Dienstag, 1. August 2023

Bücherliste Juli 2023

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt. Viele Rezensionen sind bereits als Einzel-Artikel erschienen und werden hier zusammengefasst.

Diesen Monat in Büchern: 1848, Ernährung, 1923

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: –

Christopher Clark – Revolutionary Spring: Fighting for a New World 1848-1849 (Hörbuch) (Frühling der Revolution: Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt (Hörbuch))

Die Revolutionen von 1848 sind zwar seit Jahr und Tag Stoff in den Bildungsplänen der Republik, Favoriten der Schüler*innen waren sie aber noch nie. Christopher Clark, der ein neues Mammutwerk zu dieser Periode vorgelegt hat, kann das vollkommen nachvollziehen: „failure and complexity are an unappealing mix„, und Recht hat er. Als Schüler hat mich die Periode auch nicht interessiert, heute ist das anders. Umso besser, dass Clark sich des Themas annimmt und die nationalstaatliche Geschichtsschreibung der Vergangenheit – die er als Reaktion auf das Scheitern deutet – durchbricht und stattdessen eine Globalgeschichte der Revolutionen von 1848 vorlegt. Sein Anspruch ist das vollständige Durchdringen der Ursachen und Abläufe – sowohl der titelgebenden Frühjahrseuphorie als auch des furchtbaren Rückschlags der Reaktion.

Sein erstes Kapitel, „Social Questions“, befasst sich mit den sozio-ökonomischen Grundlagen. Auch wenn er die Idee vieler Linker, dass soziale Missstände Protest und Unruhe hervorrufen müssten als klar empirisch widerlegt zurückweist, sieht er in der „Sozialen Frage“ der Ära doch einen unverzichtbaren Hintergrund für das Geschehen. Im ersten Abschnitt, „The Politics of Description“, zeigt er die Bedeutung der neuen Wissenschaft der Soziologie auf, die die Armut – Menschheitskonstante seit Adam und Eva – erstmals fassbar machte und in nackten Zahlen eine moralische Empörung auslöste. Die Konservativen und Liberalen neigten (fälschlicherweise) dazu, die Schuld dazu bei den Armen selbst zu suchen, aber einige aufgeklärtere Zeitgenossen führten sie bereits auf die Zustände zurück. Georg Büchner würde zustimmen, wäre er nicht bereits an Krankheit verstorben.

Im nächsten Abschnitt, „Precarity and Crisis„, wendet Clark den Blick von der Außenperspektive Bourgeoisie ab, die vor allem in moralischer Empörung (wahlweise über die Zustände selbst oder aber die Arbeiter*innen, die sie dafür moralistisch verantwortlich machte) auf die Soziale frage blickte, hin zu den Betroffenen selbst. Die Zustände, in denen diese lebten, waren tatsächlich oft abartig. Wer sich je mit der Industrialisierung der Sozialen Frage beschäftigt hat, kennt die Beschreibungen zur Genüge: feuchte Löcher, in denen Leute in Großfamilien vegetierten, unhygienische Zustände, Mangelernährung, Tragen von Lumpen. Die Stunden waren lang, die Löhne niedrig. Frauen und Kinder wurden eingesetzt, um die ohnehin niedrigen Löhne weiter zu drücken. Es war offensichtlich, warum angesichts dieser Zustände die Leute unzufrieden waren.

Danach wendet sich Clark den Webern zu, den wohl unzufriedensten Menschen der Epoche. Das Textilhandwerk war durch eine Reihe von Faktoren in den 1840er Jahren unter Druck geraten. Neue Maschinen zerstörten Jobs und schufen nur niedriger bezahlte ungelernte Tätigkeiten, politische Konflikte unterbrachen Handelsbeziehungen, neue Rohstoffquellen wurden erschlossen, die Infrastruktur wurde besser und erlaubte größere Effizienz. All das drückte die Preise und sorgte für Aufstände der Weber. Clark zeigt einen Aufstand der Seidenweber in Lyon, die mit großer Effizienz vorgingen und kollektive Organisationsformen pionierten. Ihnen stellte sich die Nationalgarde entgegen, in der vor allem ihre Ausbeuter dienten – die hemmungslos Gewalt anwandten, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Ein ähnliches Bild struktureller Machtdifferenzen zeigte sich in Prag, wo die Weber sich ebenfalls organisierten und von der habsburgischen Armee unterdrückt wurden, die das Recht der Arbeitgeber, Kartelle zu bilden und die Auspresser zu schützen, mit Waffengewalt schützte, um mit derselben Waffengewalt jegliche Arbeiterrechte zu verweigern.

Der wohl berühmteste Aufstand war der der schlesischen Weber, die durch die ländliche Struktur Schlesiens keine Chance auf dieselbe Organisation wie ihre Lyoner und Prager Gegenstücke hatten. Während letztere wenigstens unter der Hand nach der Niederschlagung Zugeständnisse bekamen, wurden die am heftigsten durch die Krise getroffenen schlesischen Weber rücksichtslos von der preußischen Armee niedergeschlagen, was vor allem durch Heinrich Heine, Gerhart Hauptmann und Käthe Kollwitz in der Kunst unsterblich gemacht wurde und die schlesischen Weber zum Inbegriff der Armut jener Zeit machte.

Zum Abschluss betrachtet Clark Galizien im Jahr 1846. Im Westen ist die dortige Aufstandswelle praktisch unbekannt und vergessen, aber in der Region hat sie bis heute wirkmächtige Mythen hinterlassen. Der Ursprung der Aufstände waren polnische Nationalisten, vor allem im Adel. Die Kleinfürsten riefen ihre Bauern bewaffnet zusammen, um die habsburgischen Autoritäten zu attackieren. Die Dinge liefen nicht wie geplant. Die Bauern, denen die polnischen Adeligen alle möglichen Versprechungen machten, glaubten ihren Herren kein Wort. Von ihnen waren sie nichts als Unterdrückung gewohnt, während die Habsburger wenigstens rudimentäre Hungerhilfen gesandt hatten. Die Bauern wandten sich gegen den Adel. Vielerorts entwaffneten und verhafteten sie ihre ehemaligen Herren; an anderen Orten eskalierte die Lage. Rund 1000 Menschen starben in den Unruhen, die von der habsburgischen Propaganda als Beweis für die Treue ihrer braven Bauern, von der polnischen Propaganda als Beweis für habsburgische Intrigen gesehen wurden. Beides war Unfug und führte beide Seiten zu Fehlinterpretationen der Lage.

Das zweite Kapitel, „Conjectures of Order“, beschäftigt sich mit Ordnung – herrschenden Systemen und jenen, die versuchen, neue zu schaffen.

Der erste Abschnitt, „It’s a Man’s World„, betrachtet die Rolle der Frauen. Wie der Titel schon sagt war das frühe 19. Jahrhundert eine von Männern dominierte Welt. Die Frauen waren rechtlich diskriminiert und sozial marginalisiert. Clark beleuchtet in diesem Abschnitt erste Frauenrechtler*innen: radikale Frauen auf der einen Seite forderten gleiche Rechte und Beteiligung am politischen Prozess, aber einige wenige radikale Männer forderten dassselbe. Doch selbst bei den demokratisch gesinntesten Zeitgenossen ging es üblicherweise nicht so weit, die Forderungen nach mehr Rechten auch auf das weibliche Geschlecht auszudehnen; das blieb eine absolute Minderheitenposition. Eng verknüpft waren eine erdrückende Sexualmoral, die politische Beteiligung als männlich konnotiert wahrnahm und in einer politischen Beteiligung von Frauen die Zerstörung männlicher und weiblicher Rollen und Identitäten sah. Eine Frau, die sich hier engagierte, trat aus dem Konsens der Züchtigkeit aus und war damit nicht mehr im patriarchalischen System integrierbar, ein Schritt, der nur für die allerwenigsten in Frage kam – unter großen persönlichen Opfern.

Gefolgt wird dieser Abschnitt von „Partisans of Liberty„, der den Blick auf die Liberalen lenkt. Clark weist daraufhin, dass der Liberalismus des 19. Jahrhunderts seinen Ursprung weniger in Großbritannien als in Südeuropa habe, wo auch die Begrifflichkeit „liberal“ ihren Ursprung nähme. So fand das erste klassische Experiment liberalen Regierungshandelns um 1820 in Spanien statt, ehe das ganze Projekt unter französischen Bajonetten endete, die eine autokratische Monarchie wiederherstellten – um das eigene System nicht zu gefährden. Der Liberalismus definiert sich (und definiert sich wohl auch immer noch) als moderate Kraft zwischen den Polen. Liberale glauben an eine langsame, überlegte Reform bestehender Zustände und eine Herrschaft der Besten (die natürlich identisch mit den Liberalen sind). Im 19. Jahrhundert müssen wir sie uns definitiv als von Demokraten getrennt denken: nichts lag den Liberalen ferner als Gleichberechtigung und Wahlrecht aller. Das wetterleuchtete als utopisches Fernziel, rhetorisch beschworen, aber nicht wirklich daran geglaubt. Die Vorstellung der Revolution war ihnen ein Gräuel, ihre Unordnung, ihr Chaos und ihre Gewalt.

Sie sahen eine bessere, fortschrittlichere Zukunft, die mit sicherer Hand geleitet herbeigeführt werden musste. Das Mittel hierfür war der Markt, dessen Kraft Wunderträume auslöste. Clark weist darauf hin, dass wir nicht mit unseren heutigen Konzepten von Märkten und den Erfahrungen von Finanz- und Weltwirtschaftskrisen auf diese liberalen Vorstellungen blicken dürfen; im 19. Jahrhundert waren Märkte ja noch fast nicht entwickelt, wurde Wirtschaftstätigkeit wie Meinung und Presse in engen Grenzen gehalten. Jegliche Liberalisierung hatte riesige Effekte – und diente gleichzeitig dazu, die Emotionen und Passionen der Massen unter Kontrolle zu halten.

Genau dieses Horrorszenario einer Revolution war der Endzweck der Radikalen, denen sich Clark als nächstes zuwendete. Sie waren der Überzeugung, dass die bestehende Ordnung ein Graus war, die die Bevölkerung unbotmäßig unterdrückte (sicherlich kein falscher Eindruck). Unter dem Überbegriff der „Radikalen“ darf man sich aber kein geeintes Lager vorstellen, das wie die Liberalen eine gemeinsame Ideologie geteilt hätte. Die Radikalen waren sich einig, dass es radikaler Lösungen bedurfte; welche das waren und welchen Zweck sie hatten, war dagegen hoch umstritten. Es gab demokratische Radikale, die aus heutiger Perspektive wohl in der CDU zu finden wären (weil sie so extremistische Forderungen wie ein gleiches Wahlrecht vertraten) als auch Proto-Sozialisten, die von einer gänzlich neuen, gerechten und gleichen Gesellschaft träumten.

Diese Träume der Radikalen waren die Albträume der Konservativen. Sie teilten die Einschätzung der Liberalen und Radikalen über ihre Gegenwart: Veränderungen dräuten am Horizont. Die Revolution, die die Radikalen wollten, war ihr absoluter Horror, und wenn sie die Liberalen davon reden hörten, die Revolution durch maßvolle und moderate Reformen und partielle Mitbestimmung zu verhindern, dann sahen sie als unweigerlichen Endpunkt Radikalisierung und Jakobinertum, das nur in Guillotine und einem neuen Napoleon enden konnte. Geschichte war eine Abfolge von Zyklen, die sich ständig wiederholten, was die Vorstellung eines echten Fortschritts ausschloss (und die Konservativen stets pessimistisch in die Zukunft und einen neuen Kreislauf revolutionärerer Gewalt fürchten ließ). Für die Konservativen ruhte die natürliche Ordnung in einem gottgegebenen Zustand, der vielleicht inkrementelle Veränderungen über Jahrzehnte erlaubte, aber nichts an der Einteilung der Welt in verschiedene Stände ändern konnte und durfte. Die Ungleichheiten waren Grundfeste der göttlichen Ordnung, sie mussten erhalten bleiben.

Der Vormärz war auch eine Periode der Religion. Clark gibt Einblicke in einige radikale Bewegungen der damaligen Zeit, etwa erste Ansätze der Ökumene (die damals wie heute unter Katholiken mehr Anhänger*innen fand als unter Protestant*innen) oder Gleichheitsideale einer Art „christlicher Soziallehre“, wie sie sich später herausarbeiten würde. Diese Leute befanden sich in einem harten Konflikt mit den Amtskirchen, die mit aller Schärfe diese „Irrlehren“ zu unterdrücken gedachten. Man sollte aber nicht den Fehler machen zu glauben, die Kirchen seien in dieser Zeit schwach; das Gegenteil war der Fall. Besonders die katholische Kirche, die durch die Revolutionszeit in eine Krise geraten war, erlebte ein riesiges Comeback. Die Menschen des Vormärz waren allgemein von großer Religiosität erfasst, und die katholische Kirche veränderte sich in jener Zeit in einem starken Ausmaß, das ihre moderne Ausgestaltung prägen sollte. Auch protestantische Bewegungen erlebten einen Aufschwung, der durchaus mit der amerikanischen Erweckungsbewegung jener Zeit vergleichbar war (wenngleich auch weniger radikal und emotional). Generell, so Clark, war die Epoche von einer tiefen und ernsten Religiosität bestimmt, die fruchtbare neue Verbindungen mit den politischen Vorstellungen der Epoche einging und so zu der Bedeutung der Revolutionen von 1848 beitrug.

In Clarkes nächstem Abschnitt, Patrioten und Nationen, befasst er sich mit einer damals noch völlig neuen, aber umso wirkmächtigeren Idee: dem Nationalismus. Die Idee der Nation war eine künstliche, auch wenn die Nationalisten alles versuchten, um irgendwelche „natürlichen“ Grenzen zu konstruieren. Gerade für Konservative war die Idee oft ein Gräuel, weil sie bestehende Traditionen umwarf und zudem mit einer radikalen Gleichheitsvorstellung verknüpft war: wo die Monarchen aktuell aus Gottes Gnaden regierten, waren sie, selbst mit absoluter Macht ausgestattet, in der Nation doch aus der Masse legitimiert, dem Anathema jedes Konservativen. Die Künstlichkeit der Idee erforderte seitens der Nationalisten einen gewaltigen Bildungsakt: großen Teilen der Bevölkerung musste nahegebracht werden, was die Nation war, wodurch sie sich definierte und dass sie alle dazu gehörten. Der Nationalismus war eine Bewegung vorrangig der jungen Männer, die sie auch mit Gewalt durchzusetzen versuchten. Gleichwohl sollte er nicht mit seinen Auswüchsen gegen Ende des 19. und vor allem dem Schlachten des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt werden: zwar gab es genügend Geschmacklosigkeiten, wie den französisch-deutschen Konflikt um den Rhein („Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze“), aber der Nationalismus war paradoxerweise eine gesamteuropäische Bewegung, und eine nicht unerhebliche Gruppe von Freiheitskämpfern focht in diversen nationalen Befreiungskämpfen. Der große Gegner aller Nationalisten waren die multiethnischen Reiche, allen voran das der Habsburger, weswegen sie in Wien auch ihren erbittertsten Gegner fanden.

Nicht alle Menschen hatten allerdings überhaupt den Luxus, sich mit Politik beschäftigen zu können. Der Gegensatz von frei und unfrei war im 19. Jahrhundert noch wesentlich anders konnotiert als heute. Nicht nur waren die meisten europäischen Mächte im 19. Jahrhundert noch Sklavenmächte – die britischen Abolitionsbestrebungen wurden europäisch nicht geteilt, sondern vor allem (und nicht völlig zu Unrecht) als britische Interessenpolitik betrachtet -, die Intellektuellen der Zeit waren auch besessen von der Sklavereimetapher. Frauen waren die Sklavinnen der Männer, die Bürger waren durch die Fürsten versklavt, die Arbeiter von den Fabrikbesitzern, die Bauern von ihren Herren. Diese Masse der Sklavereivergleiche ging mit einer Relativierung und Verherrlichung der Sklaverei einher; die absurde Behauptung, den europäischen Bauern eringe es schlechter als den „zufriedenen“ Sklaven der Zuckerrohrplantagen, findet sich bei zahlreichen Autoren. Clark bemerkt, dass die realen Bedingungen der Sklaverei überhaupt keine Rolle spielten und die europäischen Liberalen und Radikalen auch merkwürdig ignorant gegenüber dem Schicksal Haitis waren.

Kapitel 3, „Confrontation“, beginnt mit dem Ausbruch der Julirevolution 1830 in Paris. Die wiederhergestellte Monarchie suchte den Konflikt mit dem vergleichsweise machtlosen liberalen Parlament, indem sie nach der konservativen Niederlage in den Parlamentswahlen 1830 den Befreiungsschlag gegen die Reformwünsche in massiver Unterdrückung suchte.

Der erste Abschnitt, „A liberal revolution„, geht genauer auf die folgende Revolution ein. Die Liberalen waren wenig überraschend wenig angetan vom Verfassungsbruch und Putsch des Königs, aber da satte 0,3% der Bevölkerung das Wahlrecht besaßen, war kaum damit zu rechnen, dass sich eine Bewegung der Massen für ihre Rechte einsetzen würde. Doch genau das geschah. In mehreren Städten, besonders Nantes und Paris, erhob sich die Bevölkerung und focht bittere Kämpfe gegen die Regierungstruppen. Hunderte von Toten waren die Folge, aber mit Hilfe von Veteranen aus den napoleonischen Kriegen, die erbeutete Kanonen bedienen konnten, wurde das Blatt gewendet. Der letzte Bourbonenkönig floh. Das Parlament wählte den Herzog von Orléans zum neuen König, erweiterte das Wahlrecht auf 0,5% der Bevölkerung, beschnitt sanft die Rechte der katholischen Kirche, gratulierte sich zur moderat-pragmatischen Vernunft und verklärte die Ruhe und Ordnung der Massen in der Revolution und ihr commitment zu liberalen Werten.

Das war zu früh gefreut, denn es blieb noch einige „Unfinished business“ übrig. In den nächsten Jahren kam es zu mehreren blutig niedergeschlagenen Aufständen des breiten Volkes, das in den kleinen Reformen der Liberalen nicht den Ausweg aus ihren eigenen Problemen, allen voran der sozialen Frage, erkannte und weitergehende Reformen forderte, die inzwischen die Beseitigung der Monarchie – gegenüber der auch die französischen Liberalen angesichts der enttäuschenden Performance ihres neu gewählten Souveräns merklich abgekühlt waren – als gegebene Forderung annahmen und sich in immer weitergehende Forderungen verstiegen.

