicht Freiheit vor Kritik bedeutet und genausowenig eine Garantie, dass jemand diese Meinung hören will. Es ist die Freiheit, sie auszusprechen, und die wird in Deutschland niemand genommen. Auch ist es jederzeit möglich, die Parteien abzuwählen, die sich diese Politik auf die Fahnen geschrieben haben. Bislang sind die Umfrageverluste der CDU moderat, SPD und Grüne bleiben konstant und die AfD gewinnt etwas. Die Landtagswahlen 2016 werden im Spiegel der Krise zeigen, wie viele Menschen ernsthaft erregt genug sind, um ihren Forderungen elektoralen Nachdruck zu verleihen.

Gleichzeitig sollen die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, nicht klein geredet werden. Der Zuwachs einer Million neuer schwer in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integrierbarer Menschen, die zu weiten Teilen weder Deutsch noch Englisch sprechen, ist keine leichte Aufgabe. Dass die Bürokratie an dieser Aufgabe scheitert, ist nachvollziehbar, denn sie ist für diese Zahlen schlicht nicht ausgelegt. Das Unternehmen, das einen fünf- bis sechsfachen Anstieg der Aufträge einfach so bedienen kann existiert schließlich auch nicht. Die Flüchtlingskrise ist eine genuine Krise, nicht, weil sie für Deutschland so gefährlich ist, sondern weil sie eine "schwierige Situation, den Höhe- und Wendepunkt einer Situation darstellt" (Duden). Es spricht eher für uns, dass wir keine leerstehenden Wohnungen für eine Million Leute haben, denn das ist Ausdruck für die relative Gesundheit Deutschlands, die sich im Spiegel der Krise offenbart. Auch gibt es, wenig überraschend, nicht genügend Lehrer für Deutsch als Fremdsprache. Das liegt daran, dass bislang nur ein bescheidener Bedarf dafür bestand. Auch die Verwaltungsstrukturen für riesige Flüchtlingscamps und ihre entsprechende Verteilung fehlten bislang, weil der Bedarf fehlte. Dies muss nun innerhalb kurzer Zeit gestemmt werden. Und um mit Angela Merkel zu sprechen: wir können das auch schaffen.

An dieser Stelle muss man auch als Vertreter der Willkommenskultur ehrlich genug sein, um zu sagen: Ja, wir schaffen das. Aber es wird weder einfach noch billig. Aber für so etwas hat man einen Staat. Für solche Krisen hat man Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet. Und auch wenn ich fast - fast - Mitleid mit Wolfgang Schäuble und seiner dahinschwindenden schwarzen Null habe, so werden wir doch nur auf ein Niveau zurückrutschen, das wir bereits gut kennen. Und ja, am ehrlichsten wäre natürlich eine Steuererhöhung, vielleicht in Form einer einmaligen Solidaritätsabgabe (selbst eine einmalige Abgabe von 1% des Bruttogehalts, die niemand spürt, würde 171 Millionen bringen, mit denen man etwas finanzieren kann). Das ist im aktuellen politischen Klima aber kaum vorstellbar. Der deutsche Staatshaushalt wird so eben das Äquivalent einer leichten Rezession an zusätzlichen Sozialausgaben verkraften müssen, aber glücklicherweise ohne den einhergehenden gleichzeitigen Verlust von Steuereinnahmen durch wegfallende Arbeitsplätze und Produktion. Das wird nicht ohne Reibungen abgehen und nicht billig sein, aber wer behauptet, es sei unmöglich, muss sich einen Alarmisten schelten lassen. Deutschland kann das schaffen.

