Sonntag, 24. Februar 2019

Arbeiter von Amazon wählen Bernie Sanders und verlegen Stockholm nach China, wo Deutsch gesprochen wird - Vermischtes 24.02.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Ein ganzes Land mit Stockholmsyndrom
Ah, richtig! Da ist diese in Deutschland offenbar nahezu quer durch die Parteienlandschaft als systemrelevant eingestufte Branche, deren Vertreter bis heute beklagen, es gebe keine ausreichenden "Innovationsanreize" für weniger umweltschädliche Antriebstechniken. Die aber extrem innovativ war, was die Entwicklung, den Einbau und die jahrelange Verschleierung von Betrugssystemen angeht. Weil sie nicht innovativ genug war, sich dem aktuellen Regulierungsumfeld anzupassen, hat sie ihr Versagen zu vertuschen versucht. Diese Branche hat ihren Käufern jahrelang in vollem Bewusstsein illegale Ware angedreht. Sie weigert sich bis heute, diesen Sachmangel vollständig auf ihre Kosten zu beseitigen. Ja, sie erlaubt sich sogar, ihre Kunden davor zu warnen, den Fehler von anderen reparieren zu lassen - das wäre nämlich ganz schlecht für die Garantie. Es ist, sorry, atemberaubend. Wie kann es sein, dass dieser gigantische Kriminalfall mit Millionen direkt und Abermillionen indirekt Geschädigten nicht das zentrale Thema ist? Wieso streiten Ärzte mit Forschern, Umweltorganisationen mit Politikern? Wieso gehen all die erbosten Dieselkäufer nicht in Wolfsburg oder Ingolstadt auf die Straße und beschimpfen die Täter? Ich kann mir das nur mit einer Kombination aus Stockholm-Syndrom und einem verwandten Konzept, der "post-purchase rationalisation" erklären. Letztere ist schnell erklärt - Details bietet das eingangs zitierte Buch: Wer etwas Unnötiges, zu Teures oder Fehlerhaftes gekauft hat, legt sich hinterher womöglich Begründungen zurecht, warum der Kauf trotzdem sinnvoll war. Um kognitive Dissonanz zu reduzieren, denn die ist unangenehm. Niemand gesteht sich gern einen Fehler ein. Im konkreten Fall: Es ist leichter, auf die Deutsche Umwelthilfe, Richter und die WHO sauer zu sein als auf den Automobilhersteller, dem man 30.000 oder 40.000 Euro für ein betrügerisches Produkt ausgehändigt hat. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Man muss es den Autokonzernen lassen: sie haben es hervorragend verstanden, die Schuld an dem ganzen Debakel auf die Politik abzuwälzen. Und die hat in panischer Schockstarre alle Schuld auf sich genommen, weil das als das kleinere Übel schien, die Konsequenzen ziehen zu müssen. Es ist ein Lehrstück darüber, wie wirtschaftlicher Einfluss auf die Politik tatsächlich funktioniert, jenseits der in manchen Kreisen gepflegten Idee von direkten Schmiergeldzahlungen oder Quid-pro-quo-Absprachen. Die Sache ist eigentlich viel banaler. Die Autobranche ist in Deutschland eine der stärksten überhaupt; hunderttausende Arbeitsplätze und Milliarden in Steuereinnahmen hängen daran. Jede Entscheidung, die diese beiden Faktoren betrifft, hat riesige Welleneffekte. Kein Wunder tritt die Politik hier lieber leichten Fußes auf und versetzt sich gerne in die Interessen der Branche; ähnlich läuft es etwa in Großbritannien mit der Finanzindustrie. Der Lobbyismus hat es hier leicht, weil eine Art "Selbstzensur" der Politik vorherrscht, aus völlig nachvollziehbaren und nicht einmal zwingend falschen Motiven. Den Aufschrei möchte man schließlich hören, wenn zweihunderttausend (gut bezahlte) Arbeitsplätze verloren gehen, weil abstrakte NO2-Grenzwerte nicht eingehalten werden. Aber, und das ist die Kehrseite dieser Medaille, deswegen muss man den Anfängen wehren. Das gilt einerseits für das Vermeiden der riesigen Abhängigkeiten, die man sich geschaffen hat, indem man seine gesamte Volkswirtschaft von der Autoindustrie abhängig macht (ich habe die Auswirkungen hier schon einmal beschrieben), und andererseits dafür, dass eine so offensichtlich mächtige Industrie, die sich nicht um die Regeln kümmern zu müssen glaubt, VORHER härter an die Kandare genommen werden muss. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist es zu spät. Die Aufsicht über die Tätigkeiten dieser Konzerne muss früher ansetzen, und dafür braucht es vernünftig ausgestattete und befähigte Behörden.

2) The myth of Bernie Sanders' working-class support
Their evidence is the persistent support Sanders amassed during his struggle against Clinton. But there is something eerily familiar about the pattern of Sanders’s support in 2016. Nate Silver, diving into the numbers, finds that about a quarter of Sanders voters were what he calls “Never Hillary” voters. They leaned conservative, and many of them voted for Donald Trump in the general election. Dan Hopkins found something similar in 2016. The Sanders vote closely matched other protest votes against the Democratic Party’s standard-bearer. Sanders cleaned up among the same voters in 2016 that Clinton herself won with eight years before. Both votes represented protests against the Democratic Party by voters who had either left the party or had never been in it in the first place. Sanders 2016, like Clinton 2008, ran up the score in the garbage time of the primary by winning voters who had no real attraction to them. How big a factor was the Never Hillary vote for Sanders? Pretty big. They made the difference in eight of the states he won, finds Silver. Without that protest vote, the entire narrative of Sanders as the rising voice of the party’s authentic base would never have taken hold. And that basic misreading of the data created the foundation for a flourishing socialist dream that the American white working class is poised to turn against neoliberalism if only presented with a pure and sharp enough critique. Ironically, Sanders supporters have made the same analytic error the Clinton fans made after 2008. They looked at their growing strength among the white working class and saw a future base they could pry away from the GOP, never realizing that the only reason those voters had ever supported them was that they had already lost. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Es ist noch wesentlich zu früh, um irgendwelche verlässlichen Prognosen über die Chancen einzelner Kandidaten 2020 zu machen. Es ist möglich, dass Bernie Sanders dieses Jahr deutlich schlechter abschneidet als 2016, es ist möglich dass er ähnlich gut ist (was ihm in diesem Feld einen deutlichen Vorsprung verschaffte) oder sogar dass er Favorit wird. Es ist aber gewinnbringend zu sehen, wo der eigentliche support liegt und welche Wurzeln er hat. Was Chait und Silver hier als "Never Hillary voters" beschrieben, ist ein ernstzunehmendes Phänomen. Die Republicans hatten so etwas ja auch. Wie viel Stimmen bekam Ted Cruz im Frühjahr 2016 nur dadurch, dass er halt nicht Trump war? Schwer zu sagen.
In diesem Zusammenhang wichtig ist auch, dass die Vorstellung, Sanders sei gewissermaßen ein Held der weißen blue-collar-Arbeiter, eher in den Bereich der Mythen einzuordnen ist. Das ist nicht grundsätzlich problematisch - ich halte die Fixierung auf diese Schicht ohnehin für eine fixe Idee und für den Wahlerfolg der Democrats sekundär -, aber es könnte zu einer Art Verrennen führen, die ironischerweise Hillarys Fehler von 2016 spiegelt: wo sie mit aller Macht versuchte, die weißen (vormals republikanischen) Vororte zu gewinnen (und weniger Erfolg als gewünscht zulasten der Mobilisierung der eigenen Basis hatte) könnte Sanders sich auf etwas einlassen, was bestenfalls ein Nullsummenspiel wird, und wo jedem weißen Arbeiter in Iowa, der für ihn stimmt, eine schwarze Frau in Virginia entgegensteht, die nicht zur Wahl geht.
Erneut: ich rede gerade nur in Hypothesen. Nichts davon muss eintreten. Es sind nur mögliche Gefahrenquellen, die man in die Betrachtung mit einbeziehen muss - und die von allzu simplen Narrativen à la "Bernie Sanders, working class candidate" überdeckt werden.

Some analysts have argued that Europe and, more specifically, the European Union should strive for some form of geopolitical equidistance in the context of a competitive international environment allegedly dominated by the United States and China, and should also strive for equidistance between those two and another great power that affects Europe directly: Russia. But is this even possible, let alone desirable? For starters, Russia may well constitute a more immediate and explicit threat to U.S. allies and interests in Europe. But it is not in a position to compete in the same global league as the United States or China. It is the Sino-American competition that is likely to provide most states and actors in the international system with the main compass when deciding how to align themselves, and Russia is not exempt from that dilemma. In fact, Russia is perhaps the one European power best positioned to operationalize a strategy of geopolitical equidistance between the United States and China, even if it now appears to be much closer to China. This is because of its equivocal relationship with the West — driven by ideological aversion and security considerations related to its immediate eastern European neighborhood — and its reservations about Chinese power, which poses a direct threat to Russian influence across Eurasia. It is hard to imagine how the European Union could strive for some form of geopolitical equidistance between the United States and China, not least because European integration is largely a by-product of U.S. power in Europe. American power and strategy played a key role in the genesis of the European Community through the Marshall Plan, support for the re-industrialization and re-militarization of West Germany, and the NATO security guarantee. And this is not just ancient history. The United States has also played a critical role in the configuration of today’s European Union, notably through its support of German reunification and eastern enlargement. Today, Central and Eastern European states form an integral part of the European Union, and most of them see their bilateral relationship with the United States as the foundation of their security and political autonomy. (Luis Simon, War on the Rocks)
Dieser lange Artikel ist in Gänze zur Lektüre anempfohlen, aber mir scheint besonders wichtig darauf hinzuweisen, dass die Idee, Europa könne sich irgendwie unabhängig von den USA positionieren, zum gegenwärtigen Zeitpunkt jeglicher Grundlage entbehrt. Weder gibt es ein sicherheitspolitisches Konzept, das ohne die NATO auskommt, noch hat die EU irgendwie die Institutionen und das politische Gewicht, um eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben. Von der wüsste auch niemand, wie sie überhaupt aussehen soll. Bislang definiert sich die außenpolitische Haltung der EU, so überhaupt eine existiert und diese nicht von den einzelnen Mitgliedstaaten verhackstückelt wird, stets komplementär zu der der USA, ob in Zustimmung oder moderierender Ablehnung.

4) Tweet von Steuermythen
Die Situation mit großen Konzernen wie Amazon ist nur noch albern. Während normale mittelständische Unternehmen das Rückgrat der Wirtschaft sind, ob in ihrer volkswirtschaftlichen Funktion oder als Steuerbasis, entziehen sich die Großkonzerne dank Heerscharen von Buchhaltern und Anwälten in ein weltweites, undurchsichtiges Netz aus Briefkastenregistrierungen, Steuersubventionen und Ähnlichem zurück. Das verzerrt den Wettbewerb zugunsten der Monopolisten, und in Amazons Fall auch noch zu einem wahren Netzwerk verschiedenster, integrierter Zweige. Man redet gerne von den Gefahren, die Google und Facebook mit sich bringen, aber der konsistenteste Risikofaktor ist viel mehr die Krake Amazon.

5) Governments of limited vice
The successful countries have regimes that also start from the premise of true human nature which is not virtuous (or at least is not virtuous all the time). They allow vice to flourish but limit its score, both physically (areas where it can be exercised) and “ideally” (activities where it can be done). They allow corruption but call it lobbying and ask that you register. They allow gambling but ask that casinos be located in big, imposing buildings, and that everybody be impeccably dressed and sober. They allow prostitution but ask that prostitutes issue bills and pay taxes. They allow stealing so long as it is done discreetly. But as soon as any one of these vices spills out of its confined area, governments of limited vice crack down on it with all their might. Vices thus never threaten to overwhelm the body public and to spread beyond acceptable limits. People continue functioning on a daily basis as upstanding members of community. Ostensible virtue is projected far and wide. But their actions at work, in family, or at night remain limited to those “acceptable” areas of vice and are never mentioned. They are thus not allowed to “contaminate” the rest. (Milan Brankovich, Global Inequality)
Die Idee eines "sweet spot" zwischen offener Korruption à la Russland und einem hehren, nie erfüllten Anspruch, ist grundsätzlich nicht doof. Die Schwierigkeit besteht natürlich darin, diesen "sweet spot" zu finden und zu halten. Denn wann genau der "limited vice" zu einem sehr grenzenlosen, schädlichen umschlägt, ist nicht sehr leicht zu sehen. Ironischerweise bietet gerade die katholische Kirche für Beides genug Anschauungsmaterial. Sie war schon immer sehr gut darin, die nach außen als absolut ausgegebenen moralischen Leitlinien für ihre Priester und Gläubigen in der täglichen Praxis mit genug Schlupflöchern zu versehen, vom Ave-Maria-Beten für kleine Sünden bis hin zur Stiftung zur Finanzierung von Unterhaltszahlungen von Priestern. Nur führt dieses System, das die Illusion intakt und das System am Laufen hält, halt auch aus einem falsch verstandenen Toleranzverhältnis zur Deckung sexuellen Missbrauchs. In der Schweiz etwa, die Brankovich hier als Beispiel nimmt, hat die Deckung von Steuerhinterziehung auch immer wieder ungesunde Züge angenommen, und spätestens beim Verstecken von Nazi-Gold und Verklappen jüdischen Eigentums muss man das "limited" vor dem "vice" schon streichen. Diese Balance zu wahren ist nicht gerade einfach, und dadurch, dass sie per definition nicht offen diskutiert werden darf, ist es noch schlimmer.