Diese Sozialrevolutionäre schrieben nicht nur radikale Pamphlete und versuchten, Widerstand gegen den Staat zu organisieren, sondern wurden auch dafür verhaftet. Die radikale Rhetorik der Sozialrevolutionäre war in den 1830er Jahren nur auf die Linke beschränkt; erst ab 1848 sollten die Rechten und Liberalen sich ihrer Methoden ebenfalls bedienen. Die große taktische Neuerung dieser Sozialrevolutionäre mit ihren Forderungen nach Gleichheit war die Nutzung der Gerichte als öffentliche Bühne: sie sprachen dem Staat jede Legitimation ab, sie überhaupt abzuurteilen und zerbrachen den Konsens, dass Gesetze Konflikte regeln sollten.

Viele dieser Revolutionäre bedienten sich eines „Cult of Clandestinity„, niemand so sehr wie der italienische Revolutionär Buanarotti. Er bewegte sich von Versteck zu Versteck, Haftstrafe zu Haftstrafe und organisierte revolutionäre Zellen. Anders als die anderen Autoren der Epoche sah er die französische Revolution nicht in einer erfolgreichen Epoche 1789-1792, die durch die Übernahme Robesperries 1793 zerstört wurde. Er sah in Robespierre vielmehr ein leuchtendes Vorbild und schrieb die erste revisionistisch-positive Betrachtung. Seine Lektion? Kompromisse waren wertlos, was es brauchte war reinigende, revolutionäre Gewalt. Diese Idee würde im 20. Jahrhundert noch düsterste Konsequenzen haben.

Ähnliches gilt für die Ideen Mazinis, eines „Apostles of National Insurrection„. Mazini war ein radikaler Demokrat und glaubte an die Gleichheit aller Menschen, aber gleichzeitig war er der Überzeugung, dass das Kollektiv – die Nation – über allem zu stehen habe, weil Pflichten vereinten, während Rechte spalteten. Die Betonung von Rechten in der Französischen Revolution war seiner Ansicht nach der Hauptgrund für deren Scheitern. Es ist leicht zu sehen, warum die Faschisten ihn später kooptierten. Mazini initiierte permanent scheiternde bewaffnete Aufstände und war essenziell in der Herausbildung einer Nationalbewegung wie eines Nationalbewusstseins. Das hatte er mit seinem Gegenstück Garibaldi gemein, der anders als Mazini auch persönlich ein gewalttätiges Leben führte: in Uruguay und Argentinien erlernte Garibaldi das Handwerk des Gauchos und brachte das individualistische Freiheitsstreben dieser Gruppe in die italienische Nationalbewegung ein.

Indessen gärte es auch in Deutschland. In „Political Ferment in Germany“ verfolgt Clark die Ausbreitung der Ideen der Revolution von 1830 nach Deutschland, die zahlreiche kleine Aufstände inspirierte, die zur Verabschiedung von Verfassungen in den betroffenen Staaten führten. Das Hambacher Fest 1832 war eine riesige Veranstaltung, die die Macht der liberalen Netzwerke ebenso eindrucksvoll unter Beweis stellte wie das wachsende Gewicht der radikalen Linken und ihrer demokratischen Ideen. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: die deutschen Fürsten verschärften unter Metternichts Federführung die Zensur radikal (und benutzten dazu die Taktiken der Opposition, was sie besonders effektiv machte). Es ist allerdings aufällig, wie sich Stück für Stück eine liberale, vernetzte Öffentlichkeit herausbildete, die landesgrenzenübergreifend in Kontakt miteinander war – eine essenzielle Vorbedingung für die Revolution von 1848.

Clark erzählt anhand Robert Blum, der aus armen Verhältnissen kommend – die „Soziale Frage“ am Lebendbeispiel – sich als Autodidakt hocharbeitete und bis 1847 radikalisierte, wie das in der Praxis oft aussah. Blum hatte sich einen Ruf als wichtigster Radikaler in Leipzig erarbeitet, und als die Stadt 1847 über die schlechte Versorgungslage in einen Aufstand zu rutschen drohte, übernahm er die Kontrolle und moderierte, lenkte die Energie in konstitutionelle Bahnen. So erbrachte er den Beleg, dass auch die Radikalen ernstzunehmende Verhandlungspartner waren, was im folgenden Jahr wichtig werden würde.

Wesentlich gewalttätiger ging es im „Schweizer Kulturkampf“ zu. Nord gegen Süd, Land gegen Stadt, liberal gegen konservativ und vor allem katholisch gegen protestantisch waren die großen Trennlinien, die zu einer Reihe regionalisierter Verfassungskonflikte und Bürgerkriege führten. Die Schweiz in den 1840er Jahren stellt das beste Beispiel für die zunehmende Bedeutung von Religion dar, die Clark in Kapitel 2 darlegte, und das nicht auf eine positive Art.

Im Osten indes fand die „Radikalisierung Ungarns“ statt. Die schlechte wirtschaftliche Lage sorgte 1825 für die Einberufung eines Parlaments. Wie in Frankreich konnte nur ein Bruchteil der Bevölkerung, vor allem Adelige, dieses wählen. Aber die Liberalen errangen auch hier Siege und forcierten eine nationale Entwicklungspolitik, die Wien zu verhindern versuchte. Reformer wie Lajos Kossuth und Mihály Táncsics trommelten für ein magyarisches Selbstverständnis, für eigene ungarische Werte und größere Autonomie. Die Habsburger bekämpften diese Bewegung mit allen Mitteln, aber letztlich gelang es ihnen nur, Märtyrer zu schaffen. Die ungarische Revolte aufzuhalten erwies sich als unmöglich.

In Frankreich indes zeigte sich die „Eclipse of a Bourgeois Monarchy„. Die Regierung nach 1830 schien der Triumph der Liberalen, aber die Zufriedenheit mit dem neuen Regime schwand zunehmend, und die reaktionäre Politik des „Bürgerkönigs“ entfremdete ihn auch von vielen Liberalen. Als die königliche Regierung im Frühjahr 1848 beschloss, die eigene Unterdrückungspolitik deutlich auszuweiten, explodierte die Situation stattdessen völlig – wie 1830, wie in vielen anderen Ländern auch.

Ein „Triumpf der Moderaten“ hatte auch in Italien stattgefunden. Trotz des Radikalismus eines Mazini oder Garibaldi war die Politik der 1830er und 1840er Jahre von einer Vorherrschaft der Liberalen gekennzeichnet. Der König von Piemont-Sardinien inszenierte sich als Hoffnungsfigur der nationalen Erneuerung, und die radikalen Vorstellungen von einer Gleichheit (und Partizipation!) aller Untertanen waren ihm genauso abscheulich wie den Liberalen, die auf seine Einigung des Landes hofften. Der Amtsantritt eines neuen Papstes schien im Kirchenstaat den Anbruch einer zarten Modernisierung zu verheißen (die bald enttäuscht wurde), und der Bourbone auf dem Thron Siziliens war derart reaktionär, dass er nicht einmal den Anspruch Piemonts attackierte, Italien einigen zu wollen, weil er die Idee völlig absurd fand.

Die Polizei und das Militär indessen taten in Clarkes Lesart nichts, um die Revolutionen aufzuhalten. In ihrer Konzentration auf die Unterdrückung revolutionärer Verschwörungen sahen sie den Wald vor lauter Bäumen nicht und wurden von der Massenerhebung völlig überrascht; das Militär, dessen Strategie im Rückzug auf wenige befestigte Punkte bestand, um der Umkreisung durch Verschwörer zu entgehen, war daher nicht imstande, die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Verantwortlich für die konterrevolutionären Bestrebungen war Metternich. Der österreichische Fürst war bei weitem nicht der radikalste Konservative seiner Zeit; er war Wandel nicht grundsätzlich abgeneigt, sofern dieser langsam und mit den herrschenden Eliten vereinbar war. Als „The Rock of Order“ aber war er das Gesicht der alten Ordnung. Zudem verkrustete Metternichs Denken nach 1815 zunehmend, weswegen er nicht in der Lage gewesen sei, zwischen Reformern und Radikalen zu unterscheiden; für ihn seien alle Liberalen Radikale gewesen, was der Lage nicht unbedingt förderlich gewesen sei. Das Selbstverständnis Metternichs sei das eines Damms gewesen, der die flutartige Wucht der Veränderungen aufhält.

Die naheligende Folgemetapher ist die von „Cracks in the Dam„, die solche Versuche des Aufhaltens von Veränderungen als wenigstens prekär entlarven mussten. Clarke beschreibt zwei solcher Risse im Damm. Der erste war das Pontifikat Pius IX., der als „Reformpapst“ Erwartungen weckte, die er unmöglich erfüllen konnte. Die italienischen Nationalisten projizierten ihre Wünsche auf ihn, die er, abhängig von österreichischem Schutz, kaum erfüllen konnte. Nicht, dass die Bourbonen im Königreich beider Sizilien besser wären; sie riefen den Hass ihrer Untertanten durch offensive Missachtung von Reform- und Einigungswünschen auf sich. Einer ähnlichen Situation sah sich Preußen ausgesetzt: der König musste, um die notwendigen Investitionen ins Eisenbahnnetz vornehmen zu können, Schulden aufnehmen. Dies war aber nur mit Zustimmung des Landtags möglich. Als er diesen einberief, weigerte sich der Landtag nicht nur, ihm die Kredite zu gewähren; die Liberalen organisierten sich zudem gegen die partikularistisch-provinziellen Konservativen und erlebte dadurch einen Erweckungsmoment eigener Handlungsfähigkeit.

Eine weitere überclevere Metapher findet Clarke in „The Avalanche„, unter der er den kurzen Schweizer Bürgerkrieg der Föderation gegen den Sonderbund 1847 abhandelt. Der komplexe Krieg wurde in Europa intensiv beobachtet und auf die Formel einer liberalen Mehrheit gegen eine jesuitisch-reaktionäre Minderheit verdichtet. Die begeisterte Unterstützung, die die Föderation im liberalen Ausland bekam, ließ tief blicken.

Das war jedoch nichts gegen das in Kapitel 4, „Detonations – I Predict a Riot„, beschriebene Phänomen der sizilianischen Revolution im Februar 1848. Von Palermo ausgehend eskalierte eine Serie kleiner Aufstände durch Passivität, mangelndes Selbstvertrauen und Inkompetenz der Regierung in eine volle Revolution. Die Bourbonen hatten zu spät begonnen, zaghafte Reformen einzuleiten, und den Moment verpasst, in dem sie noch die revolutionäre Stimmung beschwichtigen konnten. Keine Maßnahme half, den unorganisierten Volkszorn einzudämmen, der zum Kontrollverlust über Palermo und Sizilien führte. Eine herausragende Rolle nahmen in dieser Revolution auch die britischen, französischen und amerikanischen Offiziere ein, die ihre Schiffe als neutrale Verhandlungspositionen anboten und mal mehr, mal weniger offenkundig für die Republikaner Partei ergriffen. Am Ende musste Ferdinand II. eine Verfassung für das Königreich versprechen.

Frankreich indessen blieb von revolutionären Unruhen nicht verschont. In „Nouvelles Diverses‚“ beschreibt Clarke die Erwartungshaltung einer kommenden Auseinandersetzung, die sich in Frankreich in jenen Tagen aufbaute. Während er die Idee einer sich durch Europa ausbreitenden „Welle“ der Revolution wegen mangelnder kausaler Zusammenhänge trotz der zeitlichen Korrelation ablehnt, betont er doch die international ausgerichtete Presse, die all die revolutionären Strömungen bündelte.

Nicht kausal von Palermo ausgelöst, aber fast zeitgleich fand „A Revolution in February“ in Paris statt. Der Versuch, ein politisches Bankett mit Forderungen nach mehr Repräsentation zu verbieten, sorgte für einen Massenauflauf unzufriedener Bürger*innen. Der fast unvermeidliche Schuss eines in Panik geratenden Soldaten ließ die Lage dann explodieren. Viele Nationalgardisten weigerten sich, ihre Posten anzutreten, und fraternisierten mit der Bevölkerung. Der König dankte ab, und eine neue Regierung proklamierte die Republik. Clarke stellt trocken fest, dass sich die Monarchen auf die falsche Revolution vorbereitet hatten: es gab keine Verschwörung elitärer Zirkel, sondern eine breite Bewegung zahlreicher sozialer Schichten. Bereits im Pariser Februar wurde allerdings sichtbar, dass die sozialen Probleme, die die breite Masse antrieben, den wohlhabenden Liberalen reichlich egal waren.

Die Revolution, nun bereits in Italien und Frankreich Erfolge feiernd, erreichte als nächstes Wien. Die Absetzung Metternichs, der die Geschehnisse gegenüber seiner Frau mit „We are Dead“ kommentierte, zeigte den Grad der revolutionären Erregung. Noch mehr als in Paris aber war es eine sozial gespaltene Revolution. Während in Wien selbst die Liberalen den Ton angaben und ihre Treue zum Kaiser betonten (während gleichzeitig in Budapest das Junge Ungarn ausgerufen und die Unabhängigkeit gefordert wurde), kämpfte in den Vororten die Arbeiterklasse für mehr Rechte – und wurde von Nationalgardisten zusammengeschossen, die eben noch in der Kernstadt die liberale Revolution getragen hatte.

Die Frage „Shall we be slaves?“ ertönte deswegen in den Arbeiterquartieren Wiens wie Budapests besonders laut. Clarke lenkt den Blick außerdem noch einmal nach Budapest, wo eine nationale Revolution in wildem Gange war und eine Delegation nach Wien entsandt wurde, um dort für die Rechte der Ungarn zu argumentieren. Von den dortigen Geschehnissen wurde die Delegation aber vollständig überrollt. Clarke betont zudem, dass die Krise die Schwäche des Throns gegenüber den adeligen Kabalen aufzeigte, die bereits vor der Revolution die Geschehnisse in Österreich bestimmt hätten; die scheinbare Alleinherrschaft Metternichs war nur eine Mirage.

Ähnliche Erlebnisse wie Wien machte Berlin kurz darauf. Die Forderung „Soldaten raus“ ertönte nach den heftigen Barrikadenkämpfen vom März. Diese wiederum waren das Resultat der bereits üblichen Eskalation: die Soldaten versuchten, demonstrierende Menschenmassen ohne allzuviel Gewalt aufzulösen, ein Schuss löste sich, panikartig breiteten sich Gerüchte aus, Barrikaden wurden gebaut. Clarke weist darauf hin, dass diese Barrikadenkämpfe in den bürgerlichen Vierteln stattfanden und einer kuriosen Arbeitsteilung unterlagen: gekämpft und gestorben wurde durch die unteren Schichten, während die Bürger sich auf passive Unterstützung beschränkten. Umgekehrt war die Begeisterung über die Zusagen Friedrich Wilhelm IV. bei ihnen besonders hoch, während die hungernden, ausgebeuteten Arbeiter für sich wenig Positives in einer versprochenen liberalen Verfassung erkennen mochten. Der preußische König agierte in Clarkes Erzählung allerdings sehr geschickt; ein revisionistischer Kontrapunkt zu früheren Darstellungen, in denen er sich schwach und inkompetent den Revolutionären auslieferte. Tatsächlich erhielt er das Ansehen der Monarchie, ein wichtiger Baustein für spätere Ereignisse.

Indessen findet sich der nächste revolutionäre Furor in den „Five Days of Milan„. Auch hier eskalierten Konflikte in Straßenkämpfe, dieses Mal mit der österreichischen Besatzungsarmee, und ein von Kaiser Ferdinand I. gesandter Botschafter konnte angesichts des Wiener Machtvakuums wenig ausrichten. Die Österreicher überließen strategisch den Milanesen das Feld, die der ungewissen Zukunft einer piedmontesischen Intervention entgegenharrten, die vor allem die Annexion der Lombardei und weniger das liberale Erwachen Italiens im Auge hatte.

Nicht überall in Europa herrschte allerdings Gewalt. Unter dem Schlagwort „The Dogs that didn’t bark“ betrachtet Clarke die Lage in den Niederlanden, wo der König durch rechtzeitige – ein zentraler Unterschied zu Wien, Berlin und Paris – Zugeständnisse an die Liberalen die Lage unter Kontrolle zu halten vermochte. Auch in Großbritannien kam es zu keiner Revolution, wenngleich Clarke betont, dass die über 100 Jahre geäußerte Selbstgefälligkeit der Briten darüber eher Glück und Zufall zu verdanken sei; allenfalls das frühe Aufkommen der Chartisten und das gewöhnt Sein an den Umgang mit sozialen Forderungen habe Großbritannien geholfen.

So in jedem Fall war „The End of the Beginning“ erreicht. Die Revolution hatte den Großteil Europas erfasst. Clarke stellt heraus, dass die meisten Monarchen sich gar nicht so sehr von den französischen Vorgängen beeindrucken ließen – diese wurden als sui generis aufgefasst – sondern von denen Mitteleuropas. Der niederländische König war von den Vorgängen in Sachsen-Weimar, der preußische König von denen in Wien nachhaltig erschüttert; Paris wurde eher als normal verworfen. Es war gerade die europäische Dimension der Revolution, die die Regierungen so verunsicherte und damit Raum öffnete.

Kapitel 5, „Regime Change„, beginnt die Folgen dieser Erschüttertung und Verunsicherung zu untersuchen.

Clarke betrachtet dafür zuerst den „Revolutionary Space„. Wir Menschen, so die These, sind räumliche Wesen. Die Revolutionszeit war die Hochphase der Cafés, in denen sich die bessere Gesellschaft (liberale Männer) zur politischen Diskussion und dem Austausch von Neuigkeiten traf. Sie waren quasi eine Art Schnittstelle zwischen den Geschehnissen auf der Straße und in den Regierungsgebäuden. Gleichzeitig setzte eine Umbenennung von Straßen in „Barrikadenstraße“ oder „Konstitutionsplatz“ ein, die die Revolution überhöhte.