Werden wir dann, wie manche Optimisten verkünden, binnen kurzer Zeit eine Million motivierter Fachkräfte haben, die nach kurzem Zusatzstudium an die Werkbänke der Republik strömen? Das dürfte eher unwahrscheinlich sein. Stattdessen werden wir wohl Kurse anbieten müssen, werden desillusionierte Flüchtlingen haben, die in Apathie versinken oder in die Kriminalität abrutschen. Das ist nur zu erwarten und kann angesichts der Monumentalität der Unternehmung und der mangelnden Einrichtungen auch kaum anders sein. Aber es wird auch Erfolgsgeschichten geben, Flüchtlinge, die Deutsch lernen, die Ausbildungen machen und, ja, die Ingenieure werden und die Autos der nächsten Generation bei Daimler und VW mitentwerfen, oder vielleicht zumindest einen sauberen Motor. Und es wird eine große Menge geben, die in schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs ein karges Auskommen fristet, und das auch nur, wenn die Integrationsmaßnahmen vorher Erfolg hatten. All das ist absehbar, all das ist ist kaum vermeidlich, aber wir haben Einfluss auf die Relationen. Werden wir viele Gewinner haben, oder viele Verlierer? Es hängt von der Qualität der Lösungen ab, die die Bürokratie findet, und an der Bereitschaft der Politik, diese Maßnahmen zu finanzieren.

Stellt sich natürlich die Frage, warum man das Geld überhaupt investieren soll. Was gehen uns schließlich die Flüchtlinge an? Auch hier hält uns die Flüchtlingskrise einen Spiegel vor. Es ist zwar Mode geworden, auf "Gutmenschen" zu schimpfen und verächtlich über die "moralisierende Weltmacht" BRD zu reden, aber tatsächlich handelt es sich vor allem um eine moralische Frage. Warum sollten wir die Flüchtlinge aufnehmen? Weil wir es können. Im Gegensatz zum Libanon und zu Jordanien können wir es wirklich und müssen es nicht. Wir haben keine rechtliche Verpflichtung, alle diese Flüchtlinge aufnehmen. Wir könnten uns wie in Griechenland hinter einem Wall aus Paragraphen verschanzen, die Grenze mit Zäunen, Mauern und Wachen verschließen und auf die Einhaltung von Dublin-II pochen, während wir uns gleichzeitig von Verfassungsjuristen erklären lassen, dass der Asyl-Paragraph im Grundgesetz für solche Menschenmengen ja nie wirklich ausgelegt war. Die Bilder von im Winterregen frierenden Flüchtlingen könnten wir genausogut ignorieren wie die Nachrichten von im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen in den letzten Jahren auch. Aber genau das tun wir nicht. Die Mehrheit in Deutschland - und es ist eine Mehrheit, egal was FAZ und Pegida auch sagen mögen - hat sich für die Moral entschieden, für die Aufnahme. Vielleicht nicht völlig selbstlos, denn natürlich gefallen wir uns im Spiegel als "gute Deutsche" posierend, aber wir haben es getan.

"Never let a good crisis go to waste" heißt es, nur halb scherzend, in dem bekannten Sprichwort. Deutschland steht tatsächlich gerade an einem Entscheidungspunkt. Die alte Frage, ob wir ein Einwanderungsland sind, und was das eigentlich konkret bedeutet, schwemmt wieder an die Oberfläche. Der Spiegel der Flüchtlingskrise gibt jedem, der in ihn hineinblickt - und wer kann das bei der Polarisierung gerade vermeiden? - einen mindestens ebenso tiefen Einblick in seine eigenen Ansichten, Vorstellungen und Wünsche wie in die der Flüchtlinge. Wenn ich hineinsehe, sehe ich weder den Berufsoptimismus mancher noch den Berufpessimismus manch anderer. Nach zehn Jahren Merkel-Kanzlerschaft falte ich zum ersten Mal die Hände zur Raute und stimme ihr zu. Wir können das schaffen. Nicht: Wir werden das schaffen. Nicht: Es wird blühende Landschaften geben. Es ist eine prototypische Merkel-Aussage, allem sie umgebenden Grandeur zum Trotz. Wir können. Es gibt keinen Automatismus, keine Garantie. Aber wir können.

