Freitag, 5. Mai 2023

Rezension: Tim Harford - How to Make the World Add Up: Ten Rules for Thinking Differently About Numbers

 

Tim Harford - How to Make the World Add Up: Ten Rules for Thinking Differently About Numbers (Hörbuch)

Winston Churchill werden eine Menge Zitate zugeschrieben, die er so wohl nie gesagt hat. Darin ähnelt er Mark Twain, dem geht es da ähnlich. Eines der berühmtesten ist "Ich glaube nur einer Statistik, die ich selbst gefälscht habe". Damit lag er voll im Zeitgeist: Im Jahr 1954 erschien Darrel Huffs "How to lie with statistics" und transformierte das Denken über Statistiken. Es wurde ein Bestseller, mit (bis heute) über einer Million verkauften Exemplaren. Leider führte es auch zu einem Zynismus über Statistiken bei der gebildeteren Bevölkerung, deren Beschäftigung mit dem Thema dann oft bei der Feststellung aufhörte, dass den Zahlen nicht zu trauen sei - mit traurigen Ergebnisse in der Pandemie. Für Tim Harford ist es letztlich intellektuelles Junk Food - und was er mit dem vorliegenden Buch zu präsentieren hofft ist eine Darstellung vom Umgang mit Zahlen, der tatsächlich zu mehr Kompetenzen bei den Lesenden führt.

Sein Eingangsbeispiel zeigt denn auch die Gefahr dieses "niemand weiß irgendetwas"-Zynismus: die Zigarettenindustrie nutzte Huff - der sich auch als Mietmaul in ihre Dienste stellte - um gezielt Statistiken zu diskreditieren, die nachwiesen, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist. Jahrzehnte wurde damit verschleppt, etwas gegen eine der schädlichsten Alltagsbeschäftigungen zu unternehmen, die es so gibt. Grund genug also, genauer hinzusehen, was Zahlen vermögen, und was sie nicht können.

In seinem ersten Kapitel, "Search your feelings", beschäftigt sich Harford mit emotionalen Reaktionen gegenüber Zahlen. Wenn diese nicht zu unseren Gefühlen passen, ignorieren wir sie gerne. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Gerade in der Raucherdebatte stand das den Erkenntnissen oft im Weg: da ein Großteil der Menschen gerne rauchte, akzeptierte er auch nicht, dass genau dieses Verhalten schädlich sein sollte. Ein anderes hevorragendes Beispiel ist der Kunstfälschungsskandal um einen falschen Vermeer, der gerade deswegen funktionierte, weil der Betrogene ein Experte war.

Diese Erkenntnis ist auch für unsere Gegenwart relevant: gerade wenn wir Sachkenntnisse haben, sind wir anfälliger für gefühlsbasierte Fehler als wenn wir keine Ahnung haben. Ein scheinbares Paradox, aber wer größere intellektuelle Fähigkeiten besitzt, ist auch besser darin, unpassende Informationen zu ignorieren und für die eigenen Prämissen zu benutzen. Für Harford ist deswegen ungemein wichtig, dass man "in seinen Gefühlen forscht". Das ist ungemein schwierig, und Harford gibt auch frei zu, dass es ihm selbst nicht immer gelingt - obwohl er sich der ablaufenden Mechanismen voll bewusst ist. Umso relevanter ist es, einen offenen Geist zu bewahren und eine Umwelt zu haben, die uns ständig herausfordert.

In seinem zweiten Kapitel, "Ponder your personal experience", spricht sich Harford nicht dafür aus, die eigene Erfahrung über Statistiken zu stellen, sondern vielmehr, sich der eigenen Erfahrungen bewusst zu sein. Wenn etwa die durchschnittliche Auslastung der öffentlichen Verkehrsmittel bei 10% liegt, aber man ständig in vollgestopften Bussen unterwegs ist, dann schließt sich das nicht aus. Unsere tägliche Erfahrung kann uns trügen. Harford spricht hier von "naiver" Perspektive: wir nehmen an, dass unsere alltägliche Erfahrung irgendwie verallgemeinbar richtig sein müsse. Wir bilden quasi "on the fly" statistisches Wissen, das aber weitgehend nutzlos ist.

Als Beispiel bringt er einen Trip nach Hongkong und Shenzen, wo er Hochhäuser ohne Ende nebeneinander sah und diese ihn so beeindruckten, dass er sofort Angst um sein Kind bekam ("was, wenn ich es verliere?"), während am späteren Tag in der Provinz die Entwicklungsstatistiken Chinas einfach falsch erscheinen mussten, so verarmt schien diese. Er unterscheidet deswegen in "langsame" Statistiken - Daten wie die ökonomische Entwicklung seit 1990 - und "schnelle" Statistiken, etwa wie viele Hochhäuser man gerade passiert hat. Beide ergäben für sich genommen keine vollständige Auskunft; vielmehr sei eine Vermischung erforderlich.