Zu dieser Überhöhung gehörte auch „Honor your Dead„, die feierliche Bestattung der Toten der Aufstände. Dabei zeigte sich das Geschichtsbewusstsein der Revolutionäre, die bewusst bereits begannen, die gerade erst begonnene Revolution zu historisieren und ihre eigene Rolle zu inszenieren. Clarke betont, dass in den großen Bestattungen die Bruchlinien, die die Revolution später zerreißen würden, bereits sichtbar wurden. In Wien etwa wurden die proletarischen Toten ausgeschlossen und nur die Bürgerlichen beerdigt. In Berlin versuchte die evangelische Kirche, die Märzgeschehnisse als reinigendes Gewitter zu inszenieren, das das Verhältnis zwischen König und Volk geklärt und zum besseren gewandt habe, während radikalere Redner es eher in den Kontext einer größeren Erneuerung stellten, die noch zu bewerkstelligen war. Und so weiter.

Zumindest wo die Könige gestürzt waren, mussten die Revolutionäre selbst Verantwortung übernehmen. In „Establish a Government“ zeigt Clarke, wie sowohl in Paris als auch in Milan provisorische Regierungen gebildet wurden. Der Prozess geschah notwendig chaotisch und ohne klare Verfahrensregeln, und so war das Ergebnis sehr gemischt. Gut vernetzte wohlhabende Bürgerliche fanden sich plötzlich in Machtpositionen wieder, und die Zeitungen spielten eine enorme Rolle in der Propagierung von Kandidaten wie auch im Auswahlprozess. Indessen erfasste die Revolution weitere Orte: in Venedig brach sich die mittlerweile bekannte Kombination sozialer Proteste und liberaler Wünsche Bahn. Wie an vielen anderen Orten wurde eine Nationalgarde instituiert, die, allein aus den wohlhabenden Schichten bestehend, vor allem den Auftrag hatte, das Vermögen dieser Schichten zu stützen, aber auch gegen die Österreicher in Stellung gebracht werden konnte. Das Verweigern sowohl des Zutritts zur Nationalgarde als auch der Anerkennung der vorherigen Kampfesleistung gegenüber den unteren Schichten war ein hässliches Element jener sich überall in Europa wiederholenden Dynamiken.

Die Regierungsbildungen in Paris, Milan oder Palermo ersetzten eine bestehende Regierung. In Wien oder Berlin dagegen kamen neue Minister an die Macht, die sich diese mit alten Ministern und der weiter bestehenden monarchischen Exekutive teilen mussten. All diesen Fällen aber war gemein, dass die neuen Macht(teil)haber aus der Oberschicht kamen. Ihre liberalen Prägungen waren auf punktuelle Reformen zur Verbesserung ihrer Situation ausgerichtet; der breiten Mehrheit, deren Unzufriedenheit und Engagement die Revolution hervorgebracht hatte, konnten sie nur wenig bieten. Clarke spricht hier davon, dass sie die Revolution erbten, sie aber nicht hervorbrachten. Das war nur in Bukarest anders, wo eine kleine, stark französisch ausgerichtete Elite tatsächlich verschwörerisch eine Revolution in Gang setzte. Auch hier aber war es die schmale Oberschicht, die die Regierung zu ihren eigenen Zwecken übernahm.

Zum Liberalismus gehört wie der Deckel zum Topf das Parlament. Überall in Europa wuchsen diese nun in einer Epidemie von „Elect a Parlament“ aus dem Boden. Auch hier waren die reichen Liberalen tonangebend; entweder, weil sich die neuen Parlamente aus bestehenden Vertretungen rekrutierten (die ja stets mit extrem engen Wählerkreisen konstituiert waren) oder weil die Auswahlprozesse wie bereits bei den Regierungen entsprechend angelegt waren. Diese Parlamente erfüllten zentrale Funktionen, auch wenn sie (oft) scheiterten: sie etablierten Regeln des parteiischen Streits und brachten diesen größeren Bevölkerungsschichten nahe (auch durch ein blühendes Zeitungswesen), sie schufen ein nationales Bewusstsein (besonders in Italien und Deutschland wichtig und irreversibel) und sie lieferten den Beweis für ein alternatives Regierungssystem. Diese Parlamente waren aber sehr moderat liberal; sie versuchten, die Revolution zu beenden (die, kaum zwei Monate alt, bereits schamhaft aus der Geschichte getilgt wurde) und die Forderungen der breiten Masse abzublocken, vor allem das immer wieder auftauchende Recht auf Arbeit. Aufällig ist, dass diese Parlamente oft bereits demokratischeren Wahlrechten gehorchten als ihre Vorgänger – und verlässlich konservative oder allenfalls moderate Mehrheiten produzierten. Die Radikalen reagierten darauf, wie Linke immer darauf reagieren: sie erklärten, dass das in Wahrheit nicht demokratisch sei und dass das Volk getäuscht werde, da es ja unter tatsächlich freien Bedingungen nicht umhin käme, so abzustimmen wie sie selbst.

Natürlich lag die Hauptaufgabe der meisten Versammlungen neben der eigenen Konstituierung in der Schaffung einer Verfassung, zumindest dem Selbstverständnis nach. Eine solche fehlte in vielen Ländern ja entweder noch oder bedurfte dringend der Liberalisierung. „Draft a Constitution“ war aber ein Schlachtruf, den nicht nur parlamentarische Liberale auf den Lippen führten. Clarke unterscheidet drei Arten von Verfassungen: präventive, in denen Monarchen quasi eine Liberalisierung „von oben“ verordneten oder die moderaten Liberalen das in die Hand nahmen, um eine Revolutuon zu verhindern; revolutionäre, in denen die Forderungen der Masse, die die Revolution eigentlich machte, zur Geltung kamen (keine von diesen überlebte die Revolution); und reaktionäre, mit denen die Monarchen auf die Revolution reagierten und die hauptsächlich den Sinn hatten, liberalere Entwürfe zu zerstören. So wurde etwa die preußische Verfassung 1849 explizit dazu erlassen, um die liberalere Waldeck-Charta auszuschalten. 1848/49, so das Fazit Clarkes, war der Höhepunkt des liberalen Verfassungsstrebens. Die Verfassungen wurden nun von Zielen, die man erreichen wollte, zu Mitteln. Er sieht einen Wandel von der Konstitutionalisierung zur Administration. Ab sofort würden die Bestrebungen sich darauf richten, die Regierungen selbst durch Partizipation und Verantwortlichkeit zu liberalisieren.

Damit wendet er sich Kapitel 6, „Emancipations„, zu. Das Wort „Emanzipation“, das aus dem römischen Recht für die Befreiung von Sklaven übernommen war, erlebte zu der Zeit eine Blüte. Es wurde für zahlreiche Gruppen geradezu inflationär verwendet.

Die wichtigste davon waren natürlich die Sklaven selbst. Für sie schlug „The Day of the Abolitionist„, als in Frankreich durch das Geschick Victor Schoelchers. Der Abolitionist schaffte es, durch parlamentarisches Geschick und einen festen moralischen Kompass die Versuche der Sklavenhalter, den Prozess aufzuhalten und durch Entschädigungsforderungen zu verhindern, effektiv zu blocken. Die Sklaven wurden endgültig befreit. Clarke betont auch die Rolle der Sklaven selbst: ohne eine ganze Reihe von Sklavenaufständen vor allem auf Martinique zwischen 1815 und 1848 hätte die Sklaverei niemals einen solchen Ansehensverlust erlitten, der Schoelchers Erfolg möglich gemacht hatte.

Insgesamt jedoch fiel das „Black 1848“ sehr gemischt aus. Die Begeisterung der Franzosen nahm schnell wieder ab, und die tatsächliche Umsetzung der Befreiung, vor allem ihrer Folgen, schleppte sich. Die Eliten vor Ort bemühten sich nach Kräften, die ehemaligen Sklaven durch Knebelverträge in wirtschaftlicher Abhängigkeit zu halten und bezahlten sie nur mit Anteilen an der Ernte. Dass sich auf diese Weise keine tragfähigen neuen Gesellschaften entwickeln konnten, liegt auf der Hand.

Die Rolle der Frauen indest ist schwierig zu bestimmen. Sie waren gewissermaßen „Waving from Windows„, und Clarke verweist darauf, dass die Quellenlage extrem schlecht ist: Schriftquellen über Frauenaktivitäten existieren kaum, weil die Männer das nicht für berichtenswert hielten, und die Darstellungen sind allesamt propagandistisch überhöht. Das gilt besonders für Schilderungen bewaffneter Frauen, die direkt in den Kampf ziehen; sie sind praktisch alle ein literarisches Genre, kein Tatsachenbericht, und wurden entweder aspirationell oder, häufiger, herabwürdigend eingesetzt. Welche Rolle den Frauen in den Kämpfen tatsächlich zukam, bleibt weitgehend unklar.

Weniger unklar ist ihre systematische Ausgrenzung aus dem politischen Prozess. Die Idee war, dass Frauen einerseits natürlich ungeeignet seien, sich politisch zu betätigen, es andererseits aber auch unschicklich sei. Ihnen gebühre der Platz zuhause. Viele „progressive“ Maßnahmen der Revolution konzentrierten sich deswegen darauf, die häusliche Sphäre und damit den Status der Frauen aufzuwerten. Diese Anerkennungsversuche wurden aber vielfach blockiert, und nirgendwo wird das so deutlich wie bei den beginnenden Kindergärten. Auf Fröbels Idee der Notwendigkeit frühkindlicher Erziehung aufbauend, wurden in der Revolutionszeit Kindergärten gegründet und formierten sich Vereinigungen von Frauen, die als Erzieherinnen arbeiten wollten. Diese Professionalisierung wurde erbittert bekämpft, weil JEDE Professionalisierung von Frauen als Angriff auf die patriarchalische Gesellschaftsordnung empfunden wurde, auch solche, die explizit in „weiblichen Sphären“ wie Kindeserziehung stattfanden.

Wesentlich besser ist die Quellenlage bezüglich der Emanzipation der Juden, die sich in einem Spannungsverhältnis von „Liberty and Risk„. Einerseits waren die Liberalen grundsätzlich Verfechter der Rechtsgleichheit, die sich entsprechend im Frühjahr 1848 in zahlreichen Verfassungen und ähnlichen Texten wiederfand. Aber Papier ist bekanntlich geduldig, und weder die unteren Schichten noch die Konservativen waren zur Emanzipation bereit. Während letztere mit politischen Manövern die Umsetzung blockierten, führten letztere – vor allem in Deutschland – Pogrome durch, die für Clarke direkt im Zusammenhang mit der Emanzipation stehen: ihre realistisch möglich Verwirklichung weckte jahrhundertelang leicht reaktivierbare Vorurteilsmixe, die sich in zerstörerischer Gewalt Bahn brachen. Die Liberalen kühlten demnach auch gegenüber der Idee und verfolgten sie nur halbherzig weiter. Zwar war ein Anfang gemacht; die vollständige Emanzipation aber musste bis in die 1870er Jahre warten, und die weitere Geschichte zeigt, wie gefährdet sie blieb.

Ein örtliches Phänomen der Wallachei war die „Liberation of the „Roma Slaves“„. Bis in die 1830er Jahre waren die Sinti und Roma in der rumänischen Gegend noch legal von Staat, Kirche und Privatleuten versklavt. Erstere Sklavenverhältnisse wurden in den 1830er Jahren aufgeläst; 1848 brachte auch die Abschaffung der Sklaverei von Privatleuten. Wie auf Martinique ließ die praktische Umsetzung auf sich warten: Es musste garantiert sein, dass die Vorbesitzer staatliche Entschädigung erhielten und dass die Sinti und Roma gesetzlich gezwungen wurden, weiter für sie zu arbeiten, damit sie keine Freizügigkeit besaßen. Man darf wohl sagen, dass sie in dieser Region Europas noch heute auf ihre Emanzipation warten.

Clarke verweist generell auf das Phänomen „The Time of Emancipation„: eine anfängliche Begeisterung kühlte sich schnell ab. Besonders bedrückend ist, dass die Gewalt und der Hass gegen die zu emanzipierenden Gruppen in dem Umfang zunahm, indem ihre Gewinnung von Rechten eine politische Möglichkeit und teils sogar Realität wurde. Auch dieses Phänomen lässt sich bedauerlicherweise heutzutage noch 1:1 nachvollziehen.

Damit leitet Clarke zu Kapitel 7, „Entropy„, über. Anhand einiger Gemälde der Epoche verdeutlicht er, dass die Revolution bereits im Frühjahr aus disparaten Gruppen bestand, die kaum einig fühlten und handelten.

Stattdessen sei eine „Vagabond Sovereignity“ zu beobachten: die Revolution hatte die Macht zwar aus den Händen der alten Eliten genommen (wenigstens teilweise); sie war aber noch nicht klar neu verteilt worden. Die politischen Wende drehten deswegen scharf und unberechenbar. Politische Akteure stiegen und fielen praktisch täglich. Auffällig für dieses Phänomen ist zudem der Aufstieg bewaffneter Gruppierungen aller Schattierungen. Zu Beginn waren es vor allem die Radikalen, die sich von Studenten- über Handwerksverbände in den Städten und in etwas, das Clarke aus dem Italienischen heraus als squadres bezeichnet, formierten. Genauso wie bei den Parlamenten galt auch hier, dass die Gegner der Radikalen (die oft mit Jagdgewehren des 18. Jahrhunderts und ähnlich untauglicher Ausrüstung aufliefen) wesentlich erfolgreicher und professioneller waren. Bald übertrafen deren bewaffnete Verbände die der Radikalen. Zudem verpassten die Radikalen vielfach die Chance (mit Ausnahme von Wien), die Macht dann auch tatsächlich zu sichern; allzu oft ließen sie sie fahren.

Die Radikalen versuchten sich angesichts ihrer offenbaren Schwäche durch einen „Radical Breakaway“ neue Geltung zu verschaffen und die Revolution erneut zu entfachen. Im deutschen Kontext sind hier vor allem Hecker und Struwe wichtig; Hecker vor allem wurde zu einer Ikone seiner Zeit, wenngleich Clarkes Behauptung, er sei im deutschen Südwesten heute noch berühmt, angesichts des durchschnittlichen Kenntnisstands über das 19. Jahrhundert haarsträubend ist. Auch in Italien und Österreich gab es solche radikalen Aufstände; nur in Österreich erreichten sie mit der Übernahme der Macht in Wien aber kurzfristigen Erfolg. Sie alle aber scheiterten innerhalb kürzester Zeit und wurden niedergeschlagen; die Anführer gingen oft ins Exil (Hecker und Struwe etwa in die USA, wo sie eine beachtliche zweite politische Karriere hinlegten). Die italienischen Radikalen im Besonderen hatten mit ihrem Aufstand allerdings nie reale Hoffnungen auch eine Machtübernahme verknüpft; sie sahen im heroischen Scheitern vielmehr einen Wert an sich, weil es eine neue Generation mobilisierte und die für revolutionäre Bewegungen so wichtigen Märtyrer schuf.

Der Gegensatz zwischen „Town and Country“ ist das nächste Thema Clarkes. Die schlechte wirtschaftliche Lage und die Konflikte um feudale Privilegien hatten viel revolutionäre Triebkraft mit sich gebracht. Nun waren neue oftmals neue Regierungen an der Macht, die mit der Herausforderung nach einer neuen Agrarpolitik konfrontiert waren. Während die Landbesitzer ihre Macht und ihren Besitz erhalten wollten, verlangten die Bauern nach fairem Ausgleich ihrer erbrachten Leistungen. Die Liberalen hatten hier neben ihrer natürlichen Vorliebe für die Begüterten das Problem, mit den Fragestellungen gar nicht vertraut zu sein. Die Konservativen hatten den Vorteil, die Lebenswelt der Bauern tatsächlich zu kennen (wenngleich aus einer herablassenden Perspektive), während die Liberalen im Endeffekt an diese heran, aber nicht mit ihnen redeten. Sie blieben Fremde aus der Stadt.

Ein gewaltiger Streitpunkt der Epoche waren die „National Questions„. Clarke betont, dass man nicht den Fehler machen sollte, späteren Narrativen der Nationalisten auf den Leim zu gehen, die das europäische Phänomen der Revolutionen kompartmentalisierten und ihren jeweils eigenen nationalen Werdegang einordneten, warnt aber zugleich vor einer Überkorrektur: die Menschen hätten durchaus nationale Gefühle gehabt, auch intensive, nur standen diese neben lokalen, regionalen und überregionalen Identitäten in einem viel fluideren Komplex.

Am Beispiel Italien zeigt er dabei schön auf, wie diese Gefühle nur Teile der Bevölkerung erfassten und vor allem die Herrschenden ausließen, die sich eher noch dynastisch begriffen: Piemont etwa führte Krieg gegen die Lombardei nicht zur Nationsgestaltung gegen die Österreicher, sondern zur dynastischen Vergrößerung, und enttäusche so die Nationalisten. In Österreich dagegen standen die Nationalisten vor der Herausforderung, dass ihre Sprachen oft nicht gesprochen wurden (und deswegen als regelrechter Kreuzzugp propagiert wurden) und die Trennlinien nicht nur an Sprache, sondern auch an Religion entlang liefen. Protestantische Polnisch Sprechende identifizierten sich mit Habsburg, katholische Deutsch Sprechende mit Polen. Es war ein wilder, unübersichtlicher Mix. Auch realpolitische Überlegungen kamen hinzu. Den Slawen war durchaus klar, dass ein deutscher Nationalstaat und damit die Auflösung Österreichs nicht in ihrem Interesse lag, da sie dann zwischen Deutschland und Russland erdrückt wurden (was ja dann in den 1930er Jahren Realität wurde).

Auch in Polen war der Nationalismus ein kompliziertes Gebilde. Im selben Atemzug, in dem sie für sich und ihre Errungenschaften die Anerkennung einforderten, verweigerten die Polen dieselbe den Ukrainern, die sie als zweitklassig und unwürdig herabwürdigten – mit effektiv denselben Argumenten, mit denen sie ihrerseits herabgewürdigt wurden. Der deutsche Nationalismus indessen entzündete sich in vollem Ausmaß im Krieg mit Dänemark. Dieser legte gleichzeitig die Schwächen der Revolution offen, als Preußen unilateral Frieden schloss und der erregten Nationalversammlung nichts als die nachträgliche Sanktionierung blieb. Die Ereignisse führten zu einer weiteren Radikalisierung der Linken, während die Gegenrevolution bereits offensichtlich an Fahrt aufnahm.