Dienstag, 17. November 2015

Kurdistan unterm Bus

Jeder, der nicht gerade für die Präsidentschaftskandidatur der Republicans kandidiert, wird der Aussage zustimmen, dass der Mittlere Osten ein hochkomplexes Beziehungsgefüge ist, in dem einfache Lösungen kaum zu finden sind. Vor einem Jahr beschrieb ich, dass es sich bei ISIS effektiv um einen Hype handelt und dass die Terrormiliz sich nur ziemlich gut darauf versteht, politische Vakuums zu erkennen und in diese vorzustoßen. Ernsthafter Widerstand, wie er ihnen etwa von der Armee Assads oder den YPG-Einheiten der kurdischen Peshmerga entgegengebracht wird, wird von ihnen kaum überwunden. Die Kurden sind sogar, unterstützt von Luftschlägen der US Air Force, in die Offensive gegangen und haben die syrische Grenzstadt Tal Abyad sowie die irakische Region Sinjar erobert, was die syrische ISIS logistisch von ihrem irakischen Ableger trennt und den schmerzhaft in den lukrativen Ölschmuggel einschneidet. Gleichzeitig debattieren die NATO-Länder ständig um den sprichwörtlichen elephant in the room herum, dass niemand Bodentruppen in die Region entsenden will. Warum also verbündet man sich nicht stärker mit den Kurden?

Auf den ersten Blick macht das eine ganze Menge Sinn. Die Kurden kommen dem, was man im Mittleren Osten als good guys bezeichnen könnte, noch am nähesten, auch wenn sich jedem türkischen Innenminister bei dem Gedanken sofort die Zehennägel kräuseln - hielt die kurdische Terrororganisation PKK das Land doch zwischen 1978 und 2012 unter permanenter Anspannung. Die Kurden, die mehrheitlich dem sunnitischen Islam anhängen, haben sich gleichwohl von ihren Glaubensbrüdern in der Region deutlich distanziert und pflegen genau den moderaten Islam, der hierzulande immer als Integrationsvoraussetzung formuliert wird. Angesichts des Vormarsches radikaler Terrorgruppen haben sie in den kurdischen Autonomiegebieten die rechtliche Gleichstellung der Frau weiter vorangetrieben als fast jedes andere muslimische Land, und sie sind in ihrer gesamten Wertehaltung und ihrem Lebensstil westlich geprägt und neigen diesem auch politisch zu. Warum also unterstützt man nicht die Kurden?

Der Schlüssel liegt in dem vorher gebrauchten Begriff von den "Autonomiegebieten". Die Kurden besitzen nämlich keinen eigenen Staat. Stattdessen ist die zwischen 20 und 30 Millionen Köpfe zählende Volksgruppe über die Türkei, Syrien, den Irak, Armenien und den Iran verteilt. Und keines dieser Länder hat ein Interesse daran, Land und Bevölkerung an einen neuen Rivalen zu verlieren, und ein Rivale wäre dieses Kurdistan zweifellos. Während der Irak und Syrien sich inzwischen der normativen Kraft des Faktischen kaum mehr entziehen können, weil die Kurden hier praktisch bereits autonom sind und es keine Zentralregierung mehr gibt, die stark genug wäre, ihnen diesen Status zu entreißen, sieht die Lage in der Türkei ganz anders aus. Aber selbst wenn man die Türkei erst einmal für einen Absatz aus der Rechnung entfernt, ist die Lage für die Kurden nicht sonderlich rosig.

Zwar arbeiten sie gerade mit den Amerikanern zusammen. Aber die USA dürften kein großes Interesse daran haben, die Kurden aus dem Irak herauszulösen. Irak hat ohnehin eine mehrheitlich schiitische Bevölkerung (rund 60%), und wenn die Kurden (rund 18%) den Staat verließen, wäre der Irak nur noch ein hilfloser Teil der Schia-Achse, die sich von Libanon über Syrien und Irak nach Iran erstreckt und politisch auf Teheran ausgerichtet ist. Ein Irak, der kaum mehr als ein Satellitenstaat Teherans wäre, ein Syrien, das wechselseitig Teheran und Moskau verpflichtet ist und der Libanon, dessen mächtige Hisbollah-Miliz immer noch aus Iran finanziert wird - ein geopolitischer Albtraum für Washington. Und Syrien hat gerade Unterstützung aus Russland erhalten, das es zum Ziel erklärt hat, Assad als Herrscher des ganzen Syrien zu restituieren. Alle kurzfristigen Erfolge der Peshmerga können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Zweifel wenig gegen die vereinte Stärke von Assad und Putin ausrichten kann.

