Es gibt zahllose Felder aus denen ersichtlich wird, dass in den Kultusministerien "Neue Medien" eher als eine kleine methodische Auflockerung, vielleicht gar als ein zweistündiger Methodenschwerpunkt zu Anfang oder Ende des Schuljahrs gesehen werden. Doch diese Passivität gegenüber der Wandlung des kompletten Bildungsbegriffs, der uns ins Haus steht, erstreckt sich nicht nur auf den Methodenteil, wo immer noch viel zu sehr davon ausgegangen wird, dass die OHP-Folie das höchste an medialer Unterstützung ist, was ein Lehrer so gebrauchen kann. Auch in den Bildungsplänen ist eine erschreckende Ignoranz gegenüber medialen Formen zu erkennen. Ich will dies an zwei Beispielen konkret machen: Videospiele und TV-Serien.
Beide finden in der schulischen Welt überhaupt nicht statt, werden eher als frivole Freizeitaktivitäten gesehen, die Zeit von den seriösen Schultätigkeiten abziehen. Der Beschäftigung mit Goethe, Schiller und den Regeln der deutschen Grammatik also. Denn ist das eherne Gesetz aller selbst ernannten Verteidiger von Bildung und Kultur, dass nur ernstgenommen werden kann, was keinen Spaß macht.
Ich weiß dass das überzogen klingt, und natürlich ist es wenigstens in Teilen eine Zuspitzung. Der Bildungsplan enthält ja als einen von vielen Stichpunkten unter "ferner liefen" (nicht abirelevant und daher meist unter den Tisch fallend) auch den Punkt "Filmanalyse". Und wenn man das wenige didaktische Material dazu anschaut, dürfen die Schüler dann auch anhand klassischer Komödien aus den 1970er und 1980er Jahren lernen, welche verschiedenen Kameraeinstellungen es so gibt.
Aber letztlich läuft es darauf hinaus, dass es sich um Nebenaktivitäten handelt, die mehr zähneknirschend aufgenommen wurden, weil es halt der Vollständigkeit halber hineinmuss. Die Vermittlung des klassischen bildungsbürgerlichen Kanons spielt immer noch die erste (und zweite, und dritte) Geige. Ich erinnere mich noch, dass ich während des Referendariats in einer Diskussion um den Nutzen des Lesens von Klassikern im Unterricht verschnupft von der Ausbilderin gebeten wurde, doch noch einmal zu reflektieren, warum ich Deutsch unterrichten wolle, weil ich der Lektüre klassischer Dramen nicht die gebührende Referenz erwies.
Für mich ist es wichtig, dass die Schüler die Möglichkeit bekommen, das ganze theoretische Wissen um Leitmotive, Charakterentwicklung, Dialoganalyse etc. auch praktisch anzuwenden. Und man mag zwar im Philologenverband immer noch dem Leitbild des Matura-Schülers anhängen, der in der väterlichen Bibliothek in seiner Freizeit (Tweetjacket tragend) den ledergebundenen Goethe aufschlägt, aber das geht an der Realität völlig vorbei.
Der mit Abstand größte Kontakt, den die meisten Leute mit Erzählungen haben, ist nicht das gedruckte Buch. Und ich schreibe hier bewusst nicht "Jugendliche" oder "Schüler", denn ist ja nicht gerade so, als ob das später schlagartig besser wäre, nur weil die Leute älter sind. Nein, den meisten Narrativen begegnene die Menschen heute im Fernsehen, und hier zunehmend in Form lang laufender Dramenserien, sowie in Videospielen (noch immer mit stark männlicher Schlagseite, aber das bessert sich langsam).
Es macht daher keinen Sinn, diese "neuen Medien" (die neu zu nennen nach über 30 Jahren auch nur die Berufsneanderthaler fertigbringen) im Unterricht nur als winzigen Nebenaspekt vorkommen zu lassen. Der ständige Bildungssnobismus hat zwar mittlerweile für einige wenige, ausgewählte Filme einen Weg an die Randzone des Bildungskanons erlaubt (Hitchcock!), aber Serien kommen überhaupt nicht vor, und neuere Produkte überwiegend auch nicht. Videospiele, auf der anderen Seite, werden scheinbar nicht einmal als erzählendes Medium wahrgenommen.