Die Revolution hatte im Februar in Paris begonnen; dass der in „A Revolution Shuts Itself Down“ beschrieben Anfang von Ende im Juni ebenfalls in Paris begann, ist daher nur folgerichtig. Die fluiden politischen Verhältnisse in der Hauptstadt wandelten sich rapide, als die Frage des Rechts auf Arbeit aufs Tablett kam. Die im Februar eingerichteten Werkstätten für die verarmenten, arbeitslosen Arbeiter belasteten die Staatskassen und waren den Moderaten ein Dorn im Auge. Sie entschlossen sich zur Schließung, was unter Teilen der Betroffenen für gewalttätige, aber zum Scheitern verurteilte Proteste sorgte. Die radikale Linke war damit am Ende, die Einheit der Revolution aufgelöst. Die spätere Verherrlichung der Geschehnisse etwa durch Marx weist Clarke zurück; er betont, dass Arbeiter und Handwerker auf beiden Seiten des Konflikts standen und sich gegenseitig bekämpften. Kein Klassenkampf in Sicht.

Zum Abschluss gibt Clarke in „In the Heat of the Century“ einige Metaphern aus Medizin und Wissenschaft, die um 1848 relevant waren, vom Blutkreislauf über Entropie und die Gewinnung von Energie durch Wärme. Diese haben das Ziel deutlich zu machen, dass die Revolution aus mehreren unterschiedlichen Strömungen bestand, die, wenn sie nicht koordiniert waren, schnell zu einer gegenseitigen Blockade auswachsen konnten. Und es ist genau diese Blockade, dieser Stopp im Blutstrom der Revolution, die sich die Gegenrevolution zunutze machte.

In Kapitel 8, „Counter Revolution – Naples in the Summer„, kehren wir ins Königreich beider Sizilien zurück. Nach der Gewährung einer Verfassung und der Wahl eines Parlaments im April vollzogen König und Regierung einen scharfen Schwenk. Der König verlankte von den Parlamentariern einen Eid, der ihm im Endeffekt Handlungsfreiheit gewährte und die Verfassung faktisch nutzlos machte. Die Parlamentarier weigerten sich, und Regierung und König taten, was Bismarck später ebenfalls tun würde: sie ignorierten Verfassung und Parlament und regierten einfach weiter. Der unvermeidliche Aufstand war schlecht koordiniert und bewaffnet; die Liberalen, deren Minister in der Regierung bereits die Politik des Königs mittrugen, hielten sich heraus. Da der König sich vorbereitet hatte, hatte der Aufstand keine Chance. Methodisch machte die Armee die Aufständischen nieder. Das Parlament durfte noch ein Dreivierteljahr weitertagen, was es zu seinem Schaden auch tat: bis dahin hatte es sich in seinen nutzlosen Veröffentlichungen, Pamphleten und Gesetzen hoffnungslos diskreditiert. Für Clarke steckt hier der Keim der späteren Spaltung Italiens, weil der Süden autoritäre Instinkte übrig behalten hätte: in dem Aufstand wandten sich große Teile der Bevölkerung GEGEN Verfassung und Demokratie und unterstützten den König, während sich die Liberalen diskreditierten (und für ihren Judasdienst vom König in einer Großen Säuberung teils verhaftet, teils in die Bedeutungslosigkeit geschickt wurden). Clarke sieht es allerdings als Zeichen für den Erfolg der liberalen Ideen, dass Ferdinand II. es nicht wagte, die Verfassung abzuschaffen – er beließ sie als symbolisches Dokument.

Auch in Österreich schlug das Pendel um: „The Empire strikes back“ (Clarke liebt seine Wortspiele und Metaphern). Der Blick wendet sich zuerst nach Prag, wo die Revolutionäre sich der dornigen Nationalitätenfrage gegenübersehen: der Versuch, Tschechen und Slowaken zu vereinen, schlägt ziemlich schnell fehl; mehr Autonomie zu gewinnen wird zu einem rein tschechischen Projekt, an dem sich weder die deutschsprachige Elite noch die Slowaken groß beteiligen. Zudem waren die tschechischen Liberalen nicht in der Lage, die Probleme der Mehrheitsbevölkerung zu verstehen oder in ihre Politik einzubeziehen. Als der österreichische Feldherr Windischgrätz, ein Erzkonservativer und ohnehin schon mit nervösem Zeigefinger auf Blut aus, den Vorwand erhielt (zeitgleich mit Radetzkys Erfolgen gegen den italienischen Aufstand, was die Stärke Österreichs zeige), schlug er die ganze Revolution schnell nieder.

Ähnlich erging es den Liberalen in der Wallachei (deren Gedandtschaft nach Paris dort just nach der Gegenrevolution eintraf und daher einen Vorgeschmack auf ihr eigenes nahendes Schicksal bekam) und in Ungarn, wo die Krone mit einer Mischung aus vorgetäuschter Verhandlungsbereitschaft und militärischer Gewalt die Kontrolle wieder an sich riss. Am übelsten erging es Wien, in dem die Barrikadenkämpfe des Sommers wesentlich mehr Tote kosteten als die des Frühjahrs – und auch hier wurde die Revolution extrem erfolgreich niedergekämpft. Es zeigte sich erneut, dass die Liberalen wie Radikalen es nicht geschafft hatten, die Unterstützung der Landbevölkerung zu gewinnen. Die Gegenrevolution war indessen so zuversichtlich, dass sie kein Problem damit sah, den Gesandten des Frankfurter Parlaments, Robert Blum, zu ermorden.

Doch nicht nur in Wien galt die Devise „The Iron Net Descends„. Friedrich Wilhelm sah sich stark genug, die Verfassung Preußens zu eliminieren, die ihm ein Dorn im Auge war. Der Widerstand der liberalen Abgeordneten war, um es kurz zu machen, recht überschaubar. Wesentlich blutiger lief die „Counter Revolution in a Very Small Place“ ab, auf den Ionischen Inseln. Diese standen unter britischer Herrschaft und hatten ebenfalls eine kleine liberale Revolution, die sich unter dem altersmilden Tory-Statthalter weitgehend frei entfalten konnte. Als ein junger Whig seinen Posten einnahm, glaubten die Ionier, Unterstützung gefunden zu haben. Stattdessen zeigte der Erzliberale sich als Feind der freiheitlichen ionischen Ordnung, stationierte Soldaten und schlug den Aufstand blutigst nieder, mitsamt liberaler Nutzung der Neunschwänzigen Katze, Mordschwadronen und dem vollen Arsenal britischer Gewaltherrschaft.

Das Ende des Jahres 1848 war jedoch von „The Second Wave“ gekennzeichnet, eine Welle zweiter, radikaler Revolutionen, die über Europa hinwegging. Den Aufschlag machte Italien, wo die Affäre mit dem „Reformpapst“ endgültig zu Ende ging, der, sich zur Gegenrevolution bekennend, Rom fluchtartig verließ. Dort entstand stattdessen die kurzlebige römische Republik, die den Beweis erbrachte, dass radikale Regierungen durchaus auch kompetent agieren konnten. Weitere radikale Aufstände mit ebenso kurzlebigen Regierungen und Verfassungen entstanden etwa in Baden (wo preußische Truppen den Aufstand niederschlugen) und in der Wallachei (wo russische Truppen das taten). Für Clarke zeigen diese Revolutionen einen Lernprozess auf der radikalen Linken, da sie über wesentlich bessere Vernetzung und Organisation verfügten als die Revolutionen im Frühjahr.

Gleichzeitig zeigten sie aber auch die mangelnde Unterstützung der radikalen Kräfte auf. Diese war zwar größer als die der Liberalen (die nie über ihre Unterstützung in den Eliten hinauskamen), aber immer noch wesentlich zu schmal, vor allem, weil die Landbevölkerung nicht gewonnen werden konnte. Natürlich sah die radikale Linke den Fehler nicht bei sich, sondern beim mangelhaften revolutionären Bewusstsein der Massen; Marx verglich sie mit „einem Sack Kartoffeln“. Die Gegenrevolution indessen war überall besser organisiert und schlug die Aufstände der zweiten Welle schnell nieder.

Die Revolutionen waren aber keine rein nationalen Ereignisse. „Geopolitics“ spielten eine entscheidende Rolle. Die Ordnung des Wiener Kongresses etwa hatte mehrere Verfassungen, etwa die der Schweiz und des Deutschen Bundes, garantiert, was revolutionäre Umstürze dort zu europäischen Angelegenheiten machte und Interventionen herausforderte oder ermöglichte. Was in einem Land geschah, hatte direkte Wechselwirkungen mit anderen Ländern. Entsprechend befruchteten sich die revolutionären Prozesse genauso gegenseitig wie die gegenrevolutionären. So etwa kann Russlands Rolle in der Unterdrückung des Ungarer Aufstands kaum überschätzt werden.

Eine intellektuelle Folge der Revolutionen war „The Birth of Realism Out of the Spirit of Counter-Revolution„. Sowohl für die Linken wie die Rechten war eine Konsequenz aus dem Scheitern der Revolution, die Welt in „realistischen“ Begriffen (im Sinne der politischen Theorie) zu erfassen. So einte sonst so disparate Akteure wie Marx und Bismarck ihre Einsicht, dass nicht Ideen, sondern Gewalt und Macht Geschichte machten. Zwar schrieben sie anderen Gründen das jeweilige Ergebnis zu – für Marx war alles der revolutionäre Druck des Proletariats, für Bismarck Eisen und Blut – aber in ihrer Analyse waren sie sich einig. Die Rechten würden diese Lektionen wesentlich gewinnbringender nutzen können als die Linken. Auffällig ist für Clarke die Rolle, die Russland von allen Beobachtenden zugesprochen wurde: seine Intervention bedeutete das Ende des Ungarischen Aufstands und verhinderte das Aufkeimen eines polnischen.

Clark beschließt seine Abhandlung der Revolutionen mit einer Würding von „The Dead„. Da wären einerseits die Märtyrer der Revolution, die es verstanden, ihren eigenen Tod in Szene zu setzen (mich erinnert diese Theatralik stark an das 18. Jahrhundert, als die gebildete Oberschicht es ebenfalls verstand, den eigenen Tod als Inszenierung zu gestalten). Memorabilia und romantisierte Erzählungen gab es noch und nöcher. Doch die meisten Menschen starben ohne großen Bekanntheitsgrad. Von Frauen sind, wenig überraschend, keine letzten Worte überliefert. Sie starben stumm. Dasselbe gilt für die unteren Klassen oder die Soldaten der Gegenrevolution. Und sie starben in großer Zahl, schon allein, weil die Soldaten der Gegenrevolution die Cholera durch Europa schleppten und eine veritable kleine Pandemie mit zehntausenden von Toten auslösten.

Damit geht es in Kapitel 9, „After 1848 – The Present is a Foreign Country„. Dessen erster Abschnitt, „Global 1848„, befasst sich mit den globalen Wirkungen der Revolutionen. Die langsamen Kommunikationswege – noch war der Telegraph nicht verbreitet – bedeuteten eine asynchrone, gleichzeitig komprimierte Wahrnehmung der Revolution im Ausland (weil etwa Australien erst mit vier Monaten Verspätung von der Februarrevolution erfuhr, dafür aber gleich drei Wochen Zeitungen als Stapel erhielt).

Zudem sorgten Fluchtbewegungen einerseits und erzwungenes Exil andererseits für einen Export der Revolution und ihrer Ideen. Für Großbritannien war dies ein Mittel gewesen, den eigenen revolutionären Druck zulasten seiner Kolonien abzubauen, was Langzeitfolgen in deren Beziehungen zum Mutterland haben würde. Das Osmanische Reich gerierte sich als liberal und progressiv und nahm zahlreiche Flüchtlinge auf, die es auch gegenüber den Auslieferungsforderungen besonders der als reaktionär wahrgenommenen Preußen und Russland verteidigte. Die so gewonnen liberalen Meriten halfen dem Osmanischen Reich, im Krimkrieg eine Welle der Sympathie in Frankreich und Großbritannien zu gewinnen, die sicherlich zu deren Kriegseintritt auf seiner Seite beitrug.

Aus diesen Entwicklungen ergaben sich „New Constellations„. Die Politiken und Ideologien von 1848 waren ungemein fluide. Zahlreiche Akteure, die sich im Frühjahr noch bei den Radikalen fanden und Forderungen nach mehr Rechten im Mund führten, wandelten sich zu moderaten Liberalen oder wechselten gar die Seiten ins reaktionäre Lager. Manche Monarchen, die vorher absolut regiert hatten (etwa der dänische König) ergaben sich in die Parlamentarisierung ihrer Herrschaft. Die Idee, dass die treibende Kraft hinter dem Staat in der Ausübung von Macht bestand, war 1789 noch eine des radikalen linken Flügels gewesen. Bismarck, Produkt der Revolution von 1848, war einer der vielen Konservativen, die sie für sich übernahmen und damit das Staats- und Politikverständnis komplett veränderten.

Er verweist auch darauf, dass das Zerrbild der Radikalen als „Kommunisten“, wie es sowohl die wenigen Kommunisten aus Selbstüberhöhung als auch die Konservativen als Schreckensfratze zeichneten, völlig übertrieben ist; effektiv seien sie eine Frühform der Sozialdemokraten gewesen, und die meisten hätten sich ja dann letztlich auch integriert. Es war 1848, die das heute geläufige Schema von Mitte-Links und Mitte-Rechts überhaupt erst schuf; beides Richtungen, die vor 1848 überhaupt keinen Sinn gemacht hatten und für die nächsten fast 200 Jahre entscheidende Pole bilden sollten.

All diese Änderungen waren dadurch möglich, dass man sich in „The Age of Circulation“ befand. 1848 sah einen Umsatz an Ideen und Menschen, der erstmals nicht primär durch marschierende Armeen herbeigerufen wurde, sondern unkontrollierbar aus den geänderten Lebensumständen entstand. Die stark gesunkenen Kosten für Printprodukte sorgten dafür, dass Zeitungen bald zum beherrschenden Kommunikationsmittel wurden. Hunderte von Produkten hatten vier- oder fünfstellige Auflagen.

Einer der großen Verteilerknoten für dieses neue Produkt waren die Bahnhöfe, an denen es die Zeitungen nun zu kaufen gab. Bahnhöfe schossen nach 1848 wie Pilze aus dem Boden, denn wie wir gleich sehen werden veränderte 1848 das Finanzverhalten von Staaten fundamental. Die Möglichkeit, quer durch das ganze Land (und Europa) zu reisen, ermöglichte eine Verteilung von Akteuren wie Ideen. Exilanten brachten die Ideen von 1848 mit in die Länder, in die sie auswanderten, während Aktivisten aller Couleur sich erstmals in größerem Umfang vernetzen konnten.

Das alles wurde durch den „Material Progress“ möglich, den ein fundamental geändertes Staatsverständnis mit sich brachte. Die preußische Krise 1847 war maßgeblich durch die Unmöglichkeit hervorgerufen worden, große Kredite aufzunehmen, die den Ausbau der Eisenbahn hätten erlauben können. Quer durch Europa war die herrschende Meinung gewesen, dass der Privatsektor dies zu besorgen hatte – eine angesichts der Investitionsumfänge hanebüchene Idee. Es war 1848, das die Gewissheit, dass der Staat nicht nur dafür sorgen musste, dass solcherlei Investitionen getätigt wurden, sondern auch, dass er die Legitimation und Möglichkeit besaß, in allen politischen Richtungen verankerte.

Gerade in Preußen machte die Verfassung, die eine liberale bis linksliberale Mehrheit ins Abgeordnetenhaus brachte, dies exemplarisch deutlich. Der damit einhergehende Machtverlust der traditionellen Konservativen beseitigte die Hindernisse, die bisher für die Investitionen bestanden hatten. Der König konnte so eine inoffizielle, eigentümliche Verbindung (new constellations, indeed) mit den Liberalen eingehen, die fundamental erklärten, jede noch so große Summe für den Infrastrukturausbau im Parlament freizugeben. Als Folge wuchs das preußische Schienennetz rapide an und stimulierte einen wirtschaftlichen Aufschwung, der jede vorherige Investition verzwergte.

All diese Entwicklungen fielen mit einer Revolution der Technik und der Arbeitsmethoden zusammen. Für Clark steht fest, dass ohne 1848 der wirtschaftliche Aufschwung in Europa wesentlich länger hätte auf sich warten lassen, weil der konservative Adel seine blockierende Position viel länger hätte aufrechterhalten können. Sieht man sich den Gewinn an industrieller Leistungskraft wie Lebensstandssteigerung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, fällt es schwer, diesem Urteil zu widersprechen.

Die deutlichsten Auswirkungen dieses Mentalitätswandels sieht man in „The Post-Revolutionary City„. In den Städten wurden die Infrastrukturprojekte besonders massiv vorangetrieben. Nach 1848 wurden etwa in praktisch allen Städten die alten Stadtmauern geschleift (wenngleich oft gegen erbitterten Widerstand der Konservativen, die sich von ihnen eine Schutzfunktion gegenüber Aufständen von Arbeitern erhofften und durch Mauern die sozialen Grenzen quasi betoniert sehen wollten) und durch breite Straßen mit modernen Repräsentativ- und Wohnbauten ersetzt; paradigmatisch steht hier die Ringstraße in Wien.

Auch die Wasserversorgung wurde nach 1848 komplett neu aufgestellt und erlaubte überhaupt erst das massive Wachstum der Städte im 19. und 20. Jahrhundert. Dies wird exemplarisch an Madrid deutlich, wo die Liberalen in den Cortez dieses Projekt mit besonderer Aufmerksamkeit angingen (vom Gewinn für die Volksgesundheit einmal ganz abgesehen). Die Rolle der Eisenbahnen wurde ja bereits erwähnt, deren große Knotenpunkte ebenfalls in den Städten lagen (und für die bedenkenlos die Armenquartiere vernichtet und die Menschen vertrieben wurden). Das Bekenntnis zur Großstadt, zusammen mit dem sich schon länger ankündigenden Trend zur Urbanisierung, war ein klares Merkmal der Moderne des 19. Jahrhunderts. Dazu gehörte auch moderne Stadtplanung, und das wiederum setzte, genauso wie die großen nationalstaatlichen Infrastrukturprojekte, leistungsfähige Verwaltung voraus. All diese Entwicklungen erhielten quasi durch 1848 einen Schub.