Aber dann ist da noch die Türkei. Die ist nicht nur kein Gegner der USA (wie Syrien) oder ein effektives Protektorat (wie Irak), sondern eine souveräne Nation und, entscheidend, NATO-Mitglied. Und während ein westlich orientiertes Kurdistan alle möglichen strategischen Vorteile brächte, so wiegen keine davon den Verlust der Türkei auf. Und Präsident Erdogan hat bisher wenig Zweifel daran gelassen, was er von der Idee eines unabhängigen Kurdistan hält: Nichts. Mehr noch, er hat - trotz Terroranschläge innerhalb der Türkei - auffallend wenig unternommen, um in den Bürgerkrieg jenseits seiner Grenzen einzugreifen oder gegen den IS vorzugehen. Stattdessen versucht er aktiv, einen ethnischen Sperrgürtel zwischen die in der Türkei lebenden Kurden und die Kurden des Iraks und Syriens zu ziehen. Gleichzeitig bombardiert die türkische Luftwaffe kaum verhohlen unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung kurdische Stellungen und finden Öl und Waffen für den IS auffallend einfach ihren Weg über die türkische Grenze.

Obwohl die Peshmerga gegen den IS 2015 so große Erfolge feiern konnte wie kein anderer Kriegsteilnehmer, stellt das Jahr für sie gleichzeitig auch einen großen strategischen Rückschlag dar. Denn die Flüchtlingskrise, die Europa gerade in Atem hält, ist eine Katastrophe für die Kurden. Europa ist normalerweise nicht so sehr wie die USA in das great game der Geopolitik eingebunden und würde vielleicht den strategischen Wert der Türkei etwas niedriger hängen. Aber die Flüchtlingskrise macht Erdogan zu einem gefragten Gesprächspartner, denn er ist der einzige, der den ständigen Zustrom stoppen kann - indem er seine Grenzen sichert, was er bislang kaum tut, solange die Flüchtlinge nur weiter ziehen. Entsprechend stehen die Europäer gerade als Bittsteller vor der Tür, und Erdogan wird sich seine Kooperation teuer bezahlen lassen - in harten Euros sicherlich, aber vermutlich auch auf anderem Gebiet.

Die militärische Hilfe der Türkei ist genug für die USA, die polizeiliche Hilfe gegen Flüchtlinge ist genug für Europa. In keinem dieser Abkommen ist Platz für ein freies Kurdistan. Es sollte daher niemanden überraschen, wenn die Kurden letztlich vom Westen unter den Bus geworfen werden - ein Opfer für größere Ziele, das man leicht zu bringen bereit ist. Wer weiß schon etwas über die Kurden oder kümmert sich um ihr Schicksal?

Mittwoch, 4. November 2015

Die Debatten-Debatte

Vergangene Woche fand beim Spartensender CNBC die dritte Debatte der Republicans statt. Praktisch alle Beobachter von links bis rechts waren sich einig, dass die Debatte ein Desaster war. Nur in dem Grund dafür fallen die Meinungen auseinander. Kritisiert wurde, dass die Moderatoren sehr unvorbereitet schienen und häufiger ihre Daten und Fakten nicht parat zu haben schienen. Zudem gelang es ihnen kaum, die Kandidaten in Griff zu bekommen, die häufig auf alle möglichen Fragen antworteten, nur nicht auf die, die ihnen gerade gestellt worden war. Während das in einem gewissen Rahmen bei jeder Debatte der Fall ist, nahm es bei CNBC ziemlich überhand.
Ein gutes Beispiel ist die - zugegebenermaßen nicht gerade originelle - Eröffnungsfrage: da sich die Kandidaten ja quasi beim amerikanischen Volk bewerben würden, stelle man ihnen die typische Bewerbungsgesprächfrage: Was ist Ihre größte Schwäche? Nur Trump gab darauf eine echte Antwort ("Ich vertraue zu schnell"), alle anderen wichen mehr oder weniger elegant aus. Ben Carson ist auch hierfür typisch: "Meine größte Schwäche ist, dass ich mich nicht schon vorher als Präsident gesehen habe." Was für eine Schwäche das sein soll? Keine Ahnung. Warum immer wieder behauptet wird, Carson sei bescheiden? Es bleibt unerklärlich. Doch schnell wurde es für die Kandidaten ungemütlich, denn CNBC stellte die bislang substanziellsten Fragen an sie.