Das ist deswegen ein Problem, weil wie zwar in der Schule durchaus erfolgreich Fähigkeiten der Literaturanalyse vermitteln, dieses Wissen aber habituell auf die Klassiker beschränkt bliebt - die kein Schüler je freiwillig in die Hand nimmt (Ausnahme immer der geneigte Leser dieses Artikels, versteht sich). Zuverlässig sind zwei Fragen, die ich jedes Schuljahr bekomme, ob ich die Dinger denn in meiner Freizeit selbst lesen würde und ob irgendjemand die zur Zeit des Autors freiwillig gelesen habe. Es ist völlige Verschwendung, Schülern Methodenwissen an die Hand zu geben, das diese danach nicht wieder gebrauchen können.
Dabei ist das vermittelte Methodenwissen überaus wertvoll, denn es kann Anwendung in den Bereichen finden, in denen die Schüler auch später noch Narrativen ausgesetzt sein werden. Und das sind nach Lage der Dinge Filme, TV-Serien und Videospiele.
Ich unterrichte bereits seit einigen Jahren vergleichsweise umfrangreich Filmanalyse im Rahmen des Deutsch-Unterrichts. Ich benutze zudem Filme gerne als Beispiele, um literarische Konzepte deutlich zu machen. Beides hat nichts mit zu geringen Ansprüchen an das fachliche Niveau zu tun. So eignet sich kaum etwas so sehr wie Filme, um den Unterschied zwischen "Was geschieht?" und "Worum geht es?" deutlich zu machen, also die Abgrenzung zwischen einer Inhaltsangabe und einer Interpretation.
Ein Beispiel: Im Film "The Avengers" geschieht, dass Loki sich eines mächtigen Artefakts versichert und im Bündnis mit einer außerirdischen Macht die Erde zu unterwerfen versucht, was ein Team von Superhelden verhindern muss. Es geht darum, dass man seine eigenen Egoismen und Vorurteile überwinden und lernen muss, im Team zu arbeiten.
"The Avengers" ist sicherlich nicht gerade hohe Kunst, aber es eignet sich beispielhaft, um Konzepte deutlich zu machen. Dafür brauche ich aber keine spezifischen Methoden oder Bildungsplaninhalte, das kann ich in einem kurzen Kommentar erklären. Viel relevanter ist, solcherart erworbenes Methodenwissen, das die Schüler im Allgemeinen auf "Faust" oder den "Steppenwolf" anwenden müssen, auch auf Filme oder TV-Serien anzuwenden. Das hat zwei Effekte.
Effekt 1 ist, dass die Schüler in die Lage versetzt werden, tiefere Bedeutungsebenen solcher Medien überhaupt zu erschließen. Ein von mir jährlich aufs Neue beobachteter Effekt ist, dass sie überhaupt nicht auf die Idee kommen, diese an klassischer Literatur erschlossenen Fähigkeiten auch auf andere Bereiche anzuwenden (das betrifft im Übrigen auch in der Freizeit konsumierte Belletristik). Das aber bedeutet häufig, dass die Schüler rein passive Konsumenten der jeweiligen Medien bleiben. Selbst bei vergleichsweise einfachen, massentauglichen Werken bleibt die Rezeption üblicherweise auf das Verständnis des Plots beschränkt.
Effekt 2 ist, dass die Schüler in die Lage versetzt werden, gute Werke von schlechten zu unterscheiden. Wie bei jedem anderen Unterhaltungsmedium auch - ob Bücher, Popmusik, Spiele - sind 90% aller veröffentlichten Produkte entweder schlecht oder harmlose Massenware, die keine höheren Ziele als reinen Eskapismus verfolgen. In der Lage zu sein, die restlichen 10% zu erkennen und als das zu genießen, was sie eigentlich sind, ist eine zweite wichtige Fähigkeit, die im Rahmen des normalen Unterrichts überhaupt nicht erschlossen wird, weil der immer auf absoluter Hochkultur beschränkt bleibt statt sich in die Niederungen der (anspruchsvollen) Popkultur zu begegeben.