Der Umgang der Politik mit der Öffentlichkeit wurde durch 1848 ebenfalls nachhaltig geändert. In „From Censorship to Public Relations“ beschreibt Clark, dass die frühere Abschottung der Politik von jeglichem äußeren Einfluss nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Es gab nun eine breite politisch interessierte Bevölkerungsschicht, die einen Bedarf sowohl nach öffentlicher Debatte als auch nach den entsprechenden medialen Produkten besaß. Die früheren Zensurregime aber hatten sich als unzureichend erwiesen, um unerwünschte Ansichten blockieren zu können. Zu viele Regierungsbehörden, die sich gegenseitig blockierten und von den reaktionären Grundhaltungen der Amtsinhaber abhängig waren, waren dafür nötig, einmal abgesehen davon, dass die Zensur nur blockieren konnte, was bereits geschrieben war.

Deswegen schwenkten die Staaten auf aktive Pressearbeit um. Nach einer kurzen reaktionären Phase des Verbots fast aller Zeitungen und Magazine stieg die Zahl an Publikationen sprunghaft an und begann den medialen Massenmarkt zu schaffen, den wir heute kennen. Anstatt ihn komplett als Opposition zu begreifen, die zu unterdrücken war, begannen die Regierungen, eigenes Fachpersonal einzustellen, das als Spindoktoren, Stichwortgeber und Propagandisten fungierte. Teils brachten die Regierungen eigene Organe heraus; der Papst war dabei etwa ein Vorläufer, der eine Zeitung für „loyale“ Katholiken in Italien schuf. Auch das rechtliche Verhältnis von Presse und Staat wurde immer mehr geregelt und den Konflikten so die Schärfe genommen.

Die Ausnahme war, wie in so vielem, Russland, das eine wahre Terrorherrschaft errichtete, die selbst Loblieder auf den Zaren unterdrückte. Eine ständige Aura der Furcht war das beherrschende Merkmal der 1850er und 1860er Jahre im Zarenreich. Wenig überraschend war das Land bald die rückständigste der europäischen Großmächte.

Unter „Conclusions“ fasst Clark dann all diese Stränge noch einmal zusammen. 1848 war ein Motor der Modernisierung, weswegen die Frage nach dem Scheitern aus seiner Sicht falsch gestellt ist. Wer scheiterte mit was? Die radikalen Revolutionäre erreichten ihre Ziele nicht, aber die Konservativen fühlten sich oftmals auch nicht wie Gewinner, und sieht man den Bogen der Veränderungen nach 1848 an, so kann man sich des Eindrucks kaum verwehren, als wären die Revolutionen Taktgeber und Initialzündung für unsere heutige Welt gewesen.

Das Fazit, verwirrenderweise ebenfalls mit „Conclusions“ überschrieben, versucht dann den Bogen zur Gegenwart zu ziehen. Auch heute sieht Clark die Ideologien im Fluss wie schon lange nicht mehr. Die Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Geographie, die 1848 produzierte, ist zunehmend wirkungslos. Neue Medien und Technologien erlauben die Zirkulation neuer Ideen, das Bestehende wird herausgefordert. Ich muss zugeben, dieses Kapitel als das am wenigsten ergiebige empfunden zu haben, weswegen ich meine Zusammenfassung hier auch stark abkürze. Es scheint mehr eine Pflichtübung gewesen zu sein, weil eine ordentliche Monographie ebenso zu enden hat. Besonders belastbar waren die Punkte jedenfalls nicht, dazu waren sie zu wenig entwickelt.

Aber das ist alles auch gar nicht notwendig. Das Buch lebt letztlich davon, dass die Lesenden ihre eigenen Schlüsse bereits bei der Lektüre ziehen können. Für mich waren mehrere Kontinuitätslinien augenfällig, die tatsächlich Strahlkraft in unsere Gegenwart haben.

Da wäre einerseits das Unvermögen von Radikalen und Liberalen, Mehrheiten außerhalb ihrer Ursprungsschichten, vor allem aber bei der Landbevölkerung zu organisieren. Frappant war für mich vor allem, wie schnell besonders die Radikalen immer bereit waren, ihre Lobesarien auf die Volkssouveränität über Bord zu werfen, wenn die gewünschen Wahlergebnisse nicht kamen. Stets war das die Schuld der von bösartigen Mächten belogenen einfachen Leute, denen (noch!) nicht zu trauen war, ein Zustand, der nur durch eine revolutionäre Regierung (natürlich nur für einen Übergang) beizukommen war. Es ist nicht schwer, hier den Schatten Lenins dräuen zu sehen.

Ebenso auffällig war für mich die völlige Ignoranz der Liberalen gegenüber den Lebensumständen der 99%. Wenn sie ihre Ziele von Verfassung und rechtlichen Privilegien für ihre Klasse erreicht hatten, erklärten sie mission accomplished und wurden zu unnachgiebigen Bewahrern des Status Quo. Keine Überraschung, dass hier später unheilige Bündnisse mit dem rechten Spektrum entstehen würden, wann immer dieser Status Quo durch Forderungen der Zukurzgekommen in Gefahr zu geraten schien; die Liberalen imaginierten hier die Gefahr eines radikalen Umsturzes, wo eher sozialdemokratische Reformer am Werk waren, routinemäßig zu hoch.

Aber auch die Konservativen neigten dazu, sich in die Tasche zu lügen. Clark betont gerne, dass zwar Liberale und Radikale die Landbevölkerung nicht gewinnen konnten, dass aber die Konservativen in ihrer Idee, es bestünde eine genuine Liebe zum Thron in der Masse der Armen – dass also die Könige quasi Repräsentanten einer schweigenden Mehrheit seien – völlig falsch lagen. Es war ihren Gegnern nur nicht gelungen, die Unzufriedenheit der Landbevölkerung richtig zu addressieren. Das bedeutete nicht, dass diese nicht unzufrieden waren. Die Vorstellung, die Mehrheit sei konservativ und auf der eigenen Seite, ist ein bis heute fortgesetzter Irrtum in diesem Spektrum.

So sehr ich das Buch auch mochte, so sehr würde ich mir manchmal wünschen, dass der starke Fokus auf Anekdoten in der angelsächsischen Geschichtsschreibung zurückgefahren werden könnte. Diese Geschichtenerzählerei macht es immer schwer, Trends von netten Ereignissen zu unterscheiden, und man muss komplett auf die Historiker*innen vertrauen, dass sie nur repräsentative Anekdoten wählen. Zudem würde es die Bücher wesentlich konziser und kürzer machen.

Als letzte Bemerkung – dies ist aber keine Schwäche Clarks – hat sich bei mir im letzten Kapitel der Appetit nach mehr eingestellt. Ich habe das Gefühl, dass eine Geschichte der ökonomischen Transformation, wie Clark sie hier eigentlich nur anreißen kann, ein echtes Thema für Adam Tooze wäre. Das wäre ein Klasse companion piece, das ich sofort verschlingen würde und das eine ohnehin unterbeleuchtete Dimension dieser Geschichte offenlegen würde.

Damit bleibt mir nichts, als zum Abschied eine unbedingte Empfehlung für das Buch auszusprechen. Für alle einschlägig Interessierten absolut großartig.

Bas Kast – Der Ernährungskompass: Das Fazit aller wissenschaftlichen Studien zum Thema Ernährung (Hörbuch)

Bereits vor einigen Jahren habe ich auf Anraten meiner Ärztin in den Ernährungskompass gelesen. Anlässlich einer diesjährigen Diät, die aus mangelnder Selbstdisziplin bei den kleinen Dickmachern resultierte, habe ich die Lektüre wiederholt. Bas Kast Er hat in seinem lesenswerten Buch einen Rundumschlag mit einer so vollständig wie möglichen Auswertung sämtlicher wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Ernährung vorgelegt, das ist immer noch einen leicht lesbaren Überblick über das Thema verschafft, ohne sich irgendeiner bestimmten Diät zu verschreiben. Kleine Anmerkung vorweg: Wenn im Folgenden von Diät die Rede ist, ist damit eine spezifische Ernährungsweise, nicht zwingend ein Abnehmversuch verbunden.

In seiner kurzen Einführung, „Warum ich meine Ernährung radikal umgestellt habe„, beschreibt der Autor seinen durchaus sportlichen Alltag vor einer Ernährungsumstellung und sein Erschrecken, als er plötzlich an einem Herzleiden erkrankte, dass er immer mit unsportlichen und/oder älteren Menschen verbunden hatte. er begann, sich für Ernährung zu interessieren und erkannte dabei die Relevanz der eigenen Ernährung für den Gesundheitszustand.

Methodisch wendet er sich nun in den Nährstoffen zu. In Kapitel 1, „Proteine I: der schlank machende Eiweißeffekt„, erläutert er, warum Protein für jede Abnehmkur ein unverzichtbarer Bestandteil ist: Protein sättigt. Wer je die Anekdote eines amerikanischen Restaurants gehört hat, das gigantische Kotletts demjenigen kostenlos anbietet, der es schafft, sie an Ort und Stelle allein zu verzehren, und die noch nie ein solches komplett umsonst herausgeben mussten, weiß, wovon die Rede ist. es ist beinahe unmöglich, sich an Protein massiv zu überfressen.

Kapitel 2, „Proteine II: Motor von Wachstum und Alterung„, schüttet dann etwas kaltes Wasser über die Begeisterung aller Fleischliebhaber*innen: am Beispiel der Atkinsdiät, deren Begründer früh an einem Herzleiden starb, das exakt durch seine eigene Diät hervorgerufen wurde, zeigt der Autor, welche Gefahren im übermäßigen Fleischkonsum liegen können. Fleischliche Proteine nämlich sind die Bausteine von Wachstum: besonders Kinder und Jugendliche Körper verwenden sie, um jene Körpermasse, Muskulatur und den ganzen Rest zuzulegen, die mit dem Erwachsensein verbunden ist. Jugendliche Körper arbeiten auf Hochtouren – etwas, das man über die meisten Erwachsenen nicht sagen kann. Essen Sie zu viel tierisches Protein, gibt Ihnen das zwar viel Energie und lässt sie in jüngeren Jahren sehr fit durchs Leben gehen, sorgt aber gleichzeitig für einen frühen Verschleiß des Körpers und einen ebenso frühen Tod.

Bas Kast Spricht sich daher dafür aus, die Proteine hauptsächlich über gesündere Quellen zu sich zu nehmen. Fleisch ist nämlich nicht gleich Fleisch: rotes Fleisch ist schlechter als Weißes und Fisch besser als weißes Fleisch. Auch alle Fische sind natürlich nicht gleich. Besonders betont werden Milchprodukte wie Joghurt, Kefir oder Käse. Diese werden uns im Kapitel über Fett noch einmal ausführlicher begegnen. Ungeschlagen allerdings sind pflanzliche Eiweißquellen, vor allem Hülsenfrüchte.

Eine weitere hochwichtige Intervention erfolgt in Kapitel 3, „Intermezzo – Die entscheidende Zutat der idealen Diät sind Sie„. Denn Körper sind unterschiedlich, weil Menschen individuell sind. Was dem einen guttut, ist für den anderen nicht besonders hilfreich oder sogar schädlich. letzten Endes führt daher bei keiner Ernährungsweise ein Weg darum herum, auszuprobieren und genau zu beobachten. die eine Superdiät, die für alle gleich gut funktioniert, existiert schlicht nicht. gleichwohl stellt der Autor fest, das ist für einen größeren Teil Menschen als für irgendeine andere Diät Low-Carb besonders hilfreich ist. die Gründe hierfür Folgen in den nächsten Kapiteln.

Genauso wie es viele verschiedene Arten von Proteinen gibt, gibt es auch verschiedene Arten von Kohlenhydraten. In Kapitel 4, „Kohlenhyrate I – Zucker, das verführerische, gefährliche Zwitterwesen„, wendet sich Bas Kast dem gefährlichsten Kohlenhydrat zu, dem Zucker. Dieser kommt in vielen Arten vor und wird von der lebensmittelverarbeitenden Industrie mittlerweile praktisch jedem Lebensmittel beigemischt. Das ist deswegen problematisch, weil unsere Körper eine absolute Sucht nach Zucker haben. Wir essen daher mehr als nötig und wesentlich ungesunde Produkte alles gut für uns ist. Der Industrie ist das natürlich vollkommen bewusst; sie nutzt diesen Effekt absichtlich aus. Zucker ist in seiner Wirkung dabei ähnlich zerstörerisch wie Nikotin.

Wenig überraschend rät der Autor daher von praktisch allen industriell verarbeiteten Lebensmitteln ab. Dies gilt in besonderem Maße für industriell gefertigte Süßigkeiten. Am übelsten ist gar nicht so sehr der Kristallzucker, der in „ freier Wildbahn“ üblicherweise sehr berechenbar ist: Omas Apfelkuchen oder der gesüßte Tee Snacks, die wir auf dem Schirm haben und die wir modulieren können. Dass die Industrie den Zucker auch Wurst, Fleisch oder Käse beimischt oder dass er sich im abgepackten Tütenbrot findet, dürfte den meisten Menschen eher unbekannt sein. Auch, dass die Zuckeraufnahme durch Obstsäfte genauso schlimm ist wie durch Coca Cola, dürfte viele überraschen.

Die bereits vorher genannte mehrheitliche Effektivität einer Low-Carb-Ernährung erklärt Bas Kast in Kapitel 5, „Kohlenhydrate II – Warum der Körper mancher Menschen nur auf Low Carb anspricht„. Die Verarbeitung von Zucker – wozu zudem im Übrigen auch Stärke gehört, wie ein Hauptbestandteil der Kartoffel ist, die deswegen ein ausgemachter Dickmacher ist – hat bei manchen Menschen wesentlich größere Auswirkungen als bei anderen. sie lagern die aufgenommenen Kohlenhydrate quasi direkt als Fettzellen ab während andere sie eher als Treibstoff für den Tag benutzen. Letztere Kategorie ist leider wesentlich seltener als erstere, weswegen der Versuch, Kohlenhydrate zu reduzieren, auch bei so vielen Menschen große Erfolge hat. es ist nur schwer durchzuhalten, bei Kohlenhydrate in unserer Ernährung immer noch eine übergroße Rolle spielen und deswegen überall verfügbar sind – während eine kohlenhydratarme Ernährung außerhalb der eigenen vier Wände sehr schwer umzusetzen ist. ich weiß das aus eigener, schmerzhafte Erfahrung.

Natürlich ist nicht alles schrecklich. Kapitel 6, „Kohlenhydrate III – So erkennt man gesunde Kohlenhydrate„, zeigt gesündere Ernährungsweisen auf. Hier spielen besonders Ballaststoffe eine große Rolle. auch die Problematik von Brot, das als der Deutschen liebster Kohlenhydratträger auch bereits im vorherigen Kapitel eine große Rolle spielte, wird erneut aufgenommen. den tatsächlich ist nicht Weizen das grundsätzliche Problem, sondern Weißmehl. in Vollkornform sind Nudeln, Reis oder Brot deutlich gesünder als ihre weißen Alternativen. Natürlich fährt man auch hier immer besser, wenn man die Einnahme der Kohlenhydrate möglichst gering hält; gleichwohl enthalten diese Produkte wesentlich bessere Inhaltsstoffe als ihre weißen Cousins.

Kapitel 7, „Intermezzo: Getränke: Milch, Kaffee, Tee und Alkohol„, wendet sich den im Titel bereits genannten Getränken zu. der Autor verweist beim Thema Milch auf die schlechte Datenlage. Ungewöhnlich viele Studien sind von der Milchindustrie bezahlt, und rechnet man sie aus dem Aggregat heraus, zeigt sich ein für viele Menschen neutrales und für einen nicht unerheblichen Anteil negatives Bild dieses Lebensmittels was, das Bas Kast zur Vorsicht raten lässt. eine gute Nachricht hat er für alle Kaffeetrinkende im Gepäck: Filterkaffee ist tatsächlich sehr gesund, nicht jedoch Espresso oder kalt gepresster Kaffee mit Kaffeesatz. ein wahres Loblied singt er auf die gesundheitsfördernde Wirkung des grünen Tees (der mir wegen seines Koffeingehalts leider verschlossen bleibt). Das Bild bei Alkohol fällt ambivalent aus: zwar ist sich die Wissenschaft ziemlich einig, dass eine kleine Menge täglich tatsächlich gesundheitsfördernd ist. Das Problem ist allerdings, dass diese Menge tatsächlich klein sein muss und der Effekt bei Überschreitungen sehr schnell ins Negative umschlägt.  Die allermeisten Menschen, die regelmäßig Alkohol konsumieren, haben daher tatsächlich eher negative Gesundheitseffekte – vom hohen Kaloriengehalt dieses Getränks einmal ganz abgesehen.

Liebte der Autor schon Grünen Tee so versteigert er sich in Kapitel 8, „Fette I – Ein Schnupperkurs in die Welt der Fette am Beispiel Olivenöl„, geradezu in Arien über das Olivenöl. Fette genießen zu Unrecht einen schlechten Ruf. gerade das Olivenöl hat wahnsinnig viele gesundheitsfördernde Effekte, zumindest wenn man eine qualitativ hochwertige Variante verwendet (was im Übrigen ein Leitmotiv des Buches darstellt: Essen sollte man sich etwas kosten lassen, womit wir in Deutschland ihr unsere liebe Not haben).

Natürlich ist nicht alles gutes Fett, was glänzt. In Kapitel 9, „Fette II – Gesättigte Fettsäuren: Palmöl, Butter und Käse„, wendet sich Bas Kast den wahren Übeltätern unter den Fetten zu: gesättigte Fettsäuren. In ihrer schlimmsten Form kommen sie in den sogenannten Transfetten vor, die, die geneigten Lesenden werden es schon erraten haben, vor allem in den Produkten der Lebensmittelindustrie verwendet werden, obwohl ihre gesundheitsschädlichen Auswirkungen sattsam bekannt sind. Die Liste führt hier das Palmöl an, das alles billiger Fettproduzent fast überall zu finden ist. Während dasselbe für das industrielle Müllprodukt Margarine gilt, kommt die Butter wesentlich besser weg. Gesund ist auch sie nicht, aber in Maßen eingesetzt auf keinen Fall schädlich. Noch ambivalenter ist das Bild bei Käse: er rangiert von harmlos über milde nützlich. Das liegt wieder einmal an der Verwertung der Nährstoffe durch den Körper: es handelt sich um eine individuelle Angelegenheit, bei der Fett nicht gleich fett ist, sondern (auch dies ein Leitmotiv des Buchs) der richtige Nahrungsmix entscheidend ist.