Das überrascht nicht, denn der Sender ist gewissermaßen der Haussender der Wallstreet und spezialisiert sich auf Wirtschafts- und Finanznachrichten. Als solcher steht er auch den Republicans recht nahe. Umso überraschender ist, wie unvorbereitet die Kandidaten auf die Fragen waren - und wie unvorbereitet die Moderatoren auf die Strategie eben dieser Kandidaten dem auszuweichen. Denn in der CNBC-Debatte zeigte sich die neue Strategie der Republicans von ihrer offensichtlichsten Seite: das direkte Lügen in die Kamera. So wurde etwa Donald Trump gefragt, warum er Marco Rubio als "persönlichen Senator von Mark Zuckerberg" beschimpfte (Rubio hatte sich für besondere Visa für High-Tech-Arbeiter ausgesprochen, genauso wie Facebook-Chef Zuckerberg). Trumps Antwort war, dass er das nie gesagt habe. Moderatorin Becky Quick war davon sichtlich verwirrt: "Wo habe ich das gelesen...?" dachte sie laut nach, worauf Trump nur nachlegte: "Vielleicht...ich meine, ihr Leute schreibt dieses Zeug." Quick nutzte eine Werbepause um nachzurecherchieren. Das Statement fand sich an prominenter Stelle auf Trumps eigener Homepage.


Nun ist es natürlich möglich, dass Trump einfach nur vergessen hat, dass er dieses Statement getroffen hat. Es zeigt sich aber gleichzeitig auch, wie gut diese Strategie im Allgemeinen funktioniert, denn selten können die Moderatoren kurz eine Aussage nachprüfen. Und was die Fact-Checker am nächsten Tag verkünden bekommt kaum jemand mit. Ben Carson nutzte dieselbe Strategie: auf seine Verwicklungen mit dem umstrittenen Konzern Manatech angesprochen, erklärte er rundheraus, nie mit dem Konzern zusammengearbeitet zu haben. Auf Nachfrage erklärte er, einige bezahlte Reden gehalten zu haben, aber das tue er für viele und das könne ja kaum als Zusammenarbeit gelten. Als die Moderatoren erklärten, dass er prominent auf der Mannatech-Homepage abgebildet sei, mitsamt deren Logo, erklärte Carson, nichts davon zu wissen und dass Manatech das wohl ohne seine Zustimmung getan habe. Die Plausibilität dieses Arguments ist, höflich gesagt, etwas dünn. Die Moderatoren zeigten sich angesichts dieser blanken Verleugnung jedoch völlig überfordert und wurden durch ein buhendes Publikum, das Carson als Bestätigung seiner Antwort hernahm, zum Schweigen verdonnert.


Die Applauszeile des Abends aber gebührte Ted Cruz. Da wenige Tage vor der Debatte ein neuer Haushaltsplan im Kongress verabschiedet worden war, machte es nur Sinn, ihn, der vorherige Abmachungen dieser Art durch einen Filibuster verhindern wollte, danach zu fragen. Moderator Carl Quintilla fragte:“Congressional Republicans, Democrats and the White House are about to strike a compromise that would raise the debt limit, prevent a government shutdown and calm financial markets that fear another Washington-created crisis is on the way. Does your opposition to it show that you’re not the kind of problem solver American voters want?” Cruz verweigerte die Antwort völlig und griff stattdessen die Moderatoren direkt an: "The questions that have been asked so far in this debate illustrate why the American people don’t trust the media. This is not a cage match. And you look at the questions: ‘Donald Trump, are you a comic book villain?,’ ‘Ben Carson, can you do math?,’ ‘John Kasich, will you insult two people over here?,’ ‘Marco Rubio, why don’t you resign?,’ ‘Jeb Bush, why have your numbers fallen? How about talking about the substantive issues people care about?”