6) "Die moderne Firma ist eine Diktatur" (Interview mit Elizabeth Anderson)
ZEIT ONLINE: Warum ist davon so wenig geblieben?
Anderson: Die industrielle Revolution hat die Idee untergraben. Für Adam Smith als Vater des Wirtschaftsliberalismus war es noch unvorstellbar, dass es effizient sein könnte, bestimmte Waren im großen Stil und mit einer riesigen Armee abhängiger Arbeiter zu produzieren. Die Nadelfabrik, die er im Wohlstand der Nationen beschreibt, hat gerade einmal zehn Beschäftigte. Mit der Industrialisierung konzentrierte sich die Produktion in Großunternehmen, die wirtschaftliche Selbstständigkeit wurde damit für viele unerreichbar. Das hat sich allerdings nicht ausreichend in unseren politischen Diskursen abgebildet. Wir reden heute von freien Märkten wie zu Smiths Zeiten und übersehen dabei, was wirklich vor sich geht. Die politische Rhetorik kennt immer nur zwei Alternativen: den freien Markt und die staatliche Kontrolle. Die Firma kommt kaum vor. Dieses Bild verdeckt, dass die meisten Menschen einen Großteil ihrer wachen Stunden unter der Aufsicht dieser kleinen privaten Regierungen verbringen. [...]
ZEIT ONLINE: Ökonomisch geantwortet: Je mehr er mir bezahlt, desto mehr Macht darf mein Chef im Gegenzug über mich ausüben.
Anderson: Und warum beobachten wir dann das Gegenteil? Je mehr Macht Unternehmen über einen Mitarbeiter ausüben kann, desto schlechter ist im Prinzip auch die Bezahlung. Die Machtposition des Arbeitgebers drückt beides: den Lohn und die Freiheit der Angestellten. In der Praxis gibt es kein Entweder-oder.
ZEIT ONLINE: Wie würden Sie die Tyrannei am Arbeitsplatz eindämmen wollen?
Anderson: Für Amerika wäre es an der Zeit, etwas von Ihnen in Deutschland zu lernen. Eine Form gemeinsamen Managements von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wie im deutschen Modell der Mitbestimmung halte ich für sehr sinnvoll. (Zeit)
Die Demokratisierung der Wirtschaft, die Anderson hier anspricht, ist leider eine Idee, die das letzte Mal in den 1970er Jahren ernsthaft verfolgt wurde. Dabei ist sie aus mehreren Gründen ein hoch aktuelles Thema, dem man wieder etwas Aufmerksamkeit schenken sollte. Einerseits der von Anderson hier im Interview beschriebene Aspekt, dass viele Firmen wie Diktaturen geführt werden, in denen die Arbeitgeber als Tyrannen auftreten, die teils völlig arbiträre Drangsalierungen ausüben können. Das ist aus offensichtlichen Gründen problematisch. Andererseits, weil eine demokratische Gesellschaft, die täglich für 8 Stunden in eine Diktatur überwechselt, ein grundsätzliches Problem hat. Wir reden über die Demokratisierung von Schule und Universität, aber nie über die der Betriebe. Mehr Demokratie wagen! Und zuletzt hat das Ganze auch eine für die Unternehmen selbst wertvolle Kontrollfunktion. Betriebsräte etwa können mehr als wertvolle Korrekturen sein, die einerseits auf die Einhaltung der Regeln pochen, andererseits aber (über den Aufsichtsrat) auch unternehmerische Entscheidungen hinterfragen können. Die Arbeitnehmer sind schließlich genauso stakeholder in die Zukunft des Unternehmens wie die Aktionäre.

7) A long war of attrition
Even before Donald Trump entered the Oval Office, the U.S. military and other branches of government were already gearing up for a long-term quasi-war, involving both growing economic and diplomatic pressure on China and a buildup of military forces along that country’s periphery. Since his arrival, such initiatives have escalated into Cold War-style combat by another name, with his administration committed to defeating China in a struggle for global economic, technological, and military supremacy. This includes the president’s much-publicized “trade war” with China, aimed at hobbling that country’s future growth; a techno-war designed to prevent it from overtaking the U.S. in key breakthrough areas of technology; a diplomatic war intended to isolate Beijing and frustrate its grandiose plans for global outreach; a cyber war (largely hidden from public scrutiny); and a range of military measures as well. This may not be war in the traditional sense of the term, but for leaders on both sides, it has the feel of one. [...] In other words, there can never be parity between the two countries. The only acceptable status for China is as a distinctly lesser power. To ensure such an outcome, administration officials insist, the U.S. must take action on a daily basis to contain or impede its rise. In previous epochs, as Allison makes clear in his book, this equation — a prevailing power seeking to retain its dominant status and a rising power seeking to overcome its subordinate one — has almost always resulted in conventional conflict. In today’s world, however, where great-power armed combat could possibly end in a nuclear exchange and mutual annihilation, direct military conflict is a distinctly unappealing option for all parties. Instead, governing elites have developed other means of warfare — economic, technological, and covert — to achieve such strategic objectives. Viewed this way, the United States is already in close to full combat mode with respect to China. (Michael T. Clare, Le Monde Diplomatique)
Was wir gegenwärtig erleben ist das Ende der liberalen Weltordnung, daran besteht für mich immer weniger Zweifel. In den 2000er Jahren war permanent die Rede davon, wie die Globalisierung und der damit einhergehende Standortwettbewerb gut für die Wirtschaft ist, weil er Innovationsdruck schafft und nur die Besten überleben, und wie - Ricardo reloaded - die internationale Arbeitsteilung den Wohlstand steigert. Und das war nicht einmal zwingend falsch. Nur zeigt sich, dass die Bevölkerungen nicht endlos bereit sind, die negativen Folgen auf sich zu nehmen - eine Hauptquelle für das Ressentiment, an dem sich etwa die Populisten von rechts wie links bedienen, wobei die von rechts es effektiver tun - und dass die Nationalstaaten nicht bereit sind, die Konsequenz zu akzeptieren, dass andere Länder Marktführer in Branchen werden, in denen man es selbst gerne wäre oder in denen man sich nicht von anderen abhängig machen möchte. Und da sind wir wieder bei Fundstück 3): Wo besteht etwa Europas Rolle in dieser Problematik? Ich sehe den einzig vernünftigen Ausweg aus diesem Dilemma in einer Rückkehr zum Prä-1990-Modell der Wirtschaftsblöcke, in dem Fall mit Nordamerika und teilweise den Pazifikstaaten. Aber mit dem Untergang von TTIP und TPP haben wir uns diese Türen selbst vor der Nase zugeschlagen. Immerhin ist die EU nicht in einer ganz so bescheuerten Situation wie Großbritannien; die haben nach dem Brexit einen Platz in der ersten Reihe, um die Auswirkungen dieser Dynamiken als hilfloses Opfer beobachten zu können.

8) Zweierlei Maß
Es gibt immer einmal wieder den schlechten Eindruck, dass die Polizei bei Vorwürfen gegen ihre eigenen Kollegen nur halbherzig ermittelt oder dass sie mauert. Jetzt ist dies kein schlechter Eindruck mehr, im Fall der Bundespolizei ist es von nun an eine Tatsache. Das Mauern kommt sozusagen mit Ansage; diese Ansage hat die Form einer druckfrischen Dienstvereinbarung aus dem Bundesinnenministerium. Dort steht: Mehr als 20 000 Beamtinnen und Beamte der Bundespolizei werden mit Bodycams ausgerüstet, kleinen Kameras also, die in Dauerschleife alle Menschen filmen, mit denen diese Beamten zu tun haben. Zur Beweissicherung. Aber: Erhebt umgekehrt einmal ein Bürger einen Vorwurf gegen die Beamten - wegen eines Übergriffs etwa oder eines rassistischen Spruchs -, dann dürfen diese Aufnahmen nicht verwendet werden. Die Aufnahmen sind dem Bereich der internen Ermittlungen "entzogen", so heißt es in der Dienstvereinbarung. So verhalten sich Beamte, die den Rechtsstaat als ihr persönliches Gut betrachten. So verhalten sich Beamte, die meinen, an sich selbst andere Maßstäbe anlegen zu dürfen. Das lässt tief blicken. Wer eine Überprüfung durch den Rechtsstaat derart scheut, der ist nicht geeignet, für Vertrauen in diesen Rechtsstaat zu werben. (Ronen Steinke, SZ)
Die deutsche Polizei ist notorisch schlecht, wenn es um ihre eigene Verantwortlichkeit geht. Was es hier bräuchte wäre eine wesentlich stärkere Aufsicht, die stets beliebte "innere Abteilung", und ein stärkeres Verantwortungs- und Dienstgefühl gegenüber den Bürgern. Die Polizei definiert für sich nur allzugerne einen Zuständigkeitsbereich, innerhalb dessen sie allein entscheidet, was angemessen und richtig ist. Das geht nie gut, egal in welchem Bereich. Aufsicht tut not.

9) Das ist alles Lebenszeit
Es beginnt mit einem Geständnis: Ich habe den neuen Roman von Michel Houellebecq nicht gelesen, und ich werde es auch nicht tun. Schon seine letzten Bücher waren nichtssagende Thesenromane, stilistisch allenfalls mittelmäßig. Die Strategie, Versatzstücke unappetitlicher Ideologien anzudeuten, um sich dann hinter fiktiven Figuren zu verstecken, aus deren toten Augen der reale Autor ständig ironisch zu blinzeln scheint, besaß, wenn überhaupt, um die Jahrtausendwende noch ein mildes Irritationspotenzial. Die Figur des Provokateurs, dessen Spiel mit dem Hässlichen und Verbotenen einen wohligen Grusel erzeugt, ist schlecht gealtert, sie diente vielleicht schon damals vor allem dazu, sich gefahrlos am Habitus intellektueller Verdorbenheit zu beteiligen. Dazu gehört auch die öde Drastik trauriger Sexualität. Spätestens nach der dritten Wiederholung wirkt sie verstaubt und beflissen. Trotzdem wird der neue Houellebecq mit deprimierender Verlässlichkeit verkauft, gelesen, besprochen – kontrovers zwar, aber immer auch mit dem unterschwelligen Enthusiasmus über einen Autor, der Kontroversen zu erzeugen vermag. Es handelt sich um einen Fall, in dem die Tyrannei des Konzepts Skandalautor besonders augenfällig wird. Man liest den neuen Roman dieses Autors eben nicht nur in der Hoffnung auf ein gutes Buch, sondern vor allem, weil die Lektüre eine Eintrittskarte zu dem Gespräch ist, das mit Sicherheit über dieses Buch geführt werden wird. Man liest, um mitreden zu können, und ist dann verärgert über den Energieverlust, der damit einhergeht. [...] Eine Möglichkeit, sich diesen Mechanismen zu entziehen, wäre die ostentative Nichtlektüre, ein offenes Eingeständnis, dass man ein Buch nicht lesen wird. Der Provokation, die unsere Lesezeit beansprucht, wird die Provokation des Nichtlesens als Verweigerung dieser Zeit entgegengestellt. Eine solche strategische Indifferenz wäre eine Möglichkeit, die Herrschaft darüber zurückzugewinnen, welche Bücher man lesen und welchen man Aufmerksamkeit schenken möchte. [...] Der Habitus der Allbelesenheit wird dann ersetzt durch einen Habitus des informierten Nichtlesens. Es handelt sich um eine Kulturtechnik, die etwa im Rahmen der politischen Revision des Kanons bereits – wenn auch oft unausgesprochen – praktiziert wird. (Johannes Franzen, Zeit)
In diesem Artikel sind einige sehr gute Punkte aufgelistet. Mein eigenes größtes Problem beim Lesen ist die fixe Idee, man müsse jedes Buch zu Ende gelesen haben. Die Bücher in meiner alljährlichen Leseliste sind ja nicht immer solche, die ich unbedingt mit dem größten Genuss gelesen habe und bedingungslos weiterempfehlen kann. Trotzdem habe ich mich häufig durchgequält. Das ist eigentlich ja nicht nötig. Genauso kann ich informiert über ein Buch sprechen, das ich gar nicht gelesen habe, zumindest insofern, als dass ich begründen kann, warum ich es nicht lesen will. Diese Thematik ist am Auffälligsten etwa bei solchen Machwerken wie Sarrazins Schmierereien; Sarrazin nutzte "Sie haben mein Buch ja gar nicht gelesen!" immer als Argumentationsknüppel, der auch viel zu häufig akzeptiert wurde. Als ob ich Sarrazin lesen müsste, um ihn zu kritisieren! Meine Ablehnung seiner Thesen kann ich aus einem seiner Interviews begründen, ich brauche keine 300 Seiten krude Vulgär-Genetik zu überstehen. Genauso habe ich etwa 2012 Manfred Spitzers Machwerk gelesen, in der irrigen Annahme, dies tun zu müssen um ihn fundiert kritisieren zu können. Verschwendete Lebenszeit, in der ich lieber ein gutes Buch gelesen hätte.

10) Der Frauenhass ist gar nicht eingewandert
Wissen Sie noch, damals, als Deutschland ein feministisches Paradies war, wo Frauen und Männer einander ausnahmslos verstanden, liebten und ehrten, wo sie gleich viel verdienten und nie eine Frau ermordet wurde, weil sie einen Mann abgewiesen hatte? Damals, bevor die vielen jungen muslimischen Männer kamen? Nein, weiß ich auch nicht mehr. [...] Jede linke Feministin kennt diesen Vorwurf, sie würde sich nicht hinreichend um die Probleme kümmern, die durch geflüchtete Männer verursacht werden. Wann immer einer dieser Männer gewalttätig gegen Frauen wird, schreiben mir Leute, die fragen, warum ich über diesen bestimmten Fall nicht längst geschrieben habe und ob ich ihn unter den Teppich kehren will. Im Eifer des Gefechts vergessen sie, dass in Deutschland jeden zweiten bis dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird. Es gibt ein massives Problem mit Gewalt gegen Frauen in Deutschland, aber die meisten dieser Fälle werden nur dann öffentlich diskutiert, wenn der Täter einen Migrationshintergrund hatte und damit gutes Propagandamaterial für Rassisten und Rassistinnen darstellt. [...] Wenn Sie bisher nicht mitbekommen haben, wie viele Frauen in Österreich seit Jahresbeginn ermordet wurden, dann könnte es daran liegen, dass es immer noch als "Familiendrama" oder "Beziehungsdrama" gilt, wenn ein weißer Mann seine (Ex-)Partnerin oder Schwester tötet. Es wäre die Traumvorstellung vieler weißer deutscher Männer, wenn linke Feministinnen sich hauptsächlich um "eingewanderte frauenfeindliche Wertesysteme" kümmern würden, und nicht um die hier seit Ewigkeiten ansässigen Frauenfeinde. Wie praktisch es wäre, wenn wir dabei helfen würden, so zu tun, als sei aller Sexismus (und Antisemitismus) erst 2015 nach Deutschland gekommen. (Margarete Stokowski, SpiegelOnline)
Dieser Vorwurf ist tatsächlich sehr beliebt, und Stokowski identifiziert auch problemlos den Grund, warum er das ist. Er speist sich aus derselben Quelle, aus der Leute, die absolut nicht ausländerfeindlich sind, plötzlich ihre Liebe zu den Obdachlosen entdecken, die man ja alle finanzieren könnte, wenn nur die Flüchtlinge (gegen die man natürlich persönlich nichts hat) nicht wären. Es ist vorgeschoben, eine Möglichkeit, sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Und das ist hier dasselbe: da entdecken plötzlich Leute eine tiefe Sorge vor häuslicher Gewalt, die ansonsten in aggressivsten Tönen verleugnen würden, dass es ein Problem in Deutschland gibt.