Kapitel 3, "Avoid premature enumeration", zeigt Harford einige Fallen um Umgang mit Statistiken auf, die im Kontext begründet liegen. Als etwa Londoner Krankenhäuser deutlich höhere Kindersterblichkeitsraten meldeten als die in Südengland, lag das nicht an der Qualität der Krankenhäuser, sondern an unterschiedlichen Qualifikationen von Frühgeburten: während diese in Südenglang als "Fehlgeburt" geführt wurden, führte London sie als "Frühgeburt" mit anschließendem Tod des Kinds. Der Unterschied ist rein kulturell. Harfords große Lektion: immer fragen, was gemeint ist.

Zeigt etwa eine Statistik eine Zunahme von Aggression nach dem Spielen von Killerspielen, ist diese Zahl nutzlos bis geklärt ist, was "Aggression" bedeutet und was unter "Killerspielen" verstanden wird. Zahlen alleine sagen nur in Kontext etwas aus. Harford verwendet einen großen Teil des Kapitels auf die wohl berühmteste solche Zahl: die zunehmende Ungleichheit. Anhand von sensationistischen Oxfam-Meldungen spürt er sowohl absurden Zeitungsmelden nach (die sich mit minimaler Plausibilitätsprüfung hätten vermeiden lassen) als auch den eigentlichen Daten. Seine Schlussfolgerung: wir neigen dazu, Zahlen die wir glauben wollen, auch zu glauben.

Im vierten Kapitel, "Step back and enjoy the view", versucht Harford weiteren Kontext zu schaffen. Zahlen hängen immer vom Bezugsrahmen ab. Er macht dies anhand mehrer Beispiele deutlich, etwa dem von Wirtschaftsnachrichten: ein rollendes Medium hat andere Prioritäten als ein tägliches und das als ein wöchentliches. Das Extrembeispiel einer 50-Jahres-Zeitung zeigt dies deutlich: welche Schwerpunkte würde sie auf Seite 1 setzen? Allzu oft finden Zahlen nur dann wirklich einen Sinn, wenn wir einen Schritt zurückgehen und sie im Kontext betrachten. Hierfür ist es auch hilfreich, Fundamentzahlen zu haben, anhand derer man vergleichen kann. Bevölkerungsgrößen, BIP, Höhen von Gebäuden, Maße von Räumen - wer einige Zahlen auswendig kennt, kann leichter Kontext schaffen. Dieser Aufgabe kämen Journalist*innen zu selten nach.

Harford lehnt auch die Vorstellung ab, Medien hätten einen "negativity bias". Vielmehr hätten sie eine Neigung, Neues und Schockierendes zu berichten. Da aber gute Dinge sich üblicherweise langsam entwickeln und deswegen nur mit einem Schritt zurück über längere Zeiträume wahrnehmbar sind, während schlechte Dinge häufig schnell passieren, würde vor allem über schlechte Dinge berichtet. Die Menschheit sieht er dadurch nicht belastet: wir seien geradezu krankhaft optimistisch und unterschätzten regelmäßig Gefahren, die auf uns lauern, weil wir überoptimistisch davon ausgehen, dass schon alles gut wird - völlig egal, welche Schreckensnachrichten über den Ticker laufen.

Das fünfte Kapitel, "Get the back story", kümmert sich Harford um den Kontext von Studien. Ein Hauptthema ist die Reproduktionskrise, bei der er allerdings nicht mitbehandelt, dass diese selbst als Phänomen umstritten ist: viele Studien können nicht reproduziert werden. Für Harford liegt das oft daran, dass die "back story" nicht bekannt ist oder berücksichtigt wird; epistemologische Gründe ignoriert er weitgehend.

Stattdessen geht er stark auf andere Gründe ein, vor allem den publication bias: Die Magazine veröffentlichen vor allem solche Studien, die überraschend und halbwegs plausibel sind. Das aber ist eine Falle, weil überraschende Ergebnisse selten zutreffend sind, auch wenn sie Plausibilitätsprüfungen überstehen. Gleichzeitig sieht er eine starke Verzerrung durch survivor's bias: da wir von fehlgeschlagenen Studien nicht erfahren, weil diese wegen des publication bias nicht publiziert werden, haben überraschende Ergebnisse eine viel größere Wahrnehmungsschance, als sie haben sollten.