Damit eröffnete Cruz das, was in den amerikanischen Medien gerne als Debatten-Debatte bezeichnet wird: Ist das derzeitige Debattenformat schlecht, und sind die Fragen unfair? Ezra Klein hat sich die Mühe gemacht, die ersten sechs Fragen in allen bisherigen vier Debatten (inklusive der CNN-Debatte der Democrats) zu vergleichen und kommt zu dem Schluss, dass die Fragen von CNBC tatsächlich die substanziellsten (und damit anspruchsvollsten) waren, jedoch nicht aggressiver als etwa die von FOX News. Er arbeitete jedoch heraus, dass sowohl FOX als auch in etwas geringerem Umfang CNN ihre aggressiven Fragen ("Gotcha-Fragen") aus dem Sichtpunkt der republikanischen Partei stellten, während CNBC einen deutlich kritischeren Standpunkt einnahm. Nun ist das natürlich eigentlich zu erwarten. Der Sinn der Debatten ist es ja gerade, Schwachpunkte bei den Kandidaten herauszufinden und nicht, sie vor großem Publikum ihre Wahlkampfreden halten zu lassen.


Genau das aber gaben die Kandidaten als neues Ziel aus. Vertreter aller Kandidaten trafen sich nach der Debatte, um einen Forderungskatalog auszuarbeiten, der den TV-Sendern für die anderen Debatten vorgelegt werden sollte. Gleichzeitig sagte der RNC eine im Frühjahr geplante Debatte beim Sender NBC ab. CNBC ist ein Tochtersender von NBC, und der RNC unter seinem unglücklich agierenden Chef Reince Priebus versuchte so, Stärke zu demonstrieren. Interessanter als diese Absage (die übrigens nicht ohne Präzedenzfall ist, die Democrats sagten 2007 eine Debatte bei FOX unter ähnlichen Umständen ab) ist jedoch das Verhalten der Kandidaten. Nachdem sie sich auf der Bühne alle hinter dem Cruz'schen Ductus der ehrlichen Empörung versammelt hatten, so unfair von den Medien behandelt zu werden, bröckelte ihre Einheit über das Wochenende bereits wieder.


Denn während zwar alle Kandidaten versuchen, sich mit übersteigerter Kritik an den Medien zu profilieren (eine Diskussion, die viele Ähnlichkeiten zur deutschen "Lügenpresse"-Kritik aufweist), sind sie immer noch in einem harten Wahlkampf gegeneinander, in dem sich ihre Interessen nicht gerade überlappen. Unter der Führung von Ben Carson hatten sich einige andere Kandidaten (vor allem vom Kid's Table, etwa Bobby Jindal und Lindsay Graham) aufgemacht und einen offenen Brief an die TV-Sender mit einer Reihe von Forderungen verfasst. Ein großer Teil davon befasste sich mit organistorischen Dingen (die Temperatur in der Halle, die Verfügbarkeit von Toiletten, etc.), aber einige Forderungen waren deutlich substanziellerer Natur. So verbitten sich die Kandidaten fortan Fragen, auf die sie die Hand heben sollten (diese sind häufig peinlich für alle Beteiligten, wie als sie 2012 alle per Handsignal erklärten, selbst dann nicht die Steuern um einen Dollar erhöhen zu wollen, wenn dem 10 Dollar in Kürzungen gegenüberstünden) oder Fragen, auf diese nur mit "Ja" oder "Nein" antworten dürfen.