11) Ich will nicht mehr, dass Menschen verstummen
Meine Mutter hatte beschlossen, mich in ihrer Muttersprache zu erziehen: Türkisch. Das war keine Entscheidung aus Bequemlichkeit –meine Eltern sprechen beide Deutsch, wenn auch nicht so gut wie Türkisch – sondern zu meinem Wohle: „Ich dachte, dass es wichtig ist, dass ein Kind erst mal eine Sprache gut beherrscht“, sagt sie. Heute bestätigen Kognitions- und Sprachwissenschaftler*innen das, was meine Mutter damals instinktiv ahnte: Sie raten Migrant*innen, mit ihren Kinder nicht unbedingt Deutsch, sondern ihre Familiensprache zu sprechen. Gila Hoppenstedt vom German Institute for Immersive Learning (GIFIL) begründet das damit, dass die Muttersprache der Schlüssel für die zweite Sprache sei. Die erste Sprache forme kognitive Voraussetzungen, um Inhalte zu verstehen und zu verarbeiten. Darauf können wir immer wieder zurückgreifen, auch wenn wir eine neue Sprache lernen. Das Gegenteil könne im schlimmsten Falle dazu führen, dass sich die muttersprachlichen Kenntnisse der Kinder verschlechtern, während sich ihre Deutschkenntnisse auch nicht verbessern, meint Natalia Gagarina vom Berliner Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft. [...] Dabei ist Bilingualität weltweit keine Seltenheit. Mehr als die Hälfte der Menschen sprechen zwei Sprachen, Schätzungen schwanken zwischen 60 und 75 Prozent. Und wie auch in Deutschland ist Muttersprache an vielen Orten der Welt politisch. Dass ich mit einer Sprache aufwachsen durfte, die meine nächsten Bezugspersonen so gut beherrschten, dass der Austausch sie nicht aus Anstrengung zerrieb, sie ihren Kindern die Welt begrifflich erfahrbar machen konnten, um sie gemeinsam zu begreifen, ist nicht selbstverständlich. Die Familiensprache meines Vaters war einst Kurdisch, bis sie durch staatliche Repression von der türkischen Dominanzkultur verdrängt wurde. Noch heute gibt es viele, vor allem ältere Menschen in kurdischen Städten Südostanatoliens, die kein Türkisch sprechen können. Doch in den öffentlichen Behörden, Krankenhäusern und Schulen wird Türkisch gesprochen, das Kurdische wird als Bedrohung wahrgenommen. Diese Menschen verstummen in einem Raum, der ihnen zuvor Schutz bot. Mit Sprache beziehen wir uns zur Welt und erlangen zugleich die Fähigkeit, von uns selbst Abstand zu nehmen, uns selbst zum Gegenstand unserer Worte zu machen, ein Ich zu werden. Was bleibt, wenn uns das genommen wird? (Seyda Kurt, ze.tt)
Zwei Punkte hierzu. Einerseits bleibt es für mich faszinierend, wie wenig eine Diskussion ("in Deutschland soll Deutsch gesprochen werden", "Deutsch ins Grundgesetz"), die ein solcher Dauerbrenner ist, auf Fakten beruht. In der Öffentlichkeit gibt es eine instinktive Abneigung dagegen, wenn als niederrangig wahrgenommene Sprachen (alles aus Süd- oder Osteuropa) gesprochen wird (eine solche Ablehnung erfahren Englisch oder Französisch nicht). Politiker entblöden sich nicht zu fordern, dass "zuhause Deutsch gesprochen werden soll", ohne dass man einmal einen Sprachwissenschaftler fagt, ob das überhaupt sinnvoll ist. Wie so oft in der Integrationsdebatte ersetzt das gesunde Volksempfinden Verstand und Empirie. Auf der anderen Seite ist ebenso auffällig, wie viele Staaten die offizielle Sprache als Waffe verwenden. Es ist deswegen auch gefährlich, offizielle Sprachen auf diese Art festzuschreiben, ob Deutsch ins Grundgesetz oder Englisch in die US-Verfassung (beides wird von Konservativen regelmäßig gefordert). Diktaturen wie die Sowjetunion oder heutige autoritäre Staaten wie Russland oder die Türkei nutzen die "offiziellen" Sprachen schon lange und erfolgreich als Waffe im Kampf gegen ethnische Minderheiten. Als Integrationsmittel hat das noch nie fungiert; die Ausgrenzung ist ja gerade das Ziel. Wir sehen das ja auch in Deutschland: die Sprachkenntnisse mögen eine notwendige Bedingung für Integration sein, eine hinreichende sind sie keinesfalls. Und wer sich integrieren will, der lernt die Sprache eh - auch ohne staatliche Gängelung.

Freitag, 22. Februar 2019

Die Gehaltsentwicklung linker homosexueller Dresdner Richter in der Kritik - Vermischtes 22.02.2019

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) How the left embraced elitism
That Democratic Party is ending. Today, Democrats are much more likely to want government to take direct control. This is the true importance of the Green New Deal, which is becoming the litmus test of progressive seriousness. I don’t know if it is socialism or not socialism — that’s a semantic game — but it would definitely represent the greatest centralization of power in the hands of the Washington elite in our history. The resolution is unabashed about this, celebrating and calling for more “federal government-led mobilizations.” Under the Green New Deal, the government would provide a job to any person who wanted one. The government would oversee the renovation of every building in America. The government would put sector after sector under partial or complete federal control: the energy sector, the transportation system, the farm economy, capital markets, the health care system.The authors liken their plan to the New Deal, but the real parallel is to World War II. It is the state mobilizing as many of society’s resources as possible to wage a war on global warming and other ills. The document is notably coy about how all this would be implemented. Exactly which agency would inspect and oversee the renovation of every building in America? Exactly which agency would hire every worker? But the underlying faith of the Green New Deal is a faith in the guiding wisdom of the political elite. The authors of the Green New Deal assume that technocratic planners can master the movements of 328 million Americans and design a transportation system so that “air travel stops becoming necessary.” (This is from people who couldn’t even organize the successful release of their own background document.) (David Brooks, New York Times)
Die Hyperberln über das Ende der Democrats einmal beiseite hat David Brooks teilweise durchaus Recht: Jedes Programm von der Größe des Green New Deal (GND) würde eine neue Machtkonzentration an der Spitze des Staates bedeuten, das steht außer Frage. Das macht unter den Prämissen des GND durchaus Sinn. Die Prämisse lautet, dass der menschengemachte Klimawandel eine reale und dringende Gefahr ist, die sich nur durch eine massive Kurskorrektur aufhalten lässt. Selbst wenn der Staat sich durch indirekte Anreize und Subventionen überwiegend auf den privaten Sektor verließe - was in jedem GND-Programm angelegt ist - bedeutet das offensichtlich entsprechende Entscheidungskompenzen. Die Ironie bei Brooks ist, dass er zu glauben scheint, hier etwas Dunkles aufgedeckt zu haben. Dabei sind Democrats bezüglich dieser Komponente völlig offen. Sie vergleichen die Herausforderungen explizit mit dem Zweiten Weltkrieg und der notwendigen Mobilisierung, die den ersten New Deal ja überhaupt erst zu dem Erfolg gemacht hat, der er später wurde. Und selbstverständlich bedeutet das Machtkonzentration in Washington. Es kann nicht anders funktionieren, das haben die letzten Jahrzehnte bewiesen. Selbstverpflichtungen helfen nicht, und ohne massive Subventionen ist die Rettung des Klimas kein Feld, auf dem Gewinne erwirtschaftet werden. Es ist eine originär staatliche Aufgabe, den Klimawandel aufzuhalten, und es ist gut zu sehen, dass die Democrats diese endlich ernst nehmen.

2) Warum Rentner in Österreich mehr bekommen
Nach Angaben der österreichischen Bundesanstalt Statistik betrug die durchschnittliche Bruttorente der Männer, die im Jahr 2016 in Altersente gingen, 2.001 Euro. In Deutschland lag der entsprechende Vergleichswert bei 1.253 Euro. Neurentner in Österreich erhalten also um 60 Prozent höhere Bezüge aus der gesetzlichen Rentenkasse. Woher kommt der eklatante Unterschied? Wie kann sich Österreich trotz einer ähnlichen Bevölkerungsstruktur so großzügige Altersbezüge leisten? Hohe Altersbezüge haben auch eine Kehrseite: Sie müssen finanziert werden. In Österreich liegt der Rentenbeitrag mit 22,8 Prozent deutlich höher als in Deutschland, wo 18,6 Prozent zu zahlen sind. Dabei tragen allerdings die Unternehmen in Österreich mit 12,55 Prozent den größeren Teil der Beitragslast, die Beschäftigten nur 10,25 Prozent. In Deutschland sollen die Arbeitnehmer noch zusätzlich mit vier Prozent ihres Einkommens privat vorsorgen. Für diesen Zweck führte die Bundesregierung im Jahr 2002 die Riester-Rente ein. Österreicher bekommen nicht nur höhere Altersbezüge, sie erhalten sie auch früher. Während hierzulande das gesetzliche Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre steigt, liegt es in Österreich weiter bei 65 Jahren. Für Frauen liegt die Altersgrenze sogar noch bei 60 Jahren, erst ab 2024 wird sie langsam auf 65 Jahre ansteigen. Mehr Geld in der Kasse hat Österreichs Rentenversicherung aber noch aus einem anderen Grund: Der Versichertenkreis ist deutlich größer als in Deutschland. In einem lange dauernden Prozess wurden seit der Nachkriegszeit immer mehr Gruppen in die Versicherung einbezogen, auch Unternehmer, Freiberufler, Soloselbstständige und Honorarkräfte. Seit 2005 werden auch neue Beamte in die gesetzliche Rentenkasse integriert. Insgesamt liegt der Anteil der Rentenausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Österreich laut OECD bei 13,1 Prozent. In Deutschland beträgt er nur 10,6 Prozent. Florian Blank hat beim Vergleich der beiden Rentensysteme eine eindeutige Meinung: "Das österreichische System der Alterssicherung ist in der Gesamtschau dem deutschen deutlich überlegen." (ZDF)
Ich bin kein Experte für Österreich und weiß daher nicht, wie rosagefärbt die Brille ist, durch die hier geschaut wird. Aber dass das deutsche Rentensystem ziemlich kaputt ist, ist keine große Überraschung. Die Reformen der letzten 20 Jahre haben das Schlechteste aus beiden Welten vereint: einen parasitären, aufgeblähten und intransparenten privaten Sektor, privilegierte Gruppen die sich aus dem System herausnehmen können, und hohe Kosten eines allgemeinen, arbeitsfinanzierten Umlagesystems. Dieses ganze Ding wird uns noch ziemlich furchtbar auf die Füße fallen, aber alle Verantwortlichen aus der Babyboomer-Generation werden bis dahin sicher tot und der Verantwortung enthoben sein.

3) Der Antragsteller
Im Sommer 2016 ging ein Moment aus seinem Leben um die Welt, in dem er etwas sehr Romantisches tat, das eigentlich nicht zu seiner nüchternen Art passt. Online gibt es viele Videos davon, hochkant, quer, aus verschiedenen Perspektiven. Man sieht Phil, damals Polizist, im Einsatz bei der »London Pride Parade«, dem Festival der Homosexuellen, Bisexuellen und Transmenschen. Die Polizisten halten an. Phil tritt aus der Gruppe, nimmt seinen Helm ab und geht vor einem Mann im Publikum am Straßenrand auf die Knie. Er nimmt seine Hand. Man kann kein Wort verstehen, aber es ist klar, was er fragt und wie die Antwort lautet. Die Menge jubelt, ein Regen­bogenfähnchen flattert, jemand schießt eine Konfettikanone ab. Phil und Jonathan, jetzt Verlobte, umarmen sich, küssen sich, sie sehen sehr glücklich aus. Handyvideos vom Antrag verbreiteten sich über Twitter und Facebook, Medien weltweit berichteten. Für viele Menschen war Phil ein Held: ein schwuler Polizist, der den Mut zu einem öffentlichen Antrag hat. Sie kommentierten, wie schön die Szene sei, voller Liebe, ein Zeichen für Gleichberechtigung. Für andere aber war er ein Widerling. Phil hat die Hasskommentare eingeteilt: Da waren jene, die zwar negativ und beleidigend, aber nicht bedrohlich waren. Dazu gehörte der Kommentar einer Frau, die schrieb, seinetwegen würden Menschen in Not nicht mehr die Polizei rufen. Und dann gab es die Drohungen: »Die beiden sollten aufgehängt werden!« (Nadja Schlüter, SZ)
Die Normalisierung der Homo-Ehe funktioniert unter anderem durch solche Aktionen. Und diese zeigen auch, dass wir offensichtlich noch eine Menge Boden gutzumachen haben. Warum sich cis-Menschen dermaßen in ihrer Sexualität bedroht fühlen, dass sie Morddrohungen gegenüber Homosexuellen ausstoßen, bleibt mir unklar. Toxische Geschlechterbilder spielen hier sicherlich mit eine Rolle. Es ist auch auffällig, dass männliche Homosexualität als wesentlich bedrohlicher empfunden wird als weibliche; diese gilt oft genug als Projektionsfläche für erotische Sehnsüchte (was aus ganz anderen Gründen probematisch ist). Aber die Gesetzesnorm kann nur gesellschaftliche Norm werden, wenn sie gelebt wird, wenn Menschen sehen, dass es Normalität wird. Das war auch nicht anders, als überkonfessionelle Heiraten seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend normal wurden, oder als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemischtrassige Heiraten normalisiert wurden. Jedes Mal war die Gegenreaktion heftig und gewalttätig, und jedes Mal verlor das Gesindel der Bigotten am Ende und starb aus, einer neuen, aufgeklärteren und besseren Generation Platz machend. Das wird auch dieses Mal wieder so sein.

4) Griff in die Geschichte: Stichworte zu Dresden
Tief im deutschen Osten hat sie schon vor langer Zeit begonnen, die erinnerungspolitische Wende um 180 Grad. Im Mittelpunkt stehen die großen Selbstmitleidsfestspiele in der sächsischen Metropole, die alljährlich um den 13. Februar herum begangen werden und daran erinnern, wie die naiven, strebsamen Bewohner eines barocken Gesamtkunstwerks buchstäblich aus heiterem Himmel mit einem ihnen bis dahin völlig unbekannt gebliebenen Krieg konfrontiert wurden und dabei wahlweise, je nach Gedächtnis und Anlass, 25.000, 40.000, 80.000, 120.000 und auch schon mal 250.000 Bürger von angloamerikanischen Luftgangstern massakriert wurden. Aus Rachsucht, Mordlust und vor allem, um Stalin einzuschüchtern. Dies wäre auf Veranlassung zweier finsterer Deutschenhasser geschehen, des Premiers Churchill, der den Weltmarktkonkurrenten habe ausschalten wollte, sowie des Luftmarschalls Harris, der anstrebte, größter Kriegsverbrecher aller Zeiten zu werden.Wer das für übertriebenen Sarkasmus hält, sehe sich einfach in den Kommentarspalten einschlägiger Seiten um oder tue es sich an, mit Dresdnern darüber sprechen zu wollen. Interessant auch die Empfindlichkeit, mit der die Nachfahren sächsischer Vernichtungskrieger auf den Zynismus reagieren, der sich angesichts ihrer Ausführungen oder Aufführungen unweigerlich einstellt. Es wird an ihren Hirngespinsten nichts ändern, dennoch sollte ab und an die gefühlte Geschichtsfantasie in den historischen Kontext eingeordnet werden. (Waldemar Alexander Pabst, Ruhrbarone)
Der Dresdner Opfermythos ist tatsächlich nicht totzukriegen. Das gilt in allgemeinerem Rahmen generell für das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Gerade in der Popkultur (Stichwort "Unsere Mütter, unsere Väter") wird gerne übersehen, woher dieses Leid ursprünglich kam. Dass die Bombardements der Luftwaffe gerne verdrängt werden ist das Eine. Auf der anderen Seite gibt es aber ein tiefes, durch die Kitschisierung überklittertes Unverständnis darüber, woher diese Bombardements eigentlich kamen. In der Folklore wird gerne so getan, als ob sie reiner Terrorismus gewesen wären, dann auch gerne als völlig aus dem Rahmen fallende Vergeltung für den ursprünglichen deutschen Bombenterror gesehen. Doch hinter den strategischen Bombardements steckte eine allgemein anerkannte Logik, die darin bestand, die Kriegsführungskapazität der Gegner zu treffen (das berühmte "Demoralisieren"). Wir wissen heute, dass das nicht sonderlich gut funktioniert hat, aber wie der Engländer so schön sagt: Hindsight is 20/20. Zudem war das strategische Bombardement dort, wo es die Wirtschaft statt die Wohnviertel traf, wesentlich effektiver als sein Ruf. Zu Dresden und seiner angeblichen Unschuld sagt der obige Artikel alles, was gesagt werden muss.