Im sechsten Kapitel, "Ask who is missing", spricht Harford über mögliche Verzerrungen bei Studien durch die Auswahl der Gegenstände und vor allem der Partizipierenden. So leiden viele Studien darunter, dass die Studienobjekte Studierende sind (bei älteren Studien wie etwa dem Milgram-Experiment zudem weiße, männliche, protestantische und wohlhabende Studierende), was es sehr schwierig macht, die Ergebnisse zu verallgemeinern. Ein besonders auffälliges Beispiel war eine App, die beim Auto Fahren automatisch Schlaglöcher erkannte und der Stadt die Daten sandte, wodurch die Stadt das Personal sparte, das diese vorher gesucht hatte. Das führte dazu, dass die Stadt nur noch Schlaglöcher in wohlhabenden Gegenden fand und ausbesserte. Ein ebenso spannendes Beispiel war eine Studie anlässlich Hurricane Sandy 2012, in der ein kausaler Zusammenhang zwischen der Tweetmenge und betroffenen Gebieten konstruiert wurde - ohne dass jemandem auffiel, dass in Long Island der Strom ausgefallen war und deswegen niemand twitterte, während die Sättigung sowohl mit Smartphones als auch Twitternutzenden in Manhattan wohl nicht ganz repräsentativ war.

Das siebte Kapitel, "Demand transparency when the computer says no", beschäftigt sich Harford mit Big Data und Algorithmen. Auch hier geht es vor allem wieder um Kontext: auf welcher Basis treffen Algorithmen Entscheidungen? Zwar scheint die Macht der Zahlen unbestechlich, aber hier haben wir oft das Problem, dass die Datengrundlage geheim ist (weil sie etwa bei Google, Facebook, Netflix oder Amazon liegt). Harford macht sich daher dafür stark, dass Algorithmen, die in sensiblen Bereichen genutzt werden (Washington D.C. etwa entließ 2011 über 200 Lehrkräfte, weil der Algorithmus sie aufgrund völlig beknacker Kriterien als underperformer ausgewiesen hatte) mit unter anderem assessability und accessability vier Kriterien erfüllen müssen, um benutzt werden zu dürfen.

In Kapitel 8, "Dont take statistical bedrock for granted", wendet sich Harford der Quelle von Daten zu: den statistischen Behörden. Das Kapitel ist letztlich ein Liebesbrief an seine Profession: vom CBO zu Destatis zeigt er Erfolgsgeschichten unabhängiger Statistiken und ihren Wert für zielgerichtete, verantwortliche Politik - die dann mit Gegenbeispielen wie Griechenland oder Argentinien kontrastiert werden können. Harford beschäftigt sich auch mit dem Argument, dass zu viel Statistik schlecht sein könne, weil es etwa den Staat übergriffig oder gar totalitär gestalte, weist dieses aber zurück: Statistiker hatten in UdSSR und der chinesischen Volksrepublik eine eher kurze Lebenserwartung; die Statistiker in Nazideutschland waren bald völlig marginalisiert: das Geschäft objektiver Statistiken veträgt sich überhaupt nicht mit Totalitarismus.

Im neunten Kapitel, "Remember that misinformation can beautiful, too", wendet den Blick dann der Visualisierung der Zahlen zu: den Grafiken und Schaubildern. Anhand der Geschichte Florence Nightingales, die ein Händchen für Statistik hatte und als erste Person ein Schaubild aus statistischen Daten erstellte - Teil ihres großen Erfolgs - zeigt Harford auf, wie wichtig die Präsentation der Daten ist. Dabei ist natürlich jede solche Präsentation immer auch eine Interpretation und verfolgt eine bestimmte Absicht. Allzu häufig sind die Visualisierungen daher irreführende misinformation. Äpfel können mit Birnen verglichen werden, ohne dass das auf den ersten (oder zweiten oder dritten) Blick sonderlich auffällt.

Die wichtigste Lektion, "Keep an open mind", bewahrt sich Harford für das zehnte Kapitel auf. Alle Kenntnisse über Statistiken helfen schließlich wenig, wenn man nicht bereit ist, die eigene Überzeugung flexibel zu halten. Am Beispiel von Irving Fisher und John Maynard Keynes zeigt Harford auf, warum, obwohl es sich bei beiden um brillante Ökonomen handelte, der eine wirtschaftlich ruiniert wurde und der andere prosperierte. Während Keynes, wenn er sich verzockte - was öfter vorkam - einfach seine Investmentstrategie änderte, hielt Fisher an der Richtigkeit seiner Überzeugung eisern fest. In der Weltwirtschaftskrise brach ihm das das Genick.

Im Fazit, "Be curious", Fasst Harford seine Thesen noch einmal zusammen, ehe er sie auf die "goldene Regel" eindampft, stets neugierig zu sein. Gebildete Menschen, die nicht neugierig sind, sind in ihren Haltungen festgefahrener, verbohrter und ideologischer als solche, die neugierig bleiben. Das kann ich nur vollen Herzens unterschreiben, auch, wenn das Einhalten dieser goldenen Regel im Alltag schwierig ist.

Insgesamt bleibt Harfords Buch eine vergnügliche Lektüre, die ich rundheraus empfehlen kann. Es liest sich leicht, mit zahlreichen Anekdoten und Beispielen aufgelockert, und

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