Carson und seine Verbündeten gingen aber wesentlich weiter, weswegen die meisten anderen Kandidaten - allen voran Trump, aber auch Rubio, Bush, Cruz und Kasich - inzwischen erklärt haben, den Brief nicht zu unterzeichnen. Carson wollte nämlich nicht nur, dass künftig nur radikalkonservative Moderatoren die Debatten leiten dürfen (etwa Rush Limbaugh) sondern auch, dass die Eröffnungs- und Schlussstatements der Kandidaten bis zu fünf Minuten dauern sollen, ununterbrochen - das macht bei zehn Kandidaten 100 Minuten. Da die Debatte selbst nur 120 Minuten dauern soll, inklusive Werbeunterbrechung, würde Carsons Forderung darauf hinauslaufen, die Debatte vollkommen abzuschaffen. Damit legt die Debatten-Debatte auch die inneren Widersprüche von Carsons Kandidatur offen. Kritische Nachfragen wie die nach der Funktionsfähigkeit seines Steuerplans, der an Komplexität und Plausibilität kaum Herman Cains 9-9-9-Plan übertrifft, wie bei CNBS erneut deutlich wurde, oder Mannatech sind für Carson gefährlich. Seine ungebrochen hohe Zustimmung basiert vor allem darauf, dass man wenig über ihn weiß. Sein persönliches Charisma und seine Lebensgeschichte sind die ganze Basis einer Kandidatur, die mehr und mehr nach einem reinen Business-Unternehmen aussieht.


Trump, Cruz und Rubio dagegen leben davon, starke Momente in der Debatte selbst zu haben. Dazu kommt, dass eine von Limbaugh moderierte Debatte die Kandidaten allesamt so weit nach rechts drücken würde, dass die general election ein Albtraum würde. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Carson mit seinen Forderungen durchdringen wird. Die Frage ist nur, ob seine Konkurrenten es den ostentativ verhassten Medien überlassen, den Darling der Evangelikalen zu demontieren oder ob sie nachhelfen. Trump hat bisher erstaunliche Zurückhaltung im Falle Carson bewiesen und konzentriert seine Energie vor allem auf Rubio. Meine Vermutung wäre, dass es die anderen Kandidaten ähnlich halten werden, denn Kasichs Versuch vor und während der CNBC-Debatte, den programmatischen Irrsinn Carsons direkt zu attackieren, ging eher nach hinten los.


Die Debatten-Debatte offenbart aber auch noch etwas anderes über den gesamten Wahlkampf. Konnte man bisher annehmen dass es normal sei, dass die Kandidaten auf ihre Schwächen hin abgeklopft werden und dass ein zentrales Evalutionsinstrument ihr Umgang damit wäre - eine Ansicht, die sich in der CNBC-Eröffnungsfrage nach ihren Schwächen direkt ausdrückt - so versuchen die Republicans, die ganze Debatte als reine Wahlkampfplattform zu nutzen und nur ihre Stärken zur Schau zu stellen. Dies ist natürlich kurzfristig von Vorteil, kann aber auch mittelfristig und langfristig schwere Nachteile mit sich bringen. So ist Obamas Reaktion auf die Debatte mehr als zutreffend, selbst wenn er natürlich die Gelegenheit nutzt, einige Punkte zu kassieren: "Every one of these candidates says, 'Obama's weak, Putin's kicking sand in his face. When I talk to Putin, he's going to straighten out. And then it turns out, they can't handle a bunch of CNBC moderators. If you can't handle those guys, I don't think the Chinese and the Russians are going to be too worried about you."


Je offensichtlicher es wird, dass die Republicans unangenehmen Fragen ausweichen wollen, desto schwächer erscheinen sie gegenüber Hillary Clinton, die gerade erst einen 11-Stunden-Marathon einer mehr als parteiischen und unfairen Befragung im Kongress ohne Fehler hinter sich gebracht hat. Für die general election verheißt das nichts Gutes - und erst Recht nicht, sollte einer der republikanischen Kandidaten tatsächlich der nächste Präsident werden. Weder Clinton und ihr Wahlkampfteam noch die Verhandlungspartner Amerikas werden dieselben Samthandschuhe anziehen, die die Republicans gerade für sich verlangen. Als Bewerbungsschreiben um das Amt der mächtigsten Person der Welt ist das nicht gerade ein positives Zeichen.