5) New hope and new danger on the left
In all of this excitement — and I could say the same about the environmental ambition of the Green New Deal — I can’t help drawing parallels between what we’re seeing in Democratic Party and the similar far-left wave of enthusiasm in Britain, where a new tide of youthful energy has flooded the British Labour Party and transformed its ambitions almost overnight from ameliorating capitalism to full-on socialism. There was an infectiousness to the excitement in 2015, in part because full-fledged socialism seemed to be answering a genuine and massive crisis of capitalism. It spoke to those under 40 whose futures are debt-ridden, who have little hope of property ownership, and struggle to manage with precarious, low wages. It rallied a sense of the common good against the isolation and depression of austerity. It actually took the science of climate catastrophe seriously. (It’s worth noting that the original version of the Green New Deal was devised by the left-leaning British National Economic Foundation, as a means for recovery after the 2008 economic collapse.) And after a hugely ambitious socialist platform along these lines was unveiled as Labour’s official program for government in the beginning of the campaign for the election of 2017, many of the same moderate leftists who now pooh-pooh the GND in the U.S. predicted electoral catastrophe in the U.K. Like the Green New Deal, Labour’s proposals were to be funded by simply borrowing or printing money — what Tories mockingly called a “magic money tree.” (Whenever I read the phrase MMT, Modern Monetary Theory, Magic Money Tree seems like a better translation). Labour’s anti-American foreign policy was also seen as an electoral poison pill. But all these familiar critiques did not win the day. Once Labour’s full, staggeringly bold proposals were unveiled, support for the party soared. Labour climbed a full 20 points in the six weeks of the 2017 campaign, robbing the Tories of a majority in the Parliament. They came very close to becoming the most radical government — domestically but especially in foreign policy — in modern British history. [...] If the Democrats want to fight the next election on the need for a radical rebalancing of the economy in favor of the middle and working class, for massive investment in new green technology, for higher taxes on the superrich, and for health-care security for all Americans, they can win. If they conflate those goals with extremist rhetoric about abolishing everyone’s current health insurance, and starting from scratch, as the Green New Deal advises, not so much. (Andrew Sullivan, New York Magazine)
Der Erfolg der Rechtspopulisten sollte endgültig bewiesen haben, dass rein elektoral für die Linke mit verantwortlicher Regierungsführung nichts zu gewinnen ist. Ob Obama oder SPD, pragmatische Konsenssuche lässt das eigene Lager unbefriedigt und den Gegner unversöhnlich wie eh und je zurück. Man sieht das super an beiden Parteien, ob Democrats in USA oder SPD in Deutschland. Ob die eine Reichensteuer von 70% vorschlagen oder das Bauen neuer Fahrradwege, die Konservativen blöken ihren Mist von "Sozialismus!" und "Staatswirtschaft!" und hastenichtgesehen hinaus. Und die Medien wiederholen das unkritisch und ohne Kontext. Es gibt keinerlei Anreize dazu, pragmatisch und konsensorientiert zu arbeiten.
 
This doesn’t speak well for Roberts. By the time he met with the two liberals, he apparently held two genuine beliefs: (a) the individual mandate was constitutional because it was a tax, and (b) ACA’s Medicaid expansion was also constitutional. But he was only willing to support the individual mandate if liberals were willing to negotiate a deal to strike down the Medicaid expansion. In other words, he was only willing to support what he believed to be true in return for striking down something else he believed to be true. Why? We can only guess, but presumably Roberts was making a purely political decision: in order to retain his conservative reputation, he needed to strike down something in return for upholding the mandate. So Medicaid got chopped. Kagan and Breyer went along with this because they had no choice. Horsetrading is one thing, but this is not how Supreme Court justices are supposed to operate. If Roberts truly believed the individual mandate was constitutional as a tax, he should have had the guts to simply say so without any payoff. Doing otherwise was just cowardly. (Kevin Drum, Mother Jones)
Solcherlei Beispiele ließen sich sicherlich auch für andere Themen finden. Es handelt sich um kein spezifisches Problem der Linken oder Rechten, sondern vielmehr eine Offenbarung. In Deutschland haben wir mit schöner Regelmäßigkeit - und Berechtigung - die Debatte, ob das BVerfG eine Rolle als Ersatzgesetzgeber einnimmt. Das ist auch durchaus eine berechtigte Sorge; in den letzten Jahren hat sich die Tendenz eingeschlichen, dass der Bundestag sich seiner politischen Verantwortung entzieht, indem er dem BVerfG die ultimative Entscheidung überlässt, eine Rolle, die das BVerfG auch mit Elan angenommen hat (man denke nur an die Entscheidungen in der Euro-Rettungspolitik). In den USA bekommt das Ganze durch die unterschiedliche Rechtstradition noch einmal einen ganz anderen Schwung. Die Richter in den USA sind zu Teilen gewählt, zu Teilen in einem sehr parteiischen Auswahlprozess nominiert. Sie sind in wesentlich stärkeren Maße als in Deutschland - wo immer noch die klassische Beamtentradition prägend ist - politische Akteure. Dies ist besonders bei den niedrigschwelligen Richterämtern auffällig, deren Wahlkämpfe in offene Korruption ausarten können. Aber auch der Supreme Court ist betroffen und verhält sich zunehmend wie ein beliebiger anderer politischer Akteur. Kuhhandel wie der oben von Kevin Drum beschriebene gehören zum Parlament wie die Butter aufs Brot. Vor Gericht aber haben sie eigentlich nichts verloren. Dass keiner der Richter am Supreme Court das als ein Problem zu begreifen scheint, und die restlichen politischen Akteure und Beobachter überwiegend auch nicht, ist ein Armutszeugnis. Angesichts der lebenslangen Amtszeiten der Richter und den arbiträren Auswahlverfahren ist das eine dramatische Entwicklung; der rapide Ansehensverfall der Institution in den letzten Jahren nur Symptom. Man muss übrigens an dieser Stelle auch lobend auf einige konservative Intellektuelle vor allem im Umfeld des National Review und des American Conservative hinweisen, die diesen Trend schon länger harsch kritisieren und ihn auch dieser Tage scharf angreifen, da der gestohlene SCOTUS-Sitz den Republicans die Mehrheit und Entscheidungen in ihrem Sinne gibt.

7) Kritik an der alten Vernunft
Meine These ist, dass sich mit dem derzeitigen digitalen, gesellschaftlichen und umweltbezogenen Wandel auch der politische Vernunftbegriff verändern muss, und zwar wesentlich schneller, als das bisher der Fall war. Die Frage "Was ist vernünftig und was nicht?" gehört bei aller Problematik des Begriffs zum Wesen der demokratischen Politik. Aber die Antworten im 21. Jahrhundert sind oft andere als die aus dem 20. Jahrhundert übriggebliebenen Maßstäbe uns glauben lassen. Es war mal sehr vernünftig, Kupferkabel in die Erde oder 50 Millionen Jahre alte Presspflanzen aus der Erde zu schaffen. [...] Es hat sich eine neue Variante der Scheinvernunft herausgebildet, ich möchte sie generationelle Vernunft oder Altvernunft nennen. Altvernunft entsteht, wenn man Zukunft ausschließlich nach den Kriterien der Vergangenheit bewertet. Viele aktuelle Streite, von Brexit über Bildung bis Klimapolitik, sind eigentlich Kämpfe zwischen Altvernunft und Jugendvernunft. Leider verliert die Jugend gerade. Und das nicht nur, weil eine 16-jährige Aktivistin wie Greta Thunberg von einem erbärmlichen Altmänner-Onlinemob beschimpft, bepöbelt, bedroht wird. Man erkennt das Primat der Altvernunft besonders gut an der Diskussion über den Digitalpakt, denn es handelt sich um ein Bildungsthema. Bildungspolitik bedeutet per Definition, dass Alte über Leben und Werden der Jungen entscheiden. Vielleicht geht es manchmal nicht anders, aber man könnte dann wenigstens mit einer gewissen Altersdemut an die Sache herangehen und die Jugend mit einbeziehen. (Sascha Lobo, SpOn)
Genauso wie im letzten Vermischten der Begriff des "umstritten", so ist auch "Vernunft" in höchstem Maße aufgeladen. Man findet den Begriff vor allem bei CDU und FDP, die ihn gerne gegen SPD, Grüne und LINKE in Stellung bringen, vor allem bei ordnungspolitischen Themen. Sascha Lobo hat mit seiner hier geäußerten Kritik vollkommen Recht. Ein Verwandter dieses "Vernunft"-Begriffs kommt vor allem im AfD-Umfeld vor und blickt auf eine ungesunde NS-Historie zurück: der "gesunde Menschenverstand", gerne mittlerweile (ermutigt von der wachsweichen Reaktion von Zivilgesellschaft und Medien) auch das "gesunde Volksempfinden", das dieser Tage besonders gerne in Österreich aus der Swastika-verzierten Mottenkiste hervorgeholt wird.

8) European colonizers killed so many Native Americans that it changed the global climate, researchers say
When Europeans arrived in the Americas, they caused so much death and disease that it changed the global climate, a new study finds. European settlers killed 56 million indigenous people over about 100 years in South, Central and North America, causing large swaths of farmland to be abandoned and reforested, researchers at University College London, or UCL, estimate. The increase in trees and vegetation across an area the size of France resulted in a massive decrease in carbon dioxide (CO2) in the atmosphere, according to the study. Carbon levels changed enough to cool the Earth by 1610, researchers found. Columbus arrived in 1492, "CO2 and climate had been relatively stable until this point," said UCL Geography Professor Mark Maslin, one of the study's co-authors. "So, this is the first major change we see in the Earth's greenhouse gases." Before this study, some scientists had argued the temperature change in the 1600s, called the Little Ice Age, was caused only by natural forces. But by combining archaeological evidence, historical data and analysis of carbon found in Antarctic ice, the UCL researchers showed how the reforestation -- directly caused by the Europeans' arrival -- was a key component of the global chill, they said. "For once, we've been able to balance all the boxes and realize that the only way the Little Ice Age was so intense is ... because of the genocide of millions of people," Maslin told CNN. (Lauren Kent, CNN)
Das Ausmaß des Massensterbens in Amerika bei Eintreffen der europäischen Siedler ist tatsächlich weitestgehend ohne Beispiel. Der Artikel erweckt den Eindruck, dass die Europäer mit der Hand am Arm diese Morde begangen hätten; tatsächlich starben aber viele dieser Ureinwohner an Krankheiten, die die Europäer mitbrachten und gegen die keine Immunitäten bestanden. Der Zusammenhang mit dem Klima ist auch für einen anderen gigantischen Massenmord belegt: die Eroberungszüge der Mongolen. Diese schwappten unter Dschingis Khan und seinen Erben im 13. Jahrhundert über weite Teile Asiens, Europas und des Mittleren Ostens hinweg und töteten dermaßen viele Menschen, dass der Effekt von Klimawissenschaftlern auch hier problemlos nachgewiesen werden kann: weite Teile vorher kultivierten Landes verwilderten wieder und zogen dabei CO2 aus der Atmosphäre. Die Kleine Eiszeit, die der obige Artikel anspricht und zu deren Entstehung das amerikanische Massensterben beigetragen haben mag, ist ein deutlich unterbewerteter Grund für viele Ereignisse der Neuzeit. Generell gilt, dass das Klima - und der Einfluss der Menschen auf das Klima - und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft weitgehend unterschätzt werden.

9) Workers Have Lost a Trillion Dollars In Annual Pay Over the Past 20 Years
Since 2000, labor’s share has declined by about a trillion dollars. If you’ve become jaded by numbers this huge and have no idea what they mean on a human scale, it’s simple: this works out to something in the ballpark of $7,000 per worker. If we could just get back to the level of 80s and 90s, we’d all be making about $7,000 more per year. This is not a huge ask. It’s not like trying to bring back the postwar Golden Age. We’re talking about something that was common as recently as 20 years ago. Since then, the CEO class has decided to add a trillion dollars to its income by taking it away from its workers. This is something that Democratic presidential candidates ought to share when they’re out on the campaign trail. (Kevin Drum, Mother Jones)
Es ist das größte politische Versagen der Linken, auf diesen Zusammenhang nicht aufmerksam zu machen. Die Gehälter sind heute deutlich niedriger als sie das vor 20 Jahren noch waren. Dieser Zusammenhang wird unter anderem dadurch versteckt, dass die Durchschnittsgehälter die Realität der anderen Tariflandschaften unter Altersvorsorgesysteme nicht widerspiegeln und dass auf der anderen Seite ein Gutteil derer, die diese höheren Gehälter bekommen haben, mittlerweile entlassen oder in Rente ist. Tatsächlich werden die massiv verschlechterten Arbeits- und Rentenbedingungen ja oft genug als Knüppel gebraucht, um entsprechende Forderungen abzuwehren. "Sei froh, dass du einen Job hast!" oder "Das ist halt heute so!" sind Basisvarianten eines häufig mit betriebswirtschaflichem Vokabular veredelten Hokuspokus. Selbst wenn die Konservativen Recht damit hätten, dass die heutige Realität - sei es wegen des Drucks der Globalisierung oder was auch immer - die damaligen Gehaltsniveaus nicht mehr zulässt, so ist das kollektive Hände-in-die-Luft-werfen der Linken, dieses "es könnte noch viel schlimmer sein", das den Markenkern der heutigen SPD ausmacht, politisch Gift und macht den Weg für autoritäre Rattenfänger frei, die die angestaute Wut kanalisieren, auf Randgruppen lenken und in utopische Hoffnungen projizieren.