Die guten Fette lernen wir in Kapitel 10, „Fette III – Fettinger Fisch und Omega-3-Fettsäuren als Schlankmacher. Oder: Nahrung als Information„, näher kennen. Den wichtigsten Platz nehmen hier Omega-3-Fettsäuren ein. Sie sind ein wahres Wunderwerk der Natur, von dem man gar nicht genug bekommen kann. der starke Abbau besonders des Gehirns im Alter kann durch ausreichende Einnahme dieser Säuren zu einem überraschend großen Anteil gestoppt werden. Bas Kast spricht sich daher für eine Diät mit vielen fetthaltigen Fischen oder die ergänzende Einnahme von Omega-3-Pillen wie etwa Fischölpillen aus.

Die letzte Nahrungsmittelinformation in Kapitel 11, „Keine Vitaminpillen! Bis auf…„, betrifft Vitaminpillen und andere Nahrungsergänzungsmittel. Die meisten von ihnen hält er für Geldverschwendung, manche (wie etwa zusätzliches Kalzium) sogar für gefährlich. nötig sind nur eineinhalb: Vegetarier*innen und Veganer*innen müssen Vitamin B12 zusätzlich einnehmen, während praktisch alle Menschen in der industrialisierten Welt der Nordhalbkugel unter einem Vitamin-D-Defizit leiden. Hierfür braucht es definitiv ergänzende Mittel.

Zuletzt überrascht der Autor in Kapitel 12, „Das Timing von Essen und die wirkungsvollste Art des Fastens„, mit der wissenschaftlich mittlerweile eindeutig gesicherten Erkenntnis, das nicht nur die Art des Essens, sondern auch sein Zeitpunkt entscheidend ist. Das Frühstück mag nicht die wichtigste Mahlzeit des Tages sein, aber der Körper verarbeitet aufgenommene Nährstoffe umso effektiver, je früher am Tag es ist. Umgekehrt sind möglichst große Fastenzeiten am Tag, in denen gar nichts gegessen wird, für den gesunden Körper unerlässlich. Dies ist die für mich unangenehmste Erkenntnis da sie sich mit meinen Ernährungsgewohnheiten überhaupt nicht in Einklang bringen lässt.

Der Epilog, „Meine 12 wichtigsten Ernährungstipps„,

1. Essen Sie richtiges Essen

2. Machen Sie Pflanzen zu Ihrer Hauptspeise

3. Lieber Fisch als Fleisch

4. Joghurt ja, Käse auch okay, Milch so lala

5. Zucker minimieren, industrielle Transfette meiden

6. Keine Angst vor Fett!

7. Schlankmachertipp Nr. 1: Low-Carb ist keine „Modediät“, sondern gerade bei Übergewicht einen Versuch wert

8. Schlankmachertipp Nr. 2: Eiweißeffekt nutzen

9. Schlankmachertipp Nr. 3: Praktizieren Sie „Zeitfenster-Essen“

10. Schlankmachertipp Nr. 4: Hirnentzündung mit Omega-3 lindern

11. Keine Vitaminpullen!

12. Genießen Sie!

Insgesamt empfand ich das Buch auch beim zweiten Lesedurchgang als eine echte Bereicherung. Wir wissen so wenig über das, was wir essen – sowohl als Individuen wie auch als Wissenschaft wie auch als Gesellschaft -, dass jede Auseinandersetzung darüber angesichts der offensichtlichen Wichtigkeit einer gesunden Ernährungsweise mehr als notwendig ist. Das kann auch keine Aufgabe sein, die nur den Schulen obliegt, indem man etwa ein neues Schulfach einführt oder Ähnliches. Augen braucht es wesentlich mehr Aufklärung und flankierende regulatorische Maßnahmen.

Volker Ullrich – Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund (Hörbuch)

Das Jahr 1923 spielt für die Deutschen eine hervorgehobene Rolle. Nicht nur die große Hyperinflation, sondern zahlreiche andere Krisen erschütterten in diesem Jahr das Land. In der deutschen Wahrnehmung ist es vor allem die Hyperinflation die in Erinnerung geblieben ist. sie ist allerdings trotz der hervorgehobenen Rolle die sie in der deutschen Erinnerungskultur spielt kaum verstanden und wird selten in einen größeren Kontext eingebettet. Ein Buch das sich ausführlich mit dem kompletten Jahr und den Kontexten beschäftigt wäre daher sehr willkommen. ob der vorliegende Band von Volker Ullrich diesen Anspruch einlösen kann wollen wir im Folgenden untersuchen.

Ulrich beginnt seine Erzählung in Kapitel 1 Ende des Jahres 1922 kurz vor Beginn des Ruhrkampfs. Der Tagebucheintrag einer Deutschen die 1922 als Wahnsinnsjahr empfand und darauf hoffte dass 1923 mehr Normalität einkehren würde schafft den entsprechenden Rahmen. Das Chaos bezog sich nicht nur auf die galoppierende Inflation die bereits 1922 ein spürbares Problem war sondern auch auf das politische Chaos jener Jahre. So war bereits 1922 außenpolitisch von großen Konflikten mit Frankreich gekennzeichnet die wegen nicht bezahlter Reparationen unter dem Premierminister Poincaré immer wieder damit drohten sogenannte produktive Pfände einzutreiben indem sie das Ruhrgebiet besetzen und sich dort die Reparationen in Sachleistungen selbst holen würden.

Nachdem bereits 1920 die Weimarer Koalition geendet hatte regierten 1922 unter dem Reichskanzler Wirth bürgerliche Regierungen mit sehr schmaler parlamentarischer Basis das Land. als sich diese parlamentarische Basis durch Regierungskrisen weiter verschmälerte zerbrach auch die Regierung Wirth. Die Vorstellung dass die SPD ähnlich wie bereits 1919 und 1920 eine Art große Koalition mit den bürgerlich liberalen Parteien schließen könnte war wegen einer anderen Entwicklung des Jahres 1922 eine Illusion: die Auflösung der USPD und der Beitritt eines teils dieser Partei zur SPD hat er einen scharfen Linksschwenk der SPD zufolge, der für eine generelle Unwillen sorgte, in eine Koalition einzutreten und Regierungsverantwortung zu übernehmen.
 
Stattdessen wurde eine bürgerliche Minderheitenregierung unter Wilhelm Cuno eingerichtet. Dieser brachte diverse bürgerliche Persönlichkeiten als Fachminister in sein Kabinett, die sich allerdings größtenteils als Nieten erwiesen. Cuno selbst, der als umgänglicher und seriöser Mensch bekannt, gleichwohl bisher nicht als politischer Leuchtstern aufgefallen war, er zeigte sich von der Aufgabe bald überfordert und setzte alle seine Hoffnungen in die völlig unrealistische Vorstellung, dass das Ausland zugunsten Deutschlands intervenieren und die Franzosen zurückhalten würde. Als eine Koalition aus Franzosen und Belgien im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzte, um sich die Reparationen als produktive Pfände selbst zu nehmen, traf dies die Regierung Cuno trotz zahlreicher Warnungen seitens der französischen Regierung wie auch zahlreicher Experten völlig unvorbereitet.

Die Reaktion der Regierung war die Ausrufung des sogenannten passiven Widerstands. Die Idee war, dass eine Art Generalstreik im Ruhrgebiet den Widerstandswillen der Deutschen demonstrieren und die Kosten für die französischen Besatzer so in die Höhe treiben würde, dass diese sich zum Abbruch des Ruhrkampfes gezwungen fühlen würden. Es war offenkundig, dass militärischer Widerstand gegen die Besatzung völlig aussichtslos war. Nicht, dass dies die Rechtsradikalen davon abgehalten hätte, genau dies zu fordern und offensiv zu vertreten.

Zu Beginn war der passive Widerstand durchaus erfolgreich. Die Produktion im Ruhrgebiet kam fast völlig zum Erliegen und die Besatzer hatten große Schwierigkeiten, ohne Kollaborateure die Besatzungszone zu verwalten. Zudem rief der Ruhrkampf eine Welle von Einheitsgefühlen unter den stark polarisierten Deutschen hervor, wie sie seit den Kriegstagen nicht mehr gesehen worden war. Innenpolitisch konnte die Regierung Cuno daher im Januar mit der Ausrufung des passiven Widerstands einen Teilerfolg proklamieren.

Doch es zeigten sich sofort Bruchstellen. Die nationalen Aufwallungen, die die Regierung heraufbeschworen hatte, erwiesen sich als schwer kontrollierbar. Besonders auf der Seite der extremen Rechten führten sie zu einem Zulauf radikaler Terrororganisationen, die zwar für den Moment hauptsächlich gegen die Besatzer gerichtet waren, perspektivisch aber natürlich auch gegen die ungeliebte Republik selbst eingesetzt werden würden. Langfristig war die Beschwörung eines nationalen Widerstandskampfes gegen die Franzosen zudem in höchstem Maße kontraproduktiv: Sie nahm der deutschen Außenpolitik praktisch jeden Spielraum und verunmöglichte jegliche diplomatische Lösung des Konflikts, weil jederzeit das Szenario eines neuen „Dolchstoßes“ zu drohen schien.

Die Franzosen reagierten zudem schnell auf die neue Situation, indem sie Streikbrecher vor allem aus dem Elsass rekrutierten und so die Maßnahmen der Reichsregierung höchst erfolgreich unterliefen. Spätestens im März 1923 war absehbar, dass der passive Widerstand gescheitert war. Die Kosten waren für die deutsche Seite wesentlich höher als für die französische und von Letzterer zudem bedeutend einfacher zu tragen. Eine Solidarisierung des Auslands mit der Weimarer Republik fand nicht statt.

In dieser Situation hielt der Vorsitzende der DVP, Gustav Stresemann, eine vielbeachtete Rede. Stresemann, der bisher vor allem als beinharter Annexionist während des Krieges und überzeugter Monarchist aufgefallen war, äußerte sich höchst moderat, vernünftig und seriös. Die Zeitgenossen interpretierten diese Rede nicht ohne Grund als eine Art Bewerbung um das Kanzleramt. Stresemann hatte viel Grund zur Kritik. Die Regierung Cuno hatte eine völlig unzureichende Note an die französische Regierung geschickt, die nicht eben dazu geeignet war, Sympathien im Ausland zu gewinnen oder die Franzosen umzustimmen. Diese hatten ja schließlich auch durchaus einen Punkt: Die Strategie der Regierung Wirth, mit der sogenannten Erfüllungspolitik die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands zu beweisen und hierzu die Inflation zu instrumentalisieren, war ein Fakt, gegen den die Regierung zwar nicht anerkannte, der ihnen aber bereits von den Franzosen vorgeworfen wurde und der die unangenehme Eigenschaft hatte, wahr zu sein.

Eine unrühmliche Rolle in diesem Drama wurde von Hugo Stinnes und den anderen Großindustriellen eingenommen. Sie bildeten eine Art Schattenregierung, die vernünftige Kompromisse praktisch unmöglich machte und Maximalforderungen vertrat. Der gewaltige Einfluss der Großindustriellen auf die Politik, der auch Stresemanns Regierung dominieren sollte, wirkte sich sehr nachteilig für die deutsche Diplomatie aus. Das Land hatte damals allerdings das Glück, mit Friedrich Ebert einen demokratischen Reichspräsidenten zur Verfügung zu haben, der einerseits weitgehend unparteiisch und andererseits unzweifelhaft patriotisch und demokratisch gesinnt an einer Lösung der Krise interessiert war, ohne sich zu sehr um das Schicksal seiner eigenen Partei zu kümmern. Ein ähnliches Glück würde Deutschland in seiner nächsten großen Bewährungsprobe ab 1929 fehlen.

An dieser Stelle erhielt die deutsche Politik eine Art Atempause: Die unnachgiebige Politik der Franzosen und die wirtschaftlichen Folgeeffekte des Ruhrkampfes hatten die Briten, wie von der Regierung Cuno ursprünglich beabsichtigt, verärgert und dazu gebracht, unter dem Spitzendiplomaten Curzon eine diplomatische Initiative zu starten. Die schlechte deutsche Diplomatie sorgte allerdings dafür, dass diese Chance verschwendet wurde: Erneut sandte man nur eine völlig unzureichende Antwortnote.

Das zeigt sich in jenen Tagen, dass die starke Rücksichtnahme auf die radikale und extreme Rechte die deutsche Politik stark belastete. Auch diese Leitlinie der deutschen Innenpolitik, die sich auf die Außenpolitik durchschlug, würde sich in der Regierung Stresemann und im weiteren Verlauf der Weimarer Republik noch öfter zeigen. Sie kontrastiert auch äußerst unvorteilhaft mit der wesentlich schärferen Betrachtung und Ausgrenzung der radikalen Linken. Spätestens ab März jedenfalls war die Regierung Cuno eine Regierung auf Abruf, ohne dass es offensichtliche Erben gegeben hätte, da die verfahrene Situation eine Regierungsübernahme sehr unattraktiv machte. Obwohl offensichtlich war, dass der Ruhrkampf gescheitert war, traute sich niemand, ihn aus Furcht vor einer neuen Dolchstoßlegende abzublasen.

Die politischen Hoffnungen richteten sich auf die Bildung einer großen Koalition, die die DVP, das Zentrum, die DDP und die SPD umfassen sollte. Die Idee dahinter war nicht eine neu entdeckte Liebe für die Sozialdemokratie, sondern die Vorstellung, dass eine breite Basis in der Masse der Bevölkerung gebraucht wurde. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass die Liberalen zu diesem Zeitpunkt noch bereit waren, die Legitimität der Arbeiterbewegung als Teil Deutschlands anzuerkennen – etwas, das gegen Ende der 1920er Jahre nicht mehr der Fall sein würde. Cuno hatte ohnehin längst sämtliche Lust an dem Amt verloren, und es gab eigentlich nur einen Kandidaten: Gustav Stresemann. In den Worten Hugo Stinnes‘: „Stresemann lag in der Luft.“

Bevor er sich der Regierung Stresemann zuwendet, beginnt Ulrich Kapitel 2 mit der Hyperinflation. Sie ist der Elefant im Raum, der bisher nur am Rande des Geschehens erwähnt worden ist und prägt die Erinnerung an 1923 wie kaum ein anderes Ereignis. Ohne die Vorgeschichte des Jahres zu verstehen, ist es praktisch unmöglich, die Hyperinflation richtig einzuordnen. Sie beginnt bereits während des Ersten Weltkrieges, weil der deutsche Staatshaushalt nicht in der Lage war, die laufenden Kosten auch nur annähernd aus den Steuern und Kriegsanleihen zu decken. Diese Kriegsanleihen werden im Lauf der Inflation komplett entwertet und waren eine Anlage vor allem für die Mittelschicht, die durch diese kalte Beseitigung der Staatsschulden bei der eigenen Bevölkerung die größten Schäden bei ihrem Vermögen erlitt. Selbstverständlich führte sie dies weniger auf den verlorenen Krieg als vielmehr auf die Republik selbst zurück.

Ende des Krieges jedenfalls betrugen allein die Zinskosten 90% aller offiziellen Staatsausgaben; der Krieg war komplett auf Pump finanziert. Ullrich spricht in diesem Zusammenhang von einem Hasardspiel. Die Reichsmark war im Jahr 1918 nur noch 50% von dem Wert, was sie zu Beginn des Krieges gewesen war. Damit war das Ende der Fahnenstange allerdings noch bei weitem nicht erreicht. Die weitere Entwicklung der Inflation verlief in Schüben. Bis Ende 1919 beschleunigte sie sich drastisch. Darauf folgte eine Phase relativer Ruhe und Stabilität in der ersten Hälfte 1920, ehe die Londoner Konferenz mit der offiziellen Festlegung der Reparationssumme einen weiteren starken Werteverfall der Währung und durch ausländische Spekulationen gegen die deutsche Zahlungsfähigkeit auslöste. Ein weiterer großer Inflationsschub entstand durch die durch Rechtsradikale durchgeführte Ermordung Walther Rathenaus 1922. Das legendäre vollständige Abdrehen in die Hyperinflation geschah dann erst 1923 als Folge des Ruhrkampfes.

Bereits vorher allerdings hatte die Inflation dramatische Züge angenommen. Jetzt herrschte jedoch lange Jahre ein Inflationskonsens, der sowohl von der Wirtschaft, den Beschäftigten als auch von der Politik getragen wurde. Dieser Inflationskonsens beruhte vor allem auf drei Säulen: Die relative Ruhe nach dem Ersten Weltkrieg, die angesichts der großen Demobilisierung und den damit einhergehenden Verwerfungen in der Volkswirtschaft keine Selbstverständlichkeit war, sollte erhalten werden; die deutsche Wirtschaft, die all die Kriegsheimkehrer zu versorgen hatte und zudem unter der drohenden Belastung von Reparationen stand, sollte gestärkt werden (ein Ziel, das bis 1922 auch gut erreicht wurde, mit hohen Wachstumsraten und gutem Exportanteil, der Reparationen teilweise möglich machte); und zuletzt sollte die tatsächliche Wirtschaftskraft Deutschlands gegenüber den Alliierten verschleiert und durch die sogenannte Erfüllungspolitik Zahlungsunfähigkeit demonstriert werden, um auf diese Art und Weise aus dem Versailler Vertrag herauszukommen. Bis 1922 wurden diese Ziele auch erreicht, wenngleich das Ausmaß der Verschleierung zwar unbekannt, aber das grundlegende Ziel zumindest von den Alliierten vermutet wurde. Den Beziehungen zwischen Deutschland und der Entente war dies nicht zuträglich.

Die Kosten dieser Politik trafen die Menschen in Deutschland höchst ungleich. Die größten Verlierer waren die Rentiers, also Menschen, die von Kapitaleinkünften leben mussten, die Beamten, deren Bezüge einseitig vom Staat gekürzt werden konnten, und das bereits erwähnte gehobene Bürgertum, dessen Investitionen und Anlagen verloren gingen. Die Gewinner fanden sich vor allem unter den Niedriglöhnern, deren Einkommen im Vergleich zu allen anderen Bevölkerungsschichten nach oben genivelliert wurden, so dass es zu einer Verringerung der großen Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft kam. Alle anderen abhängig Beschäftigten waren Verlierer der Inflation. Für Landwirte war die Situation zwiespältig. Auf der einen Seite half ihnen die Produktion lebenswichtiger Nahrungsmittel, die von den Städtern mit wertvollen Sachwerten bezahlt wurden, auf der anderen Seite litten auch sie massiv unter den Preissprüngen für Saatgut und Maschinen. Die letzte Kategorie der Gewinner waren die Großindustriellen, allen voran Hugo Stinnes. Es gelang ihnen, gigantische Konzentrationsprozesse in der Wirtschaft anzustoßen, die ihnen im Gegenzug noch mehr politische Macht sicherten.