Und das ist ein wichtiger Punkt: es geht nicht um Arthouse-Filme, Stummfilmklassiker oder solche Dinge. Ich rede von völlig normalen Blockbustern und Serienerfolgen. Aber es gibt eben einen Unterschied zwischen der neuesten Adam-Sandler-Komödie und "Star Wars: The Last Jedi". Es gibt einen Unterschied zwischen "Big Bang Theory" und "Breaking Bad".
Ich konnte den Erfolg dieser Maßnahmen letzte Woche live verfolgen. Ich war mit drei Klassen auf Exkursion im Kino (Star Wars: The Last Jedi, englische Originalversion), und wir haben den Film danach im Unterricht besprochen. Zwei der drei Klassen habe ich seit drei Jahren in Deutsch, die dritte gar nicht. Auf meine Frage, worum es ging (Antwort hier), konnte letztere keine Antwort geben. Die Idee, die im Deutschunterricht gelernten Fähigkeiten auf den Kinobesuch anzuwenden, kam ihnen gar nicht. Für sie bestand eine klare Trennung zwischen dem Kinobesuch - der fast schon unter Freizeit verbucht wurde - und Unterricht.
Die Klassen, mit denen ich das schon länger trainiere, konnten sofort diverse gute Antworten geben. Effektiv sahen sie einen anderen Film. (Ein ehemaliger Abiturient erzählte mir kürzlich, dass er und sein Freund seit der Besprechung im Unterricht keine schlechten Serien oder Filme mehr sehen könnten, ohne dass es ihnen sofort auffiele. Mission erfolgreich. :))
Noch wesentlich ausgeprägter sind die beschriebenen Effekte bei Videospielen. Das Medium ist jünger, und es richtet sich (noch) an ein jüngeres Zielpublikum, weswegen es noch seltener als Filme oder Serien in anspruchsvolles Territorium vorstößt. Die Idee, Videospiele überhaupt als narrative Medien zu begreifen - anstatt die erzählte Geschichte als rein verbindendes Element für die Gameplay-Sequenzen zu sehen - kommt den meisten Konsumenten gar nicht.
Effekt 1 ist daher häufig selbst bei bestem Willen schlicht nicht erreichbar. Effekt 2 dagegen ist umso gewichtiger.
Denn wie bei Filmen und Serien auch kann ein höheres Niveau nur dann erreicht werden, wenn die Konsumenten dies einfordern, und einfordern können sie es nur, wenn sie wissen, was ihnen bisher fehlt.
Die ständige bewusste Trennung zwischen komplexer, analysewürdiger Hochkultur auf der einen Seite, die für die meisten Schüler (und späteren Erwachsenen) untrennbar mit "Schule" verbunden wird, und der auf reinen eskapistischen Konsum ausgelegten Populärkultur auf der anderen Seite, die in der Schule allenfalls als Belohnung nach einer Klausur oder zum Zeittotschlagen vor den Ferien benutzt wird, zerstört jegliche Möglichkeit, Effekt 2 auf breiter Basis zu erreichen.
Es ist daher notwendig, dass sich die Schule diesen Werken ebenfalls annimmt und den Schülern eine völlig neue Welt der Rezeption von Popkultur öffnet. Dazu ist es auf der einen Seite nötig, die snobistischen Vorbehalte gegen die Popkultur loszuwerden. Das ist die Aufgabe der Lehrer. Dazu ist es auf der anderen Seite nötig, die Vorstellung loszuwerden, das in der Schule gelernte sei anrüchig und dürfe keinesfalls in die Freizeit vordringen. Das ist die Aufgabe der Schüler.
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