10) Tweet
Beobachter vergessen über das tägliche Bombardement mit Beweisen von Trumps tiefgreifenden Charakterschwächen und Unzulänglichkeiten, was für einen Epochenbruch seine Präsidentschaft eigentlich wirklich darstellt. Tatsächlich war ein vergleichbarer Mensch 2012 nur ein einziger running gag, und die Vorstellung, dass jemand wie Herman Cain in den Umfragen eine Rolle spielen konnte, schien seinerzeit Ausdruck einer tiefen Krise der republikanischen Partei zu sein. Heute haben wir den Beweis, dass die Partei fundamental zerstört ist, dass das ganze System offensichtlich gestört ist, aber in der endlosen Dauerschleife von Skandalen, Normenbrüchen und Dummheiten geht das völlig unter. Dass in weiten Teilen der Öffentlichkeit immer noch die Neigung vorherrscht, diese Tendenzen kleinzureden, als Übertreibung zu brandmarken oder es einfach nur als Unterhaltung zu nehmen ist dramatisch.

11) Howard Schultz Might Reelect Trump Because He Doesn’t Understand How Politics Works
The center is not what Schultz thinks it is. “Republicans and Democrats alike — who no longer see themselves as part of the far extreme of the far right and the far left — are looking for a home,” he tells the New York Times. What would this center look like? In Schultz’s mind, it would combine his social liberalism with a desire to cut social insurance programs. “We can get the 4 percent growth,” he said last year, “we can go after entitlements, and we can do the right thing — if we have the right people in place.” In reality, there is no constituency for cutting these programs in either party. A 2017 Pew survey found 15 percent of Republicans, and 5 percent of Democrats support cuts to Medicare, while 10 percent of Republicans and 3 percent of Democrats support cuts to Social Security. A survey of the 2016 electorate by the Democracy Fund Voter Study Group plotted voters by social and economic views. What it found is that many voters have socially conservative and fiscally liberal views — those are the voters who were attracted to Trump’s combination of nativism and promises to maintain social programs and provide universal health care. Vanishingly few voters have socially liberal and fiscally conservative beliefs [...] Democrats haven’t moved far left yet. Having conjured an imaginary center that happens to match his own views, Schultz rationalizes his candidacy by insisting that Democrats have moved away from it. [...] The trouble with his argument is that these are neither policies the Democratic Party has adopted, nor are they unpopular. Democrats have debated all of these concepts, and they have made some headway because they poll well, at least in the abstract. Free college is popular. “Free government-paid health care” is exactly what Trump promised when he was elected, and a job guarantee also polls well. [...] Schultz is being asked about a highly unpopular Trump administration policy that increased the deficit by $2 trillion. This is the closest thing to a layup he can get. But Schultz can’t even bring himself to pose as a deficit hawk on this specific issue. Instead, he says he would have scaled back the tax cut for the rich a little, and spent the savings on a big tax cut for the middle class. If Schultz can’t hold himself to the easiest possible anti-debt stance on his very first day as a political candidate, you have to wonder about his claim that he can find the political courage on this issue that the entire Democratic Party is allegedly lacking. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Ich habe bisher vermieden, Howard Schultz' Kandidatur groß zu thematisieren. Aber neben seiner offensichtlichen Unfähigkeit für das Amt - die Kandidatur wird einzig und allein durch seine Hybris und Verachtung für den Job, um den er sich ostentativ bewirbt, getrieben - fallen vor allem die zutiefst falschen Prämissen auf, auf denen seine Kandidatur fußt und die in weiten Teilen der (vor allem medialen) Öffentlichkeit verbreitet sind.
Da ist zum einen der nicht todzukriegende Mythos, die Mitte wolle einen kleinen Staat und weitestgehende wirtschaftliche Freiheit. Das ist schlicht falsch. Auch die Idee, die Democrats würden sich mit ihren Forderungen nach einer höheren Millionärssteuer von der Mitte entfernen ist hanebüchen; wenn überhaupt so nähern sie sich ihr damit an. Ich werfe ungern den Vorwurf der Blase um mich, weil mit dem 2016 so viel Schindluder getrieben wurde, aber wenn der irgendwo passt, dann für Leute wie Schultz und diejenigen die glauben, es gäbe auch nur näherungsweise eine Mehrheit für dessen Ideen.

It is just that somehow, the “masters of the universe” who gather annually in Davos never managed to find enough money, or time, or perhaps willing lobbyists to help with the policies many will agree, during the official sessions, should be adopted. For example, increasing taxes on the top 1 percent and on large estates, providing decent wages or not impounding wages, reducing gaps between CEO compensation and average pay, spending more money on public education, making access to financial assets more attractive to the middle and working class, equalizing taxes on capital and labor, reducing corruption in government contracts and privatizations. [...] Not surprisingly, nothing has been done since the Global Financial Crisis to address inequality. Rather, the opposite has happened. Donald Trump has, as promised, passed a historic tax cut for the wealthy; Emmanuel Macron has discovered the attraction of latter-day Thatcherism; the Chinese government has slashed taxes on the rich and imprisoned the left-wing students at Peking University who supported striking workers. In Brazil, Jair Bolsonaro seems to consider praise for torture and the rising stock market as the ideal mélange of modern capitalism. [...] Over the past fifty years, the language of equality has been harnessed in the pursuit of the most structurally inegalitarian policies. It is much easier (and profitable), apparently, to call journalists and tell them about nebulous schemes whereby 90 percent of wealth will be—over an unknown number of years and under unknowable accounting practices—given away as charity than to pay suppliers and workers reasonable rates or stop selling user data. They are loath to pay a living wage, but they will fund a philharmonic orchestra. They will ban unions, but they will organize a workshop on transparency in government. (Branko Milanovic, Pro Market)
Das Fundstück hier ist eine gute Ergänzung zu Fundstück 11. Die Wirtschaftseliten haben ein völlig verschobenes Selbstbild. Ihre Verortung in der Mitte der Gesellschaft, von wo aus sie einer polarisierten Politiklandschaft vernünftige Ratschläge zuwerfen (Hallo, Fundstück 7) und sich in der Zustimmung der Mehrheit baden können, ist völlig irre. Da braucht es eigentlich nicht die Holzhammermetapher eines Gipfeltreffens der Dekadenz in Davos. Bisher schirmt ihr Reichtum diese Eliten von den Folgen ihres eigenen Handelns ab. Aber das muss nicht immer so bleiben. Ich habe bereits im letzten Vermischten festgestellt, dass sie langfristig ihren eigenen Interessen schaden, wenn sie diese Haltung verfolgen. Es ist die immer gleiche Varation von Lenins "Die Kapitalisten werden uns noch die Stricke verkaufen, an denen wir sie aufhängen werden." Zwar verkauften die Kapitalisten Lenins Erben am Ende das Getreide, mit dem sie das Scheitern seines Experiments kaschieren konnten, aber die ständige Drohung scheint diesen Eliten tatsächlich zu fehlen. Zu Zeiten des Realsozialismus waren sie sich ihrer Schwächen und Interessensüberlappungen besser bewusst.

Sonntag, 17. Februar 2019

Logische Trugschlüsse und kognitive Verzerrungen

Ich habe in den Kommentaren in letzter Zeit immer wieder Begrifflichkeiten aus dem Bereich der "logical fallacy", auf Deutsch Trugschlüsse, benutzt. Da diese nicht allgemein bekannt zu sein scheinen, möchte ich an dieser Stelle kurz die verschiedenen Trugschlüsse erklären, da ich sie für insgesamt ein sinnvolles Konzept halte. 

Vogelscheuchen-Trugschluss (Strawman fallacy) Anstatt sich mit dem Argument an sich auseinanderzusetzen, wird eine Vogelscheuche des Arguments aufgebaut und stattdessen bekämpft. Dies wird meist durch eine von zwei Möglichkeiten erreicht. Entweder man reißt einen Teil eines Arguments aus dem Kontext, so dass es in einem anderen Licht erscheint, oder man vereinfacht das Ursprungsargument so weit, dass es sich leicht widerlegen lässt. Beispiel:
  • Argument: „Wenn ein Politiker einer Partei diese Aussage macht, dann ist er ein herzloser Unmensch.“
  • Vogelscheuchen-Trugschluss: „Die Partei ist gar nicht so! Dein Argument ist falsch!
In diesem Fall wird das Argument widerlegt, ALLE Politiker der Partei seien herzlose Unmenschen. Dieses ist natürlich, wie jedes zu pauschale Urteil, leicht zu widerlegen - und zieht die Debatte erfolgreich von ihrem eigentlichen Gegenstand weg.

Ad-Hominem-Trugschluss (Ad hominem fallacy) „Ad hominem“ ist Latein für „zum Menschen“. Gemeint ist, dass der Mensch selbst statt des Arguments attackiert wird. Dies geschieht meist entweder durch einen Angriff auf den Charakter der jeweiligen Person, die ihr jegliche Autorität abspricht, oder durch ein „tu quoqe“ („Du machst das Gleiche“), wodurch der Person die Autorität abgesprochen wird, weil sie heuchelt. Beispiel:
  • Argument: „Fastfood ist schlecht für die Menschen, weil es ungesund ist und die Angestellten zudem ausgebeutet werden.“
  • Ad hominem-Trugschluss: „Du magst keine Katzen. Nur Unmenschen mögen keine Katzen. Deine Argumente sind daher falsch.“
  • Tu-quoque-Trugschluss: „Ich habe dich gestern drei BigMacs verdrücken sehen. Du kannst McDonalds also gar nicht kritisieren.“
In den obigen Fällen wird aus dem negativen Charakterzug, keine Katzen zu mögen, ein Ad-hominem-Trugschluss auf dessen Argument begangen. Im zweiten Fall, der sehr beliebt ist und letzthin etwa bei Greta Thunberg beobachtet werden konnte, wird von persönlich heuchlerischem Verhalten auf die Richtigkeit des zugrundeliegenden Arguments geschlossen. Das hat aber in beiden Fällen nichts mit dem ursprünglichen Argument zu tun.  

Schwarz-und-Weiß-Trugschluss (Black-and-White fallacy) In diesem Trugschluss wird eine Wahl zwischen zwei Extremen als einzige Möglichkeit angeboten und so Komplexität reduziert. Eine weitere Auswahlmöglichkeit besteht nicht; die Vorstellung, Argumente beider Seiten gut und andere beider Seiten schlecht zu finden wird nicht akzeptiert. Beispiel:
  • Argument: „Wir sollten die Erbschaftssteuern erhöhen, um eine bessere Vermögensverteilung in der Gesellschaft zu erreichen.“
  • Schwarz-Weiß-Trugschluss: „Wer Steuern erhöht, schadet der Wirtschaft. Wir müssen alle Steuern senken, um ihr zu helfen.“
Im obigen Beispiel wird die Diskussion über eine spezifische Steuererhöhung auf eine simple Wahl zwischen pauschaler Steuererhöhung und pauschaler Steuersenkung reduziert. Alternativen werden dabei vollkommen ausgeschlossen.  

Autoritäts-Trugschluss (Authority fallacy) Das Argument einer Person wird akzeptiert, weil ihr eine Autorität zugesprochen wird, die diese nicht besitzt. Dieses Argument richtet sich dezidiert nicht gegen echte Autoritäten, sondern gegen solche, die keinerlei Expertise auf dem Feld des Arguments besitzen. Beispiel:
  • Argument: „Die Globale Erwärmung existiert und ist ein echtes Problem.“
  • Autoritäts-Trugschluss: „Mein Vater ist Ingenieur, und er sagt, dass das alles Unsinn ist.“
Dieser Trugschluss ist ziemlich leicht nachvollziehbar. Problematisch wird er häufig dadurch, dass die Expertise echter Autoritäten so in Zweifel gezogen wird. Dies ist besonders in der Klimadebatte oft zu beobachten, wo etwa US-Medien einem Klimawissenschaftler ein Kongressmitglied als gleichberechtigten Gesprächspartner entgegenstellen, obwohl letzterer keine fachliche Qualifikation besitzt.  

Kein echter Schotte (No true Scotsman fallacy) Ein Argument, das auf Allgemeingültigkeit beruht und durch ein Gegenbeispiel widerlegt wird, kann zu einem „Kein echter Schotte“ werden, indem seine Einordnung angezweifelt wird. Dadurch wird per Ausgrenzung versucht, sich einer Widerlegung zu entziehen.
  • Argument: „Nicht alle Schotten sind nette und umgängliche Menschen. Man sehe sich nur Dagobert Duck an!“
  • Kein-Echter-Schotte-Trugschluss: „Der ist kein echter Schotte! Kein echter Schotte würde sich so benehmen!“
Dieses Ding ist besonders beliebt, wenn ein Mitglied der eigenen In-Group daneben liegt. Besonders beliebt beim Beweis, warum die letzte fehlgeschlagene Revolution ohnehin nie "wirklich" sozialistisch war und deswegen über die Qualitäten des "echten" Sozialismus nichts aussagt. Bei Rechten kommt das gerne in der Variante, dass der jeweilige Übeltäter kein "echter" Deutscher ist, vor.

Der Trugschluss-Trugschluss (Fallacy fallacy) Nur weil ein Gegner in seiner Argumentation einen logischen Trugschluss hat, bedeutet das nicht, dass sein Argument damit automatisch widerlegt ist.
  • Argument: „96% aller Wissenschaftler sagen, dass der Klimawandel real ist. Nur Idioten wie du können das bezweifeln!“
  • Trugschluss-Trugschluss: „Ha, ein ad-hominem-Trugschluss! Damit ist dein Argument ungültig.“
Das Nachweisen von Argumentationsfehlern als Widerlegung der Qualität des Ausgangsarguments ist oft auch ein kleiner Vetter des Tu-Quoque-Trugschlusses. Man muss da immer die Person vom Argument trennen.

Der texanische Scharfschütze (Texan sharpshooter fallacy) Wenn ein Argument auf der Basis von Informationen gemacht wird, die die Vorurteile des Sprechers widergeben, dann wird letztlich das Ziel um die Argumente herumgemalt – sie treffen immer, egal um was es eigentlich geht. Beispielhaft lässt sich dies an der nicht vergleichbaren empirischen Basis des folgenden Arguments:
  • Argument: „Wir brauchen mehr Schutz von Frauen am Arbeitsplatz!“
  • Texanischer-Scharfschütze-Trugschluss: „Männer werden immer diskriminiert! Viel mehr Männer als Frauen sterben im Beruf!“
Im obigen Beispiel müsste man Männer und Frauen im selben Beruf vergleichen, weil die empirische Basis ansonsten nicht stichhaltig ist. Der Trugschluss beruht darauf, dass versucht wird, eine bereits bestehende Annahme (Männer werden mehr diskriminiert als Frauen) zu belegen. Das Ziel steht also schon fest, bevor das Argument konstruiert wird.  

Ziellinie verschieben (Moving-the-goalpoasts fallacy) Nachdem ein eigenes Argument erfolgreich widerlegt wurde, erklärt man es dennoch für valide, indem einfach die Ziellinie für ein erfolgreiches Widerlegen verschoben wird.
  • Argument: „Wir sehen deutlich anhand der uns hinterlassenen Aufzeichnungen, dass sich das Klima erst in den letzten 150 Jahren geändert hat.“
  • Ziellinien-verschoben-Trugschluss: „Jaaaaaaaa, aber die Aufzeichnungen gehen ja nur 3000 oder 4000 Jahre zurück. Zeig mir Aufzeichnungen der letzten drei Millionen Jahre und wir reden darüber.“
Obiges Argument lässt den jeweiligen Argumentationspartner immer Recht haben; ein Beweis ist hier offensichtlich unmöglich. Das ist auch das Ziel derjenigen, die diesen Trugschluss begehen: durch eine stete Verschiebung der Ziellinie wird der Anspruch für das Akzeptieren des Gegenarguments so lange erhöht, bis es diesem nicht mehr genügt - bis ins Absurde hineinreichend, wie in obigem Beispiel.  