Insgesamt sorgte die Inflation spätestens ab 1922 für große Not in der Bevölkerung und brachte neue soziale Phänomene hervor. Eines der Kuriosesten waren sicherlich die Inflationsheiligen, Wanderprediger mit langen Haaren und Bärten in Sandalen und Kutten, die überall auftraten und verschiedene Verschwörungstheorien verbreiteten. Der Vergleich zu den Corona-Querdenkern ist sicherlich nicht unangebracht. Ulrich beschreibt jedoch auch eine wohlige Lust der Bevölkerung am Zahlenrausch, einen Verlust jeglicher Maßstäbe bei den Preisen, der eine fast fiebrige Stimmung in der Bevölkerung erzeugte und trotz aller Not eine merkwürdige, oft ironische Distanz zum Geschehen bewirkte.

Es war der Ruhrkampf, der den Point of No Return darstellte. Die vollständige Finanzierung des Generalstreiks durch die Notenpresse auf der einen Seite und der vollständige Verlust sämtlicher Einnahmen des wichtigsten Wirtschaftsgebiets auf der anderen Seite führten zu einer völligen Implosion der deutschen Zahlungsbilanz. Spätestens im Sommer 1923 hatte die Mark als Währung praktisch aufgehört zu existieren.

Gleichzeitig fand ein enormer Bedeutungsgewinn für Devisen aller Art statt, selbst für Kleingeld eigentlich nicht besonders solider Länder wie Italien. Ausländer in Deutschland lebten wie die Made im Speck, was den Deutschen natürlich nicht gefiel. Auch diese Erfahrung der zusätzlichen Unterwerfung unter das Ausland gehört zum Erfahrungsschatz des Jahres 1923.

In Kapitel 3 kehrt Ulrich zur Großen Koalition unter Stresemann zurück. Stresemann startete mit großen Hoffnungen ins Amt, traute sich jedoch nicht, den längst gescheiterten Ruhrkampf abzublasen. Der Grund hierfür war weniger Einsicht seitens Stresemanns, sondern die Rücksichtnahme auf die radikale und extreme Rechte in Deutschland, die auch in der Regierung, vertreten durch den rechten Flügel der DVP, präsent war. Obwohl die Regierung über eine breite parlamentarische Basis zu verfügen schien, war diese in Wahrheit kleiner als es die Zahlen vermuten ließen. Bereits bei der Wahl Stresemanns blieben Abgeordnete des rechten Flügels der DVP sowie Abgeordnete des linken Flügels der SPD der Abstimmung fern, was als Signal für künftige Probleme gesehen werden konnte.

Angesichts dieser unsicheren Mehrheit entschloss sich Stresemann dazu, Politik am Parlament vorbei zu betreiben. Hierfür nutzte er die Sommerpause, um bis zum Beginn des Herbstes keine Abstimmungen durchführen zu müssen und stattdessen mittels eines Ermächtigungsgesetzes politische Maßnahmen durch Kabinettsorder umzusetzen. Dabei erhielt er die Unterstützung von Reichspräsident Ebert und der Mehrheit des Parlaments, die mit einer Zweidrittelmehrheit ihre Zustimmung gab.

Dieser Zustimmung gingen jedoch harte Verhandlungen voraus. Vor allem die Einschränkungen des Ermächtigungsgesetzes waren Gegenstand der Diskussion. Die bürgerlichen Parteien strebten vor allem danach, durch das Ermächtigungsgesetz die sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik zurückzudrehen, insbesondere den Achtstundentag. Die SPD konnte dieses Anliegen weitgehend abwehren, obwohl am Rande des Themas Zugeständnisse seitens der DVP erzielt wurden. Das Thema des Achtstundentages begleitete die gesamte Regierung Stresemann. Das Ermächtigungsgesetz galt solange, bis eine neue Regierung an die Macht kam oder der Oktober erreicht war. Dieses Muster sollte auch bei zukünftigen Ermächtigungsgesetzen, einschließlich demjenigen, das Hitler zur Diktatur verhelfen sollte, Anwendung finden. In diesem Fall jedoch waren die Einschränkungen wirkungslos.

Stresemann zeigte sich als besonnener und offener Regierungschef, wie man an der Auswahl seiner Minister erkennen konnte. Besonders auffällig war die Berufung von Rudolf Hilferding zum Finanzminister. Hilferding, ein ehemaliger USPD-Abgeordneter, war ein Theoretiker der Finanzwirtschaft und ein ungewöhnlicher Verbündeter eines nationalliberalen Unternehmensvertreters. Dennoch versprach er durch unkonventionelle Ansätze zumindest die Möglichkeit einer Lösung der Krise. Es spricht sehr für Stresemann, dass er die Notwendigkeit solch neuer Ansätze erkannte und einen ideologischen Gegner mit ihrer Umsetzung beauftragte.

Dennoch war diese Zusammenarbeit in seiner eigenen Partei äußerst umstritten. Der rechte Flügel der DVP strebte eine Koalition mit der DNVP an und damit die Abschaffung der Republik. Zudem ging es um die Verdrängung der SPD aus dem Kabinett, die von den Rechtsradikalen immer noch als „undeutsch“ angesehen wurde. Dieser Konflikt sollte schließlich zum Bruch der Großen Koalition führen. Da diese als letzte Hoffnung für eine parlamentarische demokratische Lösung galt, schien dies wie bereits 1930 das Ende der Republik zu bedeuten. Allerdings gelang es Stresemann wie ein Phönix aus der Asche, die Große Koalition in eine zweite Runde zu führen. Dieses Mal spielte die SPD eine geschwächte Rolle und Hilferding hatte keinen Ministerposten mehr. Die Schuld hierfür lag natürlich bei den Rechten, die den Bruch massiv vorantrieben, aber auch bei der SPD selbst, die sich strategisch und taktisch unklug verhielt.

Recht eigentümlich ist hier die Rolle Friedrich Eberts, der zwar einerseits als Verteidiger der Demokratie auftritt, aber andererseits ist selbst Ideen wie die Einrichtung eines Direktoriums unter den bürgerlichen Parteien gutheißt, die zu dieser Zeit ernsthaft erwogen wird. diese Bereitschaft, die parlamentarische Demokratie in Krisenzeiten abzuschalten und auf Exekutive Funktionen zurückzugreifen, wirft einen düsteren Schatten auf die Ereignisse am Ende der Weimarer Republik.

Besonders problematisch in der Großen Koalition ist die Rolle des Wehrministers Geßler, der zwar von der DP ist, aber ganz besonders empfänglich für die Idee von autoritären, auf die Reichswehr gestützte Regierung zur Ausschaltung der demokratischen wie undemokratischen Linken ist. Er wird uns im späteren Verlauf noch öfter begegnen.

Der Versuch, Der Hyperinflation Herr zu werden, brachte auch Ideen wie eine Parallelwährung auf Roggenbasis, wie sie natürlich vor allem von den großen Landbesitzern vorgebracht wurde, auf. auch andere Ideen wurden vertreten. Auffällig an all diesen Ideen war für mich, das in allen die Vermögen der Wohlhabenden wenigstens als Pfand für diese neue Währung vorgesehen waren, wenn nicht sogar größere Umverteilungen von diesen Wohlhabenden in Richtung des Staates geplant waren. diese gerade von den bürgerlichen Parteien vertretene Position steht in einem auffälligem Gegensatz zu ihrer heutigen Perspektive und Kontextualisiert die Forderungen nach der Einschränkung der sozialpolitischen Leistungen der Weimarer Republik ein wenig, die als faire andere Hälfte eines solchen Verzichts betrachtet wurden. Es gab hier zwar keine Äquivalenz, weswegen der Abwehrkampf der SPD durchaus seine Berechtigung hat, aber die grundsätzliche Bereitschaft, allen beteiligten Opfern abzuverlangen, und die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Opfer, sind durchaus bemerkenswert.

In Kapitel 4 wendet Ulrich den Blick nach Bayern. Seit der Niederschlagung der Räterepublik im Frühjahr 1919 war das Land ein Hort des Rechtsextremismus. Als die Franzosen das Rheinland besetzten, eskalierte der latente Konflikt zwischen den Autoritäten in Bayern und der Reichsregierung vollständig. Die bayerischen Behörden verweigerten offen die Befehle aus Berlin, und die bayerischen Reichswehreinheiten unterstellten sich der bayerischen Landesregierung und verweigerten die Annahme von Befehlen der Reichsleitung und der Reichswehr. Jeder Anschein einer demokratischen Regierung in Bayern wurde fallengelassen, als ein Triumvirat gebildet wurde. Für die Rechtsextremisten war Bayern die Keimzelle einer neuen Regierungsform, ein Vorbild für den Rest Deutschlands, das sie ebenfalls autoritär umgestalten wollten.

Die SPD forderte eine Intervention in Bayern, da dort offen gegen die Reichsregierung rebelliert wurde und die dortigen Akteure objektiv Hochverrat begingen. Sowohl der Befehlshaber der Reichswehr, von Seeckt, als auch Stresemann lehnten eine solche Intervention jedoch ab. Stresemann aus Furcht vor den rechtsextremistischen Kräften in Deutschland und Seeckt, weil er nicht zu Unrecht davon ausging, für eine solche Operation nicht die Loyalität der Reichswehr zu besitzen. Für demokratisch gesinnte Kräfte wiederholte sich hier das Drama des Kapp-Putsches von 1920.

Diese Ereignisse standen, wie in Kapitel 5 dargelegt wird, in schroffem Gegensatz zu den Geschehnissen in Sachsen und in abgeschwächtem Ausmaß zu Thüringen. Beide Krisen standen in einem Wechselverhältnis zueinander und reagierten gleichsam aufeinander. Die unverhohlene Drohung aus Bayern, als Keimzelle eines neuen rechtsgerichteten autoritären Regimes zu dienen und von dort nach dem Vorbild Mussolinis 1922 einen Marsch auf Berlin anzuführen, beunruhigte sämtliche linksgerichteten Kräfte, ob demokratisch oder kommunistisch. Je mehr also in Bayern eine Ablösung von der Republik und ein offener Putsch gegen die demokratische Regierungsform stattfanden, desto mehr sahen die Linken in Mitteldeutschland eine Notwendigkeit für Gegenmaßnahmen – notfalls auch gegen Berlin.

Für mich ist auffällig, dass nur wenige der Beteiligten aus den Ereignissen von 1918 bis 1920 gelernt hatten. Weder hatten die bürgerlichen Kräfte erkannt, dass die rechtsextremistischen Revolutionäre nicht ihre besten Interessen im Kopf hatten und dass die Wiederherstellung einer Monarchie eine illusorische Vorstellung war, die von diesen nicht geteilt wurde (auch wenn Hitler, opportunistisch wie stets, gegenüber diesen Kräften gerne den Eindruck erweckte). Noch hatten die Linken begriffen, dass sie weder über den nötigen Massenrückhalt in der Gesellschaft verfügten, noch über die Mittel, um eine bewaffnete Auseinandersetzung mit den Rechten zu führen, die im Zweifel stets die Unterstützung der bewaffneten Organe genießen würden. So trieben die Rechtsbürgerlichen phlegmatisch und die Linksradikalen illusorisch in eine halbe Katastrophe hinein.

Sachsen wurde 1923 von der SPD regiert. Nach dem Bruch ihrer letzten Koalition mit dem Zentrum und der DdP, einer Art letztem Hurra der Weimarer Koalition, war sie eine Minderheitenregierung, die sich zunächst auf ihre alten Bündnispartner, aber zunehmend auf die KPD stützte. Dies wurde möglich, weil die KPD über internationale Anweisungen aus Moskau verfügte. Die neue Losung lautete, dass eine Zusammenarbeit mit der SPD in einer Koalition der beste Weg sei, um einen proletarischen Aufstand mit Mitteldeutschland als Keimzelle zu beginnen. Das Ziel war ein bewaffneter Aufstand zur Auslösung einer Revolution. Diese Strategie basierte auf einer krassen Fehleinschätzung der Zustände in Deutschland seitens der KPD-Führung, die von den deutschen Kommunisten willfährig unterstützt und mit übertrieben rosigen Berichten aus Deutschland gestärkt wurde. Im Spätsommer 1923 trat daher eine SPD-KPD-Koalition in Sachsen auf den Plan.

Ihr großes Projekt waren die sogenannten proletarischen Hundertschaften. Diese freiwilligen Verbände sollten einen Gegenentwurf zu den bayerischen Freikorps darstellen und als bewaffnete Verbände einen rechtsgerichteten Putsch aufhalten. Die KPD sah sie gleichzeitig als Keimzelle einer neuen, revolutionären Armee. Die Entwicklung sollte im ebenfalls links regierten Thüringen eine Entsprechung finden. Auch diese Hoffnung erwies sich als illusorisch. In jedem Fall waren die proletarischen Hundertschaften weder die Keimzelle für eine zukünftige Armee – sie besaßen niemals die Massenverankerung in der Gesellschaft, die hierfür nötig gewesen wäre – noch besaßen sie auch nur annähernd die notwendige Ausstattung, um es auch nur mit den Freikorps, geschweige denn der Armee aufzunehmen.

An dieser Stelle wurde der unglaubliche Doppelstandard der Weimarer Republik gegenüber dem Linksradikalismus frappant deutlich: Bereits im Vorfeld der Koalitionsgespräche zwischen SPD und KPD mangelte es nicht an expliziten Warnungen aus der Reichsregierung, dass man nicht bereit sei, eine Regierungsbeteiligung der KPD zu tolerieren. Dabei handelte es sich um einen glatten Verfassungsbruch, da die Reichsregierung keinerlei Einfluss auf die Regierungsbildung der Länder nehmen durfte. Dies störte jedoch praktisch niemanden, auch nicht die SPD in Preußen oder Reichspräsident Ebert. Nachdem die Koalition gebildet worden war, forderte das Reich den Rücktritt des SPD-Ministerpräsidenten und die Auflösung der Koalition mit der KPD.

Als dies nicht geschah, verhängte die Regierung den Ausnahmezustand über Sachsen, setzte den Reichswehrminister Dreßler als Sonderbevollmächtigten ein und setzte die Regierung ihrerseits ab. Zu diesem Zeitpunkt war die sächsische SPD grundsätzlich bereit, die Koalition mit der KPD aufzukündigen, aber nicht zur Opferung ihres Vorsitzenden und zur Erfüllung sämtlicher Forderungen. Sie befürchtete einen Präzedenzfall, der es rechtsgerichteten Kräften im Reich später ermöglichen würde, auch gemäßigte SPD-regierte Länder wie Preußen mittels eines solchen Putsches unter autoritäre Kontrolle zu stellen. Im Hinblick auf die Ereignisse von 1932 (Preußenschlag) sollten sich diese Warnungen als prophetisch herausstellen. Ebert jedenfalls ließ sich von der frappanten Illegalität dieser Ereignisse nicht abhalten und gab dem Ganzen seinen reichspräsidialen Segen.

Zum Glück für sämtliche Beteiligten hieß der Reichskanzler in diesem Fall nicht von Papen, sondern Stresemann. Während Dreßler darauf und daran war, die komplette sächsische Landesregierung auseinanderzunehmen und das Land unter die Herrschaft der Reichswehr zu stellen, um eine vollständige Neuordnung unter Ausschluss auch linksdemokratischer Elemente durchzusetzen, zog Stresemann eine rote Linie. Trotz seiner grundsätzlich eher rechtsgerichteten Instinkte, wie sie sich in seinem Zögern gegenüber Bayern oder beim Abblasen des Ruhrkampfes zeigten, werden hier die grundsätzlichen Qualitäten der Person Stresemann einmal mehr deutlich, die den unschätzbaren Verlust seiner Person durch seinen frühzeitigen Tod 1929 deutlich machen und bis heute kontrafaktische Szenarien befeuern, was die weiteren Ereignisse am Ende der Republik angeht.

Während die SPD sich in das Unvermeidliche fügte, plante die KPD entsprechend ihren Befehlen aus Moskau den bewaffneten Aufstand mit Sachsen als Keimzelle. In einem seltenen Anfall von Rationalität mussten die Beteiligten jedoch erkennen, dass ihnen jeglicher Rückhalt in der Bevölkerung fehlte und das Projekt zum Scheitern verurteilt war. Entsprechend brachen die oberen Ränge der KPD den Aufstand kurz vor Zwölf ab. Einzig die KPD in Hamburg widersetzte sich diesen Anweisungen und begann den Aufstand aus eigener Initiative, der für einige Tage die Republik in Atem hielt, aber erwartungsgemäß von der Reichswehr niedergeschlagen wurde. Diese Ereignisse führten zu einer Machtverschiebung im Politbüro der KPdSU, wo es Stalin gelang, Trotzki die Schuld für das Debakel in die Schuhe zu schieben und so an Statur zu gewinnen und seine Machtübernahme im darauffolgenden Jahr vorzubereiten. Das Jahr 1923 in Deutschland hatte somit auch deutliche Konsequenzen für die internationale Politik.

In Sachsen musste Dreßler sich auf Anweisung aus Berlin zurückziehen, und die SPD bildete erneut eine Minderheitsregierung unter einem neuen Ministerpräsidenten. Der „rote Oktober“ zeigt einmal mehr beunruhigende und für die Zukunft wenig vielversprechende Dynamiken der Weimarer Republik, die sich als unfähig erwies, die rechtsextremistische Gefahr genauso effektiv zu bekämpfen wie die linksextremistische. Gleichzeitig zeigte sich, dass es in der SPD starke Elemente gab, die den mangelnden Rückhalt bei demokratischen Wahlen nur allzu gerne durch revolutionäre Bestrebungen ausgleichen wollten und von der Einheit der Arbeiterklasse träumten.

Als hätte die Republik mit der Hyperinflation, der bayerischen Rechtsregierung, dem „roten Oktober“ und dem Ruhrkampf nicht bereits genug Krisen zu bewältigen gehabt, brachten die Ereignisse auch noch separatistische Bestrebungen im Rheinland mit sich, auf die sich Ulrich im 6. Kapitel konzentriert. Das Rheinland, das größtenteils zu Preußen oder im Falle der Pfalz zu Bayern gehörte, fühlte sich beiden „Mutterländern“ nicht besonders zugehörig. Stattdessen waren immer noch die alten republikanischen Ideale des napoleonischen Rheinbundes präsent, weshalb die Ruhrbesetzung für einige radikale Kräfte in der Region eine willkommene Gelegenheit zu sein schien, eine Neuordnung des Reichs vorzunehmen oder sogar eine Abspaltung durchzuführen.

Der prominenteste Vertreter einer Neuordnung war der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, der selbst schon als potenzieller Reichskanzler gehandelt worden war. Seine Vision war die Gründung eines westdeutschen Bundesstaates, der jedoch in die Reichsstruktur integriert sein sollte. Dies hätte eine Schwächung von Preußen und Bayern bedeutet, was ganz in seinem Interesse gelegen hätte, und seiner Heimatregion eine weitreichende Autonomie zugestanden, um ihre kulturellen und gesellschaftlichen Eigenheiten zu verteidigen. Wir werden später noch sehen, was aus diesen Plänen geworden ist.

Der extremistische Flügel dieser Bewegung waren die Separatisten selbst. Sie strebten eine Art Rheinbund 2.0 an, eine Neugründung eines anderen Staates, völlig unabhängig vom Deutschen Reich. Aus Sicht der Separatisten war dies die einzige Möglichkeit, eine Annexion durch Frankreich zu verhindern, während sie gleichzeitig die ungeliebte Oberherrschaft Preußens abschütteln wollten. Diese Separatisten hatten allenfalls geringen Rückhalt in der Bevölkerung, genossen jedoch die Unterstützung der Besatzungsmacht Frankreich, was ihre Bestrebungen unabhängig von ihrer personellen Stärke zu einer wesentlich größeren Gefahr machte, als es eigentlich gerechtfertigt gewesen wäre.

Die Putschversuche der Separatisten, die 1923 stattfanden, erwiesen sich jedoch schnell als Farce. In einer bemerkenswerten Parallele zum Kapp Putsch von 1920 scheiterten sie vor allem daran, dass sich die Beamten und andere Angestellte des öffentlichen Dienstes weigerten, den Anweisungen der Putschisten Folge zu leisten. Hätten die französischen Soldaten nicht die deutsche Polizei entwaffnet und so die Putschisten unterstützt, wäre der Aufstand noch schneller zusammengebrochen. So oder so war der Spuk innerhalb von Tagen vorbei. Dass die Putschisten nicht einmal in der Lage waren, ihre Aufstände zu koordinieren, trug zusätzlich zu ihrem Scheitern bei. In der Pfalz zeigte sich eine ähnliche Dynamik, jedoch spielte hier der lokale SPD-Chef Hofmann eine entscheidende Rolle. Er strebte keine Abspaltung der Pfalz vom Reich an, sondern von Bayern. Die Reichsregierung trat mit eiserner Entschlossenheit dagegen an, während sie andererseits die bayerischen Putschisten komplett unbehelligt ließ. Dabei bestand durchaus die Möglichkeit, gegen die Putschisten in der Pfalz vorzugehen, indem man die Pfalz von Bayern trennte. Am Ende erzwang das Reich, wenn auch anders als in Sachsen und ohne den Einsatz der Reichswehr, den Rücktritt Hofmanns und setzte einen weiteren Präzedenzfall für die Absetzung linksgerichteter Regierungen durch das Reich, während es gleichzeitig rechtsextremen Hochverrat in anderen Ländern tolerierte.

Ein dramatisches Ereignis jener Zeit war der Hitlerputsch. Unter den Rechtsradikalen in Bayern hatte die Stimmung ein fiebriges Allzeithoch erreicht. Hitler, der das Jahr 1923 noch als der „Trommler“ der Bewegung auf der Suche nach dem lange angekündigten „Führer“ begonnen hatte, gelangte im Verlauf des Jahres mehr und mehr zur Überzeugung, selbst dieser Mann zu sein, und instrumentalisierte seine Mitstreiter, allen voran Ludendorff, zu diesem Zweck.

Seine beständige Agitation mit seinem unbestreitbaren und in zahlreichen Quellen belegten Redetalent trieb ihm eine unglaublich große Anhängerschaft zu, setzte ihn aber zunehmend unter Zugzwang. Im November glaubte er nicht länger warten zu können und brach den Beginn des Putsches unvorbereitet überstürzt an. Den Unwillen des bayerischen Triumvirats, sich an einem solchen Putsch zu beteiligen, noch dazu unter Führung eines solchen Emporkömmlings wie Hitler, versuchte er eher durch Zwang zu überwinden, was genau so im Desaster endete wie der eigentliche Putschversuch.

Es war allerdings für Stresemann eine unangenehme Überraschung, dass das Scheitern dieses Putsches nichts an der Umsetzung der Befehle aus Berlin hing, sondern an jenem Unwillen des Triumvirats, daran teilzunehmen. Es waren bayerische Einheiten, die einen bayerischen Putschversuch stoppten, was erneut Schatten auf die Zukunft der Deutschen Republik warf. In der Folgezeit sollte sich Hitler im Hochverratsprozess als der alleinverantwortliche Märtyrer der deutschnationalen Sache hinstellen, eine Position, die ihm gegen Ende der 20er Jahre noch große Dienste leisten würde.

In Kapitel 7 wendet sich Ulrich dem Bruch der großen Koalition zu. Vor deren Ende gelang es der Koalition noch, endlich den Ruhrkampf abzubrechen. Dieses bereits seit Monaten unvermeidliche Ende hatte Stresemann noch einmal um 2 oder 3 Wochen hinausgezögert, in der illusorischen Hoffnung, doch noch Konzessionen von Frankreich erreichen zu können. Die Vorstellung, man könne damit in irgendeiner Art und Weise den rechten Entgegenkommen beziehungsweise die unvermeidliche Kritik abblocken, erwies sich wenig überraschend als unfundiert.

Der rechte Flügel der DVP hielt schließlich seinen Willen: Es gelang ihm, die SPD aus der Koalition zu drängen. Der Anlass war oft die Sozialpolitik. Genauso wie beim Bruch der großen Koalition 1930 stellte die DVP für die SPD unannehmbare Forderungen zum Beschneiden der Arbeitnehmerrechte, und wie 1930 sprang die SPD genau wie gewünscht darauf an, nahm den Fehdehandschuh auf und lud sich den Großteil der Schuld für den Bruch der Koalition auf.

Anders als 1930 gelang es dem rechten Flügel der DVP jedoch nicht, sein eigentliches Hauptziel durchzusetzen: die Errichtung einer autoritären Rechtskoalition unter Einbeziehung der DNVP. Es lag nicht an den Nationalliberalen. Es wurden Koalitionsangebote an die DNVP gerichtet, die jedoch derart überzogene Forderungen stellte, dass mit gutem Recht angenommen werden durfte, dass sie an einer Regierungsbeteiligung nachgerade nicht interessiert war und sich in der Opposition sehr wohl fühlte. Stresemann blieb so keine Wahl, als eine bürgerliche Minderheitenregierung zu bilden. Während seiner Kanzlerschaft verhinderte Stresemann eine Zerschlagung des sozialpolitischen Konsens noch weitgehend; sein Nachfolger Marx allerdings gab solche Zurückhaltung vollständig auf und sorgte so für einen deutlichen Rechtsruck in der Weimarer Republik und einen starken Macht- und Ansehensverlust auf Seiten der Gewerkschaften.

Der Sturz Stresemanns als Kanzler war letztlich auf eine parlamentarische Posse zurückzuführen. Es gelang ihm zwar, mit einer Kampfabstimmung in der Fraktion die eigene Partei zumindest nominell hinter sich zu versammeln, doch die KPD, DNVP und SPD kündigten alle Misstrauensvoten gegen ihn an. Stresemann versuchte, unter tatkräftiger Hilfe Eberts, das Misstrauensvotum der SPD zu verhindern und so seine Kanzlerschaft zu erhalten. Ebert versuchte, seine eigene Partei deutlich zu machen, dass ein erfolgreiches Misstrauensvotum für die SPD keinerlei strategische Vorteile haben würde – eine Ansicht, die durch die weiteren Ereignisse nur zu deutlich bestätigt wurde. Der Einfluss des linken Flügels allerdings war zu stark, und die SPD-Fraktion setzte ihren Plan durch, sodass Stresemann nicht zu halten war. Abgesehen vom erwähnten Rechtsruck änderte sich insgesamt recht wenig: Marx wurde Kanzler, Stresemann Außenminister, und 2 weitere Minister wurden ausgetauscht. Ansonsten blieb alles beim Alten.

In Kapitel 8 geht das Jahr 1923 dann langsam zu Ende. Noch unter Stresemann war die Umstellung auf die neue Währung, die sogenannte Rentenmark, erfolgt. Deren Bindung an das Gold, das ihr entgegengebracht Vertrauen sowie die Deckung durch die deutschen Vermögen und die Kürzungen im Sozialstaat und den Arbeitnehmerrechten erzeugten einen Austeritätszustand, der die Inflation effektiv beendete. Die Staatsfinanzen blieben zerrüttet, sodass einschneidende Reformen weiterhin notwendig waren. Angesichts der gewachsenen Macht des Unternehmerflügels konnte kein Zweifel daran bestehen, wen diese Reformen betreffen würden. Allerdings benötigte die Minderheitsregierung Marx hierfür ein neues Ermächtigungsgesetz. Ebert zwang seine Partei zur Annahme eines solchen, indem er mit liberalem Gebrauch des Artikels 48 drohte, sodass die SPD dieses Ansinnen mittrug. Ein weiteres Mal wurde so eine mangelndeparlamentarische Mehrheit durch exekutive Maßnahmen ausgehebelt. Es folgten erwartungsgemäß massive Einschnitte in die Sozialpolitik.

Zu den größten Inflationsverlierern gehörte die Beamtenschaft. Im Schnitt bekamen die Beamten nur noch 50% der vorkriegszeitlichen Bezüge bei um 150% gestiegenen Preisen (auf Stand Anfang 1924). Ihr ohnehin bestenfalls neutrales Verhältnis zur Weimarer Republik nahm dadurch massiven Schaden. Die Beamtenbezüge sollten sich bis zur Bundesrepublik nicht von diesem Schlag erholen.

Das Ende des Jahres 1923 brachte auch das Ende für die Separatisten des Rheinlands. Durch das Ende des Ruhrkampfs und das Ende der Ruhrbesetzung verloren sie ihre Beschützer in der französischen Armee, wurden schnell verhaftet oder anderweitig ausgeschaltet und als politischer Faktor beseitigt. Adenauer versuchte in Verhandlungen mit Stresemann sein Ziel eines Weststaates im Reichsverbund durchzusetzen, wurde aber von Stresemann kühl abgeblockt. Er erkannte pragmatisch die Zeichen der Zeit und gelobte, das Ziel künftig nicht weiter zu verfolgen.

In Kapitel 9 behandelt Ulrich einen Sektor, der in den Jahren 1919 bis 1923 anders als Gesellschaft, Politik und Wirtschaft tatsächlich einen Aufschwung erlebte: die Kultur. Die chaotische Zeit der frühen 20er Jahre und die allgegenwärtige Not beflügelten die Künstler und Künstlerinnen und sorgten für einen ungewöhnlich hohen Ausstoß an neuen und wagemutigen Produkten und schufen einen Markt, da eine deutlich erhöhte Nachfrage nach Zerstreuung bestand.

Diese Faktoren fielen mit der Ausbreitung eines neuen Mediums zusammen: dem Kino. Obwohl bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts grundsätzlich verbreitet, galt es bisher als ein Medium der Unterschicht. Erst nach dem Ersten Weltkrieg nivellierte sich das, und auch die höheren Schichten gingen ins Kino. Es half, dass ernsthafte Künstler und Künstlerinnen sich nun auch im Kino verwirklichten. Filme wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“ überzeugten selbst Menschen wie Victor Klemperer oder Kurt Tucholsky vom Potential des Lichtfilms. Nicht dass sämtliche Kinofilme oder auch nur ein Großteil dieses kulturellen Niveaus erreicht hätten – damals wie heute waren die meisten Kinoproduktionen billige Schnellschüsse für die breite Masse. Dazu kamen Propagandawerke deutschnationaler Gesinnung wie das vierteilige Epos „Fridericus Rex“, das zu einem veritablen Kulturkampf führte.

Auch im Theater gab es einen Aufschwung an neuen Literaturen. Der Expressionismus fand seinen Weg auf die Bühne, politische Werke aller Farbschattierungen wurden produziert und aufgeführt, und auch reine Unterhaltungsware kam nicht zu kurz. Gemäß dem stets wiederholten Schlagwort „Je schlechter die Zeiten, umso besser die Witze“ nahm auch das Kabarett, am prominentesten in Gestalt Karl Valentins, einen Aufschwung.

Auch das Theater erlebte einen wahren Aufschwung in der frühen Weimarer Republik. Neue Dramatiker wie Bertolt Brecht traten auf den Plan und stellten revolutionäre Konzepte für Theaterstücke vor (episches Theater). Dieser Aufschwung des Theaters stand in direkter Korrelation zur Bedeutung der Theaterkritik. Der unbestrittene König dieser Disziplinen war der Theaterjournalist Kaiser, aber auch in anderen Publikationen bildete die Theaterkritik das Kernstück des Feuilletons und den Höhepunkt des Ansehens. Karrieren wurden im Feuilleton und in der Theaterkritik gemacht und zerstört.

Auch literarisch tat sich in dieser Zeit einiges. Heinrich und Thomas Mann sowie Franz Kafka traten direkt in den frühen Jahren der Weimarer Republik auf und legten den Grundstein für späteren Nachruhm. Die wohl berühmteste Kunstrichtung ist der Dadaismus, der sich in seinem permanenten Provokationsstreben allerdings bald selbst überholte. Das Bauhaus war eine weitere sehr berühmte neue Strömung, aus der dann auch die Neue Sachlichkeit hervorging.

Auffällig ist die Gegenreaktion, die diese modernen Kunstströmungen auf sich zogen. Rechte Mobs versuchten Ausstellungen zu sabotieren, Veröffentlichungen zu verhindern und auf dem Gesetzesweg diese Kunst zu unterdrücken. Sie störten massiv Theateraufführungen und Kinovorführungen. Heute würde man vermutlich von „canceln“ sprechen, wenn es nicht linke Künstler*innen getroffen hätte.

Im 10. Kapitel schließlich beendet Ullrich seine Darstellung mit einem Ausblick auf das Jahr 1924. Die Währung stabilisierte sich überraschend gut und schnell, während gleichzeitig in Großbritannien und Frankreich neue, linkere Regierungen an die Macht kamen, die wesentlich weniger unbeugsam und unflexibel im Umgang mit Deutschland waren. Zudem traten endlich die Amerikaner auf den Plan: Sie erzwangen Verhandlungen über neue Reparationsregelungen, für die Charles Dawes die Verantwortung übernahm. Diese Entwicklungen waren gut für Deutschland. 1924 trafen sich Repräsentanten der Amerikaner, Franzosen und Briten in London und verhandelten direkt über neue Reparationsmöglichkeiten. Später in diesem Prozess sollten auch die Deutschen eingeladen werden. Der Eingang der Ereignisse wurde beinahe durch den rechten Flügel der CVP torpediert, die regierende Koalition brach, um eine Mitregierung der DNVP zu erzwingen. Diese Entwicklung führte zu Neuwahlen, aus denen eine starke Mehrheit für die radikalen Ränder (KPD, DNVP und die völkische Rechte) hervorging, mit starken Verlusten für die SPD und die Liberalen. Bei den zweiten Wahlen 1924 relativierten sich diese Verluste zwar, die DNVP war jedoch damit deutlich gestärkt.

Das Ziel der Einbindung der Rechtsextremen in eine „Bürgerkoalition“ konnte endlich erreicht werden, wenngleich die Rechtsextremisten wenig überraschend unsichere Kantonisten waren und die Regierung bald platzte, um dem altgewohnten bürgerlichen Minderheitskabinett Platz zu machen. Ulrich skizziert an dieser Stelle die politische Entwicklung der Weimarer Republik bis 1933, worauf er meiner Meinung nach besser verzichtet hätte. Aus solchen Ausblicken entsteht allzu schnell der Eindruck einer teleologischen Geschichtssicht, nach der alles unvermeidlich auf ein Ziel hinausläuft. Das Jahr 1923 sollte daher nicht als Ausgangspunkt einer letztlich unvermeidlichen Entwicklung gesehen werden. Das ist natürlich nicht Ullrichs Absicht, es ist eher eine sich durch die Struktur aufdrängende Interpretation.

Zum Schluss noch einige allgemeine Kommentare. Ich würde mir wünschen, dass die Darstellung in der Weimarer Republik, besonders ihre Frühzeit, ein wenig weg von der übermäßigen Nutzung der Aufzeichnungen von Harry Graf Kessler und Victor Klemperer kommen würde. So großartig diese auch sind und so intellektuell stimulierend ihre Einblicke sind, erwecken solche Darstellungen gerne den Eindruck, sie seien repräsentativ für das politische Klima jener Jahre. Gerade Kessler eignet sich hervorragend als Projektionsfläche für moderne Lesende, aber genau darin besteht eine große Gefahr. Dasselbe gilt für Victor Klemperer, der ebenfalls ein ungewöhnlich aufmerksamer und sensibler Beobachter seiner Zeit war. Oftmals wäre es besser, auf ein breiteres Quellenspektrum zurückzugreifen, egal wie geschliffen Kessler und Klemperer formulieren mögen.

Ein rein ästhetischer Fimmel meinerseits ist die Nutzung des Stilmittels der Inversion (z. B. „besonders betroffen von der Inflation war das Ruhrgebiet“). Ich bevorzuge schlichtweg die Positionierung von Verben an den „normalen“ Stellen. Das soll nicht von der Qualität ablenken, die Ullrichs Darstellung offenkundig hat. Es ist lediglich ein kleiner Wermutstropfen. Etwas mehr stört mich dagegen, dass das Gewicht deutlich auf der Darstellung liegt. Zwar analysiert Ulrich auch viel und ordnet ein, aber an einigen Stellen hätte ich mir eine klarere Positionierung des Autors und eine weitergehende Analyse der Ereignisse, Lösungen und eingeschlagenen Pfade gewünscht. Auch Alternativen kommen in meinen Augen ein wenig zu kurz und tragen so zum teleologischen Gesamtbild bei.

Insgesamt allerdings kann ich das Werk trotz dieser kleinen Mängel sehr empfehlen. Es liest sich sehr angenehm (von den Inversionen abgesehen) und hatte für mich diverse neue Dinge zu bieten