Argumentum ad populum (Argumentum-ad-populum fallacy) Die Richtigkeit eines Arguments wird durch Beschwörung der großen Unterstützerzahl unterstrichen. Die Menge der Menschen, die etwas glauben, sagt aber nichts über die Richtigkeit aus.
  • Argument: „Rassismus ist in Deutschland ein großes Problem.“
  • Argumentum ad polum-Trugschluss: „Viele Menschen stimmen zu, dass Rassismus in Deutschland kein großes Problem ist. Das wird völlig übertrieben.“
Im obigen Beispiel zeigt sich deutlich, dass die Menge der Deutschen, die persönlich Rassismus als Problem empfinden, für die Argumentation irrelevant ist. Rassismus betrifft fast immer nur eine Minderheit von Menschen innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Man muss hier aber vorsichtig sein, denn in vielen Fällen ist die Mehrheitsmeinung durchaus relevant - dies hängt immer vom Argumentationsgegenstand ab.

Neben den Trugschlüssen gibt es eine Reihe so genannter „kognitiver Verzerrungen“, die dafür sorgen, dass wir nicht vollkommen rational denken. Sich dieser Mechanismen, die in der menschlichen Psychologie angelegt sind, bewusst zu machen, hilft dabei, die eigene Argumentation ehrlich zu halten und auf solche Effekte hin abzuklopfen. Kognitive Verzerrungen haben übrigens durchaus einen evolutionären Vorteil. Erhalten wir widersprüchliche Informationen, entsteht in unserem Kopf eine so genannte „kognitive Dissonanz“, die unser Hirn auflösen möchte. Um angesichts der Masse der Eindrücke nicht überlastet zu werden, nutzt es die Verzerrungen als schnelle Helferchen. Deswegen empfinden wir die Auseinandersetzung mit neuen Ideen oft als anstrengend.

Ankerheuristik Die Metapher hier ist, dass bereits vorhandene Informationen als Anker dienen, an den sich spätere Impulse sozusagen anhängen. Dies kann auf zwei Arten geschehen. Entweder verzerren Anker durch das so genannte „Priming“ die Urteilsfindung, indem sie Assoziationen hervorrufen, die zu bereits vorhandenen Informationen passen. Beispielsweise kann die Idee, dass der Klimawandel eine reale Bedrohung ist, dafür sorgen, dass jegliche Informationen über Naturkatastrophen mit ihm in Verbindung gebracht werden, weil das Unterbewusstsein sofort diese Verbindung herstellt. Oder der Anker besteht aus den ersten Informationen zu einem Thema, die man erhält, und alle anderen Informationen, die zu einem späteren Zeitpunkt dazukommen, werden gegen diesen Anker abgeglichen. So sind die ersten Informationen, die viele Impfgegner zum Thema bekommen, von Websites, die diese Gefahren herausstellen (oftmals fälschlich), und spätere Informationen dringend dann gegen diesen etablierten Anker nicht mehr durch. 

Attributionsfehler Beim Attributionsfehler wird angenommen, dass ein Mitglied einer Gruppe solche Eigenschaften (Attribute) teilt, wie sie dieser Gruppe zugesprochen werden. So empfinden wir etwa Menschen, die unsere eigenen Überzeugungen teilen (und damit zu unserer Gruppe gehören) als sympathischer als Menschen, deren Ansichten wir nicht teilen, obwohl dies auf ihren Charakter eigentlich keine Auswirkungen haben dürfte. Ein grundlegendes Problem des Attributionsfehlers ist, dass dabei die Wirkung äußerer Faktoren systematisch unterschätzt wird. Stattdessen wird aus Eigenschaften einer Person auf all ihr Verhalten geschlossen. Attributionsfehler sind deswegen besonders häufig bei Verschwörungstheoretikern, weil diese nicht bereit sind, Zufall als Erklärung zu akzeptieren. Der Attributionsfehler ist zudem ein Kernproblem, das hinter Rassismus oder Sexismus steckt: man schreibt einer Gruppe ein bestimmtes Merkmal zu (etwa dass alle Asiaten besonders klug sind) und wendet dieses dann auf alle Mitglieder der Gruppe an. Im Beispiel würden Asiaten unfair bevorzugt werden, weil man ihnen ungeachtet ihrer tatsächlichen Fähigkeiten das Attribut „klug“ zuspricht und sie entsprechend positiv behandelt.

Bestätigungsfehler Eine der stärksten kognitiven Verzerrungen überhaupt ist der Bestätigungsfehler. Um kognitive Dissonanz zu vermeiden, wählt unser Gehirn im Zweifelsfall – also wenn nicht eine klare Überlegenheit einer von zwei widerstreitenden Informationen besteht – die aus, die unseren bisherigen Überzeugungen entspricht. Glauben wir also, dass der Klimawandel in Wahrheit gar nicht so schlimm ist und das Ganze maßlos übertrieben wird, und sehen im Fernsehen dann zwei Wissenschaftlerinnen darüber streiten, sprechen wir automatisch derjenigen mehr Kompetenz zu, die unsere vorgefasste Meinung bestätigt.

Dunning-Kruger-Effekt Der Dunning-Kruger-Effekt besagt, dass Menschen ihre eigenen Fähigkeiten umso höher einschätzen, je niedriger diese tatsächlich sind. Während Wissenschaftler und andere Experten etwa häufig ihren eigenen Wissensstand relativieren und auf abweichende Meinungen hinweisen oder eventuelle Wissenslücken betonen, steht auf der anderen Seite des Extrems die „Ich habe ein YouTube-Video gesehen und weiß über alles Bescheid“-Fraktion, die sich dann häufig auch kompetent genug fühlt, Experten Paroli zu geben, obwohl sie über weit weniger Fachwissen verfügt und sich oft objektiv gar kein Urteil bilden kann.

Moralische Lizenzierung Wer etwas Gutes getan hat, glaubt häufig, danach die Lizenz zu haben, etwas Schlechtes zu tun. Dies zeigt sich etwa, wenn jemand Vegetarier ist und mit dieser guten Tat seinen spritschluckenden Sportwagen rechtfertigt. Aber moralisches Verhalten funktioniert nicht so; man handelt entweder dem eigenen Wertesystem entsprechend oder nicht. Eine Art Punktekonto existiert nicht.

Rückschaufehler „Hinterher ist man immer schlauer“, lautet ein berühmtes Sprichwort. Die daraus resultierende Verzerrung nennt man den Rückschaufehler: Mit dem Wissen, wie es tatsächlich gelaufen ist, wird rückwirkend erklärt, dass es gar nicht anders kommen konnte und dass es immer schon klar war. Dies ist ein Phänomen, das etwa bei Wahlen oft beobachtet werden kann.

Verlustaversion Gibt man Menschen die Möglichkeit, ein Risiko einzugehen, um etwas zu gewinnen, lehnen viele das ab, weil sie den mit dem Risiko einhergehenden Verlust fürchten und wesentlich schlimmer beurteilen als den potenziellen Gewinn, selbst wenn dies objektiv irrational ist (Etwa: Bei einem Würfelwurf gewinnt man bei 1-5 zwei Euro und verliert bei 6 einen Euro).

Samstag, 16. Februar 2019

Auf der falschen Spur mit dem VWL-Lehrbuch in der Hand überholen wollen - Vermischtes 16.02.2019


Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
 
1) Everything you know about global order is wrong
The reality of the liberal order that supposedly came into existence in the postwar moment was the more or less haphazard continuation of wartime controls. It would take until 1958 before the Bretton Woods vision was finally implemented. Even then it was not a “liberal” order by the standard of the gilded age of the 19th century or in the sense that Davos understands it today. International mobility of capital for anything other than long-term investment was strictly limited. Liberalization of trade also made slow progress. The gradual abolition of exchange controls went hand in hand with the lifting of trade quotas. Only when these more elementary limitations on foreign trade were removed did tariff negotiations become relevant. GATT’s lumbering deliberations did not begin making major inroads until the Kennedy round of the 1960s, 20 years after the end of the war. And rising global trade was a mixed blessing. Huge German and Japanese trade surpluses put pressure on the Bretton Woods exchange rate system. This was compounded in the 1960s by the connivance of U.S. Treasury and U.K. authorities in enabling Wall Street to sidestep financial repression and launch the unregulated eurodollar market, based in bank accounts in London. By the late 1960s, barely more than 10 years old, Bretton Woods was already in terminal trouble. And when confronted with demands for deflation, U.S. President Richard Nixon reverted to economic nationalism. Between 1971 and 1973, he unhitched the dollar from gold and abandoned any effort to defend the exchange rate, sending the dollar plunging and helping to restore something closer to trade balance. If our own world has a historic birthplace, it was not in 1945 but in the early 1970s with the advent of fiat money and floating exchange rates. The unpalatable truth is that our world was born not out of wise collective agreement but out of chaos, unleashed by America’s unilateral refusal any longer to underwrite the global monetary order. What broke the deadlock was not some inclusive conference of stakeholders. The stakeholders in the 1970s were obstreperous trade unions, and that kind of consultation was precisely the bad habit that the neoliberal revolutionaries set out to break. The solution, as U.S. Federal Reserve chair Paul Volcker’s recent memoirs make embarrassingly clear, was blunt force wielded by the Fed. Volcker’s unilateral interest rate hike, the sharp revaluation of the dollar, deindustrialization, and the crash of surging unemployment dealt a death blow to organized labor and tamed inflationary pressure. The Volcker shock established so-called independent central bankers as the true arbiters of the new dispensation. (Adam Tooze, Foreign Policy)
Genauso wie mein eigener Beitrag zur Zerstörung von Mythen bezüglich des New Deal ist auch dieser Beitrag eine wichtige Korrektur, deren Lektüre nur empfohlen werden kann. Bretton Woods genießt gerade unter Linken einen geradezu mythischen Ruf, weswegen durchaus wichtig ist herauszuarbeiten, dass es eben nicht durch eine weise Grundsatzentscheidung einmal gebaut wurde und dann 20 Jahre lang für Wohlstand sorgte, sondern wie praktisch alle großen politischen Vorhaben und Systeme langsam und chaotisch entstand und sich ständig änderte. Das Gleiche gilt natürlich auch für das nachfolgende System der freien Wechselkurse, das auf den Lehren der Monetaristen aufbaute. Milton Friedman dürfte seine liebe Not damit haben, mit dem heutigen Status Quo identifiziert zu werden.
Die Lehre daraus sollte nun nicht sein, die Hände in die Luft zu werfen und sich in Nihilismus zu ergehen oder ins ideologische Extrem verfallen zu wollen, dass irgendwelche schicksalhaften Kräfte (etwa der Markt) das alles schon irgendwie regeln. Es geht eher um ein gesundes Maß an Realismus. Keine Einzelperson, weder ein John Maynard Keynes noch ein Franklin Delano Roosevelt, weder ein Milton Friedman noch ein Ronald Reagan, wird das System grundlegend ändern. Das sieht häufig nur in der verklärten Rückschau so aus, weil die Menschen Narrative über einzelne Personen der Realität langsamer, inkrementeller institutioneller Veränderung deutlich vorziehen. Aber so ist eben die Realität: Jeder schraubt ein bisschen am bestehenden System herum, und oft genug sind die Änderungen erst sehr viel später spürbar.
Obama hatte dazu einen guten Vergleich: er erklärte den Staat als einen Öltanker, dessen Kurs sich nur sehr langsam ändern lässt. Aber eine Zwei-Grad-Änderung ist kurzfristig zwar irrelevant, hat aber langfristig entscheidende Konsequenzen auf den Kurs des Tankers. Und genau das ist das Paradox der Politik: jede einzelne umstrittene Maßnahme ist stets nur ein kleine Veränderung am Gesamtsystem, ist in ihrer Auswirkung auf das Ganze scheinbar vernachlässigbar. Aber insgesamt ändern sie über Jahre und Jahrzehnte den Kurs des Landes und der Gesellschaft entscheidend. Der harte politische Kampf um diese Maßnahmen ist also gleichzeitig völlig übertrieben und unterschätzt.

2) Wer sich meldet, gerät unter Druck
Fallschirmjäger Felix W. berichtet uns, wie Kameraden in Pfullendorf rechtsradikales Gedankengut von sich gaben. "Ein Soldat ist im Rahmen des täglichen Dienstbetriebes aufgefallen, indem er regelmäßig Stimmlage beziehungsweise Aussagen Adolf Hitlers nachgeahmt hat. Das hat aber die weiteren Kameraden, die es mitbekommen haben, nicht weiter gestört." Dieser Soldat habe auch bei offener Zimmertür über die Existenz eines Juden-Gens schwadroniert in Anlehnung an die NS-Rassenideologie. "Genauso wurde das Wort Jude als Beschimpfung genutzt, um den entsprechenden Kameraden damit zu beleidigen." Auch über rassistische "Negerreime" hätten sich Kameraden amüsiert. Als Felix W. einmal in den Waschraum kam, las ein Soldat seinen Kameraden gerade aus einem Buch vor mit dem Satz "Die arische Kämpferseele wird es schon richten." Er meldet seine Beobachtungen an den Militärischen Abschirmdienst, kurz MAD. Dieser soll Extremismus in der Truppe aufspüren und bekämpfen. Es kommt zu Vernehmungen in Pfullendorf. Doch die Kameraden bestreiten wohl alles. Stattdessen beschuldigen sie Felix W. mit der angeblichen Stramm-Stehen-Geschichte. Er gilt als "Nestbeschmutzer". "Ich persönlich hatte den Eindruck, dass man falsch verstandenen Korpsgeist dort gelebt hat und die Kameradschaft viel zu hoch angesetzt hat in dem Moment und damit ein Wegschauen begründet wurde." Felix W. hat den MAD noch über weitere handfeste Fälle mit rechtsextremen Tendenzen informiert, die ihm aufgefallen sind. Wie bei diesem Soldaten – der noch in der Bundeswehr ist und in einem Facebook-Post die typische Reichsbürger-Ideologie vertritt: "Wir sind eh alle staatenlos" "Souverän sind wir genauso wenig." nur "dumme Arbeiter, die einer großen GmbH angehören." Ein anderer Soldat bekennt sich ganz offen zur rechtsextremen NPD. Felix W. hat eine ganze Menge an Belegen zusammengetragen, sein Dossier auch ans Ministerium und den Verteidigungsausschuss geschickt. Warum ist er so akribisch? "Das hat jetzt nichts mit Political Correctness zu tun in dem Sinne, sondern letztlich war es die Intention zu sagen, ich möchte nicht in einer Bundeswehr dienen, wo Extremisten gleich welcher Art und Weise, aus welchem Spektrum auch immer ihren Dienst versehen können." Doch er bekommt überraschend ein Schreiben vom Bundeswehr-Personalamt. Man wolle seine Entlassung – als entscheidenden Grund nennt die Bundeswehr tatsächlich: Er habe sich vielfach mit Meldungen und Beschwerden an verschiedenste Stellen gewandt, Zitat "in denen Sie anhaltend vorgeben, auf mögliche rechtsextreme Tendenzen und auf undemokratisches Verhalten (…) hinweisen zu wollen." Auch deshalb sei er charakterlich für die Bundeswehr nicht geeignet. (RBB)
Nur ein weiterer Einzelfall rechtsextremer Tendenzen bei der Bundeswehr. Weist bestimmt nicht auf ein systemisches Problem hin.

3) The wealthy are victim of their own propaganda
I’ve argued elsewhere that we can pay for a Green New Deal and that the obsession with finding a dollar of new “revenue” to offset every new dollar of spending is the wrong way to approach the federal budgeting process. My views belong to the macroeconomic school of thought known as Modern Monetary Theory — MMT, for short. My wealthy friend doesn’t want to pay for your child care. He doesn’t want to help pay off your student loans. And he sure as heck doesn’t want to shell out the big bucks for a multi-trillion-dollar Green New Deal. So where does that leave Democrats, who insist that they need the rich to pay for their progressive agenda? Here’s what I told him. “I am with the Democrats. I want to see us build a cleaner, safer, more prosperous world. I agree with billionaire hedge-fund manager Ray Dalio, who argues that inequality has become so extreme that it should be declared a “national emergency” and dealt with by presidential action. “And I worry very much that it may prove impossible to raise taxes on the ultra-wealthy (who have enormous political power). Then what? The planet burns, our third-world infrastructure falls into total disrepair, and our society becomes ever more bifurcated until the tensions reach a boiling point and…. The pitchforks are coming. “The problem is that every politician is confronted with the question, “How are you going to pay for it?” What these journalists are really asking is, ‘Who’s going to pay for it?’ “The question is designed to stop any meaningful policy debate by dividing us up, and get us fighting over where the money is going to come from. Since none of the headline politicians has really figured out how to respond -- by explaining that when Congress approves a budget, the Treasury Department instructs the Federal Reserve to credit a seller’s bank account -- they all end up trying to answer it by pointing to some new revenue source. [...] “To be blunt, the super-rich have become victims of their own successful marketing campaign. Conservative billionaires like Pete Peterson spent decades complaining about debt and deficits, putting enormous sums of money into a PR campaign to turn politicians and the public against deficit spending. (Stephanie Kelton, Bloomberg)
Ich halte diese These für ungeheuer wichtig. Tatsächlich haben sich die Reichen mit ihrem beständigen Kreuzzug gegen Staatsschulden selbst in den Fuß geschossen. Nicht nur sind sie ohnehin für ihre Portfolios mit darauf angewiesen, dass Staaten wie Deutschland oder die USA Schulden machen - wo sollen denn sonst die sicheren Anlagen herkommen? -, sondern die Nutzung der Obergrenzen als Knüppel zur Senkung der Sozialausgaben fällt nun wieder auf sie zurück. Ich habe schon vor Jahren gesagt, dass die Linke aufhören sollte, gegen die Schuldengrenze im Grundgesetz zu argumentieren und sie stattdessen als Hebel für ihr Argument höherer Reichensteuern zu nutzen.
Denn die Erfinder der Schuldenbremse dachten sie als Instrument, die Staatsausgaben insgesamt zu begrenzen. Das war von Anfang an die Intention: eine Regel ins Grundgesetz zu schreiben, über die man den Sozialstaat schleichend kürzen kann, weil grundgesetzliche Zwänge dem parteilichen Streit enthoben sind. Aber das erforderte von Anfang an die Mitarbeit der progressiven Opposition, die bislang auch gegeben ist. Der linke Rand opponiert gegen die Schuldenbremse generell (eine praktisch aussichtslose Position), während der Rest versucht, randständig darum herzumzuarbeiten. Gerade in den USA zeigt sich aber immer mehr, dass die Schuldengrenze auch in die andere Richtung arbeiten kann. Wie Kelton so richtig sagt: die Mistgabeln werden ausgepackt.

4) We need a scorched-earth-campaign against health-care providers
But let’s put that aside for a moment and ask ourselves: Are Americans really in love with their health insurers? Given the way health insurers treat people, that’s hard to believe. Americans do seem to be in love with their doctors, but that’s an entirely different thing. But maybe I’m wrong. If so, what’s needed is a scorched-earth, Republicanesque jihad against health insurers. Blanket the airwaves with horror stories of insurance companies denying claims. Get some telegenic doctors to show off their staff and tell us that these people spend 100 percent of their time arguing with insurance companies to get fair treatment for their patients. “It adds $50 to every visit,” or something like that. Pan over to gravestones of people who died because their insurance company refused treatment. You get the idea. I truly don’t think it would take much to turn insurance companies into pariahs. People already bitch about them endlessly, after all. At a guess, every single person reading this knows someone who has personally had to spend dozens or hundreds of hours on the phone with an insurance carrier to adjudicate some complicated bit of medical care. (Kevin Drum, Mother Jones)
Ein weiteres Beispiel in der Reihe, dass die Linke sich vom Ansatz der Kooperation und überparteilichen Kompromisse mit ihren Gegnern entfernt, wie er unter Obama gepredigt wurde, kommt hier von Kevin Drum. Unter Obama galt die Devise, dass die Versicherer "a place at the table" haben sollten, um die Zukunft des Systems zu debattieren. Die Radikalisierung der Linken, die derzeit auf allen Ebenen zu beobachten ist (und das ist eine sehr relative Radikalisierung, die man durchaus auch als Normalisierung bezeichnen könnte), sorgt dafür, dass dieser Ansatz der Vergangenheit angehören dürfte. Wann auch immer die Democrats wieder einen Präsidenten im Weißen Haus stellen dürfte eine deutlich konfrontativere Gangart angesagt sein. Ich blicke auf diese Entwicklung mit sehr gemischten Gefühlen.

5) Portgual hat das Rezept gegen Rechtspopulisten gefunden
Die Sozialdemokraten erhöhten die von den konservativen Vorgängern gekürzten Löhne und Pensionen, führten Urlaubstage wieder ein und nahmen Steuererhöhungen zurück. Gleichzeitig erhöhte Costa Reichensteuern wie die Erbschafts- und Vermögenssteuer. Mit der Zusatzgrundsteuer führte die Regierung eine Vermögenssteuer auf Immobilien ein, von der die Wohnungen und Häuser einfacher Leute ausgenommen sind. Außerdem ist Schluss mit ruinösen Privatisierungen, wie sie noch vor Jahren der Fall waren, als die Konservativen unter EU-Anleitung das Staatsvermögen weit unter Marktpreis verkauften. [...] In Rekordzeit vom Sorgenkind zum Vorzeigeschüler: In Portugal herrscht nun Aufbruchsstimmung. Costa hat der Bevölkerung ihren Stolz zurückgegeben, nachdem die harten Sparprogramme der Europäischen Union und die gescheiterte Vorgängerregierung dem Land massiv zusetzten. Das schlägt sich auch in den Umfragen nieder: [...] Für die Minderheitsregierung mit den beiden Linksparteien wird für die Parlamentswahl ein Ergebnis von 60 Prozent prognostiziert. [...] Die ARD berichtete daher schon vom „Land ohne Rechtspopulisten“. In diesem politischen Klima des Aufbruchs bekommt die Rechte in Portugal keinen Fuß auf den Boden – der Patriotismus wird von den Linken besetzt. [...] Der bemerkenswerte Wirtschaftsaufschwung der verganenen Jahre soll aber erst der Anfang sein. Unter den Sozialdemokraten ist die Wirtschaft so stark gewachsen, dass sie dieses Geld jetzt noch stärker investieren und der Bevölkerung zurückgeben wollen. Portugal soll mit den steigenden Einnahmen gerechter und moderner werden, nachdem die Konservativen die Infrastruktur zuvor herabgewirtschaftet haben. Costa stellte deshalb ein nationales Investitionspaket vor und überraschte wieder: mit 20 Milliarden Euro geht es um ein Megavolumen für ein kleines Land wie Portugal. 60 Prozent der Summe fließt in den öffentlichen Verkehr. Der Rest wird in den Energiebereich und in Umweltprojekte investiert. (Matthias Punz, Kontrast.at)
Passend zu Fundstück 4 findet sich hier ein Beispiel aus Portugal. Genauso wie die rechten Parteien wahrscheinlich keine Wahl haben, als ihr Profil wieder durch rechte identity politics schärfen, wird auch die Linke nicht umhin kommen, sich vom pragmatischen Moderatismus des Dritten Weges zu entfernen und Alternativen anzubieten. Ich stehe wenig überraschend den linken Alternativen deutlich offener gegenüber als den Rechten, und ich sehe weiterhin die deutliche Gefahr auf beiden Seiten, dass ein einfaches Kopieren der jeweiligen radikalen Opposition wenig hilfreich sein dürfte. Was man aber gerade von den Democrats in den USA oder den Portugiesen hier sieht, weckt ja durchaus Hoffnungen. Auch Syriza in Griechenland kann, zumindest in dieser Beziehung, als Erfolgsmodell bezeichnet werden. Die Neonazis dort spielen eine wesentlich kleinere Rolle, als dies angesichts der Lage des Landes zu erwarten wäre. Wie in so vielen Teilen der weltweiten Sozialdemokratie nutzt dabei auch Portugal eine Version des Green New Deal als übergeordnetes Konzept der staatlichen Investitionen, was sicherlich der richtige Weg in dieser Beziehung ist. Jetzt müsste die Botschaft nur noch bei SPD und Grünen ankommen...

6) Rechtspopulismus ist so erfolgreich, weil er mit der Mitte kompatibel ist
„Um dagegen halten zu können. Zum Beispiel müssen wir verstehen, wie stark wir alle, also nicht nur ,Nazis’, von rechtspopulistischer Rhetorik beeinflusst und verführbar sind. Niemand ist gefeit davor. Rechtspopulismus ist so erfolgreich, weil er mit der Mitte kompatibel ist und seine Schnittmengen mit dem Extremismus systematisch verwischt. Er gibt sich bürgerlich und argumentiert oft nicht explizit rassistisch oder antidemokratisch, sondern pocht auf bürgerliche Werte wie Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung und Demokratie. Auf diese Weise schafft Rechtspopulismus Querverbindungen zu konservativen, liberalen oder gar linken Milieus. Rechtspopulismus ist also nicht einfach ein Phänomen der Rechten. Das normal werden rechter Positionen passiert in unser aller Nahbereichen und nicht zuletzt in uns selbst.” [...] „Medien müssen sich fragen, inwiefern sie mit bestimmten Framings und Zuspitzungen rechtspopulistischer Rhetorik aufsitzen. Da gibt es mittlerweile, zum Glück, eine kritische Debatte. Zum Beispiel darüber, wie mit rechten Kampfbegriffen wie ,Flüchtlingswelle’ oder ,Kopftuchmädchen’ umgegangen wird, inwiefern Medien Wirklichkeit herstellen, wenn sie fast ausnahmslos über die Probleme von Migration berichten. Die ausschliesslich negative Politisierung alltagsweltlicher Differenzen zwischen ,uns’ und ,den anderen’ ist rechtspopulistisches Kerngeschäft, dazu gehören permanente identitätspolitische Abgrenzungen wie ,bei uns leben wir so’, ,wir sprechen so’. Auch werden jene Probleme in den Vordergrund gestellt, die nicht oder nur schwer in Kompromisse zu überführen sind (z.B. Zwangsehe, Zwangsverschleierung, Genitalbeschneidung). Ich denke, Medien sollten die Klaviatur der maximalen Unvereinbarkeit nicht ebenfalls dauernd bespielen, sondern auch die integrierenden, die gemeinsamen und geteilten Ebenen der Menschen thematisieren.” (Franziska Schutzbach, Edition F)
Populismus ist per definitionem mit der Mitte kompatibel. Das Spezifische am Rechtspopulismus ist glaube ich eher seine Kompatibilität mit dem Bürgertum, ein Feature, das der Linkspopulismus nie hatte (der dafür etwa mit Akademikern kompatibel ist, was der Rechtspopulismus nicht gerade erfüllt). Das war ja das beherrschende Thema der Weimarer Republik. Der Linkspopulismus dort bedrohte die Demokratie ja gerade deswegen nicht so stark wie der von rechts, weil die Massenbasis eine ganz andere war. Die KPD konnte zwar unter Arbeitern und Arbeitslosen sowie einigen Intellektuellen punkten (was ihr zu ihren Höchstständen um die 20% half), aber nie ins Bürgertum einbrechen. Als dieses sich von den demokratischen Parteien ab- und den Rechtspopulisten zuwandte, brach die Weimarer Republik zusammen - und die NSDAP erreichte ihre Höchststände unter freien Wahlen von rund 40%.
Populismus ist aber, erneut, per definition mit der Mitte kompatibel. Was ihn auszeichnet ist ja gerade nicht seine Randständigkeit, sonst wäre er nicht populistisch, sondern nur extremistisch. Er hat ja eine breite Basis in dem, was Politiker und Journalisten in Österreich gerade wieder ohne jedes Schamgefühl das "gesunde Volksempfinden" nennen. Seine Gefahr, ob links oder rechts, ist nicht, dass er keine Massenbasis besäße, sondern gerade, dass er diese hat. Die Verführung leichter Lösungen und klarer Schuldiger ist es, die ihn auszeichnet, unabhängig der politischen Richtung.

7) Kein Kampf: Roland Tichy macht sich zum Opfer


Roland Tichy arbeitet daran, als großer Nichtkämpfer für die Pressefreiheit in die Geschichte einzugehen. Der bekannte Publizist behauptet, dass man in Deutschland Wahrheiten nicht mehr aussprechen darf, die den Mächtigen missfallen. Und anstatt für das Recht zu kämpfen, die Wahrheit zu sagen, gibt er kampflos auf. Anstatt sich mit den Mächtigen anzulegen, geht er der Auseinandersetzung mit ihnen aus dem Weg. Das ist effektiver, als es klingt. Denn er nimmt die eigene Kapitulation als Beleg dafür, dass man Wahrheiten nicht mehr aussprechen darf, die den Mächtigen missfallen. Und er gibt seinen Nichtkampf als heroischen Kampf aus. [...] Tichys ursprünglicher Artikel war ein übles Machwerk, aber seine Reaktion auf die Abmahnung ist besonders perfide. Er wird wissen, warum er eine juristische Auseinandersetzung scheut: Er müsste all seine forschen und extrem aggressiv formulierten Behauptungen von der Parteipropaganda belegen, die die SPD zentral gesteuert über Medien wie das RND verbreite. Durch seine Kapitulation kann er seine Behauptungen als wahr erscheinen lassen, ohne sie beweisen zu müssen. Durch seine Kapitulation kann er auch den Eindruck erwecken, dass man Tatsachen nicht aufschreiben darf, die der SPD nicht gefallen: Er geht einer juristischen Auseinandersetzung aus dem Weg, die eine Grenze ziehen könnte zwischen zulässiger Kritik und unzulässiger Verleumdung – und kann so die Illusion aufrecht erhalten, es gebe eine solche Grenze gar nicht. Tichy verleumdet die Madsack-Medien, inszeniert sich aber, wenn die sich wehren, als Opfer. Dann gibt er kampflos auf, um sich als Kämpfer präsentieren zu können. Und seine rechten Mitstreiter erfüllen seine Mission, indem sie ihn entsprechend feiern und, wie von ihm nahegelegt, als Opfer eines Willkürregimes darstellen. (Stefan Niggemeier, Übermedien)
Das wirklich ätzende an dieser Strategie der neuen Rechten ist, dass es funktioniert. Beständig sägen diese Leute am Fundament von Rechtsstaat und Meinungsfreiheit herum, und sie werden dafür auch noch belohnt. Beispiele wie Tichy hier zeigen dabei vor allem auch, wie feige diese Leute in Wirklichkeit sind. Wie überall, ob in den USA oder Ungarn, Polen oder Deutschland, stecken hinter den großen Macho-Posen und dem Alpha-Gehabe kleine, armselige Würstchen ohne Rückgrat. Das ist vielleicht das Schlimmste am Erfolg dieser Gurken: dass sie eine so unglaublich mittelprächtige Klasse von Bösewichten sind. Die Banalität des Bösen im 21. Jahrhundert, sozusagen.

8) Freiheit der Filterblase
Null. So lautet die Zahl der Menschen, die in der vergangenen Woche in Deutschland aufgrund von Meinungsäußerungen verhaftet wurden und in Folterkammern verschwunden sind. Genau wie in der Woche zuvor. In die Wohnung des Merkel-Kritikers und Altgläubigen Matthias Mattussek ist weder der Staatsschutz noch die Religionspolizei eingedrungen. Selbst der ehemalige Handballer Stefan Kretzschmar redet nach wie vor frei von der Leber weg. Dennoch wird eine wortreiche Debatte darüber geführt, ob wir in diesem Land noch Meinungsfreiheit genießen. Offenbar ist einem großen Teil derjenigen, die Meinungsfreiheit jeden Tag in Anspruch nehmen, überhaupt nicht mehr klar, was diese bedeutet. Meinungsfreiheit heißt, dass jeder Mensch seine Meinung äußern darf, ohne dass ihm dadurch Diskriminierung oder Verfolgung drohen – insbesondere durch den Staat. [...] Dass in Deutschland 2019 scheinbar plötzlich massenhaft Bürger glauben, um ihre Meinungsfreiheit kämpfen zu müssen, könnte in einem Missverständnis begründet sein. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass man Freiheit von der Meinung anderer Leute genießt. Sie gilt für alle und damit unbequemerweise wechselseitig. Eine Meinung zu äußern, birgt stets das Risiko, dass jemand anderes dies auch tut – und widerspricht. Stefan Kretzschmar darf deshalb zwar straffrei im Fernsehen allerhand Unsinn behaupten. Ein Sponsor darf dann aber der Meinung sein, dass Stefan Kretzschmar nicht die richtige Person für seine Imagewerbung ist. (Dr. Deutsch, Salonkolumnisten)
Passend zu Fundstück 7) haben wir hier noch eine Erklärung dafür, was Meinungsfreiheit eigentlich ist. Gerade von rechts kommt diese ungeheuerliche Weinerlichkeit, wenn man sie kritisiert. Ich kenne das noch gut selbst. In den 2000ern, als ich meine linke Phase hatte, habe ich die gleichen Vorwürfe ständig vorgebracht. Meine bevorzugte Meinung war nicht gerade mehrheitlicher Konsens, und jede Kritik wurde immer als ungehörig, wahlweise von bösen Mächten beeinflusst oder diesen angehörig, empfunden. Meine Blogarchive aus dieser Zeit erzählen die entsprechende Geschichte.
Ich würde die Argumentation oben noch in soweit ergänzen, dass Zensur per offizieller Definition zwar nur vom Staat kommen kann und entsprechende Ausschlüsse durch Privatunternehmen erst einmal per se keine Bedrohung der Meinungsfreiheit sind. Aber in einem Zeitalter von Google, Facebook und Co kann man nicht mehr ernsthaft behaupten, dass hier eine so klare Trennung aufrechterhaltbar wäre. Durch die Globalisierung haben wir Unternehmen, die deutlich mehr Einfluss haben als viele Staaten. Wenn diese Unternehmen aufgrund arbiträrer Regeln ihre für das Zusammenleben im 21. Jahrhundert unabdingbaren Plattformen unzugänglich machen, ist das natürlich auch ein Eingriff in die Meinungsfreiheit. Aber das ist ein spezifisches Problem der Tech-Giganten, das durch entsprechende Regeln gelöst werden müsste. Sieht man sich an, wie sehr die jeglicher Fachkompetenz mangelnden Parlamente diesbezüglich im Würgegriff der Lobbyisten stecken, kann man da nicht optimistisch sein.

9) Falsch abgebogen
[Henryk M. Broders] Abstieg vom gesellschaftlich relevanten Berufsprovokateur zum publizistischen Arm der Mistgabelfraktion war schleichend. Seine Texte blieben ihrem Stil immer treu, ob er nun über akademische Israelhasser schrieb, über die unhaltbaren Zustände in Neukölln oder den linken Realitätsverlust, wenn mal wieder irgendwo eine Lichterkette das Ende des Faschismus ausrief. Lange war das erfrischend, weil es außer Broder fast keiner so benannte. Doch diese Zeiten sind vorbei. In einer Zeit, da die sozialen Medien auf Knopfdruck jeden gewünschten Grad an zwischenmenschlicher Jauche zur Verfügung stellen, hat sich das Konzept des betont Unangepassten überlebt. Broder ist nicht mehr der Einzige, der an der Bundesrepublik nichts ernst nehmen kann, nur dass die New Kids on the Block seine Positionen mit deutlich mehr Boshaftigkeit vertreten. Anstatt sich aber dieser Usurpation entgegenzustellen, hat ein geschmeichelter Broder offenbar lieber beschlossen, mit den Wölfen zu heulen. Aus dem Broder, der zusammen mit Eike Geisel die Missverständnisse einer selbstgerechten deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ aufspießte, wurde der Broder, der Kriegsflüchtlinge mit Ungeziefer in Verbindung brachte* und sich vor laufender Kamera von der Vorsitzenden der wichtigsten NS-Relativierungspartei in Deutschland umarmen ließ. Damit heulte er nicht länger nur mit den Wölfen, er biederte sich ihnen an. Lauwarme Semi-Entschuldigungen, die pflichtschuldig nachgeschoben werden, machen daran nichts besser. (Richard Volkmann, Salonkolumnisten)
Ein interessantes und sehr mitfühlendes Porträt von Henryk M. Broder. Ich bin mit dem Kerl nie ganz warm geworden. Ich habe seinerzeit "Gebt den Juden Schleswig-Holstein! Wenn Deutsche Israel kritisieren" gelesen. Das war tatsächlich ein ziemlich interessantes Buch. Aber ich fand Broder immer darin problematisch, dass er für mich nie ganz die Kurve zwischen dem Hofnarren, der durch Spott und Übertreibung auf existierende Probleme hinweist und damit eine wertvolle Funktion erfüllt, und reinem Troll, der halt provoziert um Aufmerksamkeit zu generieren, gekriegt hat. Mag auch an meinen eigenen ideologischen Überzeugungen gelegen haben.
Unabhängig von Broders Person ist seine Vereinnahmung durch Alice Weidel der beste Beweis dafür, dass "mit Rechten reden" eine absolut beknackte Idee ist. Mit den Wählern der Rechten zu reden ist sicherlich in bestimmten Fällen sinnvoll, nämlich dann, wenn diese Wahl als Protestwahl stattfindet. Aber mit überzeugten Rechten offene Streitgespräche zu führen legitimiert diese nur. Was von Broders "Dialog" mit der AfD-Fraktion bleiben wird, ist dieses Bild von Weidel, die ihn umarmt. Er hat es auf seine alten Tage geschafft, von den Rechtsextremen kooptiert zu werden. Hat er neue Einblicke gewonnen? Hat er bei jemand in der AfD einen Reflexionsprozess in Gang gesetzt? Bitte.
Ich verstehe auch einfach nicht, warum den Rechtspopulisten eine Behandlung zugestanden wird, die die Linken nie bekommen haben. Zwischen 2004 und 2013 bestand die Systemopposition in Deutschland aus der Partei DIE LINKE, und niemand hat ein besonders großes Bedürfnis verspürt, mit ihr oder ihren Wählern zu reden. Eine Ostrakisierung und ein Von-oben-herab-behandeln war völlig normal, die Ausgrenzung die praktizierte Strategie. Und das Absurde ist, es hat sich ja bewährt. Die LINKE hat nie ernsthaft ihre knapp zweistelligen Ergebnisse geschlagen; "8%+X" bleibt seit der Bundestagswahl 2005 die offizielle Zielmarke der Partei. Warum man glaubt, bei den Rechten genau den gegenteiligen Kurs einschlagen zu müssen, ist mir schleierhaft.

10) An inheritance tax is the best weapon against Trump's oligarchy
Taxing the very rich has always been popular. Proposals to tax wealth are especially popular. Representative Alexandria Ocasio-Cortez’s proposal to raise the top income tax rate to 70 percent has a net favorable rating of plus 13 percent, while Warren’s plan to tax wealth over $50 million has a net favorable rate of plus 41 percent. Even Republicans like the idea: [...] Why tax income from inheritance at a higher rate than income from other sources? The logic is perfectly intuitive. High incomes serve a social purpose when they reward hard work and innovation. High incomes from being born rich serve no such purpose. Taxing inherited wealth at a higher rate than earned wealth makes sense from both the standpoint of economic efficiency and the standpoint of social fairness. [...] The Trump era hasput an especially fine point on the entrenchment of economic privilege. Trump is the visible representative of American oligarchy. He was raised wealthy and taught the importance of manipulating rules and cultivating political connections that would allow him to protect and expand his fortune, which he has duly passed on to a third generation of Trump children despite their evident lack of ingenuity. Trump hardly even bothers paying lip service to traditional Republican bromides about entrepreneurship and pulling oneself up by the bootstraps. The president and his family blend comfortably alongside the princelings of China, the petro-monarchy of the Persian Gulf, and of course the state-designated billionaires of Putin’s Russia. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Die im Artikel dargelegte Logik für höhere Erbschaftssteuern kann ich nur unterstreichen. Die Schlussworte des obigen Zitats deuten auch in eine Richtung, die die Dynamik des Wahlkampfs 2020 (die unkalkulierbaren Enthüllungen Muellers außenvorgelassen) bestimmen dürfte: Auf der einen Seite ein Umverteilungswahlkampf der Democrats mit klarem Klassenkonflikt: hier die Plutokraten mit ihrem Champion Trump, die den Staat ausplündern und sich die Taschen füllen, da die totalitären Democrats, die klassische amerikanische Werte zerstören und ihre sozialistische Dystopie aufbauen wollen. Freiheit oder Sozialismus, gewissermaßen. Welches dieser beiden Narrative sich dabei als das Stärkere erweisen wird, ist derzeit nicht abzusehen.

11) Frankreich will Deutschland keinen nuklearen Schutz garantieren
Frankreich ist nach dem Brexit die einzige Nuklearmacht in der EU. Doch es sieht nicht so aus, als wolle sich das Land schützend vor die Staatengemeinschaft stellen: Dass Macron nicht zur Sicherheitskonferenz nach München kommt, ist dafür nur ein Indiz. Der französische Präsident Emmanuel Macron kommt entgegen der Erwartungen nicht zur 55. Sicherheitskonferenz nach München. Dabei wäre er ein wichtiger Gesprächspartner, denn gerade hat die Debatte über einen möglichen französischen Nuklearschirm für Deutschland beziehungsweise für die EU an Fahrt aufgenommen. Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, spricht sich dafür aus, die strategische Autonomie Europas auch in der Frage der nuklearen Abschreckung voranzutreiben. Frankreich bleibt nach dem Brexit die einzige Nuklearmacht in der EU. Schon Präsident Charles de Gaulle hatte in den sechziger Jahren dem damaligen Bundeskanzler Ludwig Erhard angeboten, sich an der französischen „force de frappe“ zu beteiligen. (Michaela Wiegel, FAZ)
Wer ein Beispiel für das Fremdwort "Oxymoron" sucht, ist mit "deutsche Sicherheitspolitik" sicherlich gut bedient. Seit mittlerweile fast drei Jahrzehnten leistet sich die Bundesrepublik eine Sicherheitspolitik, die von der Prämisse geleitet ist, dass die relative Größe und Bedeutung des Landes ungefähr der Luxemburgs entsprechen. Das zieht sich durch die EU-Politik genauso wie durch andere außenpolitische Fragen. Diese werden immer verhandelt, als wären andere überhaupt nicht betroffen, als ob Deutschlands Entscheidungen (oder, meistens, Nicht-Entscheidungen) für niemanden außer für uns Konsequenzen hätten.
Besonders im linken Lager gibt man sich dabei sehr gerne der Illusion hin, dass das Statement, wann würde echt gerne von den Konflikten der Welt verschont bleiben wollen und müsse das irgendwie mit dem Zauberstab Verhandlungen lösen, auch in der Realität zur Lösung dieser Fragen beitragen würde. Aber das ist ein Irrtum.
Diese Ideen ignorieren auch völlig die zugrundeliegenden Mechanismen, wie diese etwa von Macron und Sicherheitsexperten bezüglich des Atomschutzes von Frankreich vorgebracht werden. Natürlich ist es nicht falsch, wenn deutsche Außenpolitiker feststellen, dass Großbritannien weiterhin ein wichtiger Sicherheitsfaktor ist, und dass deshalb eine reine EU-Lösung nicht ausreichen wird. Aber dieses Statement scheint als Ende der Debatte verstanden zu werden.
Dabei ist es durchaus relevant, dass, wie im Artikel angesprochen, JEDE glaubhafte nukleare Absicherung eine Stationierung dieser Waffen auf deutschem Boden (wie bereits beim NATO-Doppelbeschluss) voraussetzt. Diese Problematik würde sich ja durch eine Diskussion im NATO-Rahmen nicht ändern. Und deswegen ist es auch so bedeutsam, dass Deutschland Bundeswehrverbände in osteuropäischen Ländern stationiert. Nur ist diese Debatte hierzulande so vernebelt und verlogen, dass es zum Haare raufen ist. Es wird Zeit, dass die deutsche Gesellschaft endlich anerkennt, welches Gewicht wir eigentlich in der Welt haben. Denn nur dann können wir auch aus einer realistischen Position heraus gegen die Großmachtallüren angehen, denen Franzosen und Briten gerne immer noch mit schöner Regelmäßigkeit anheim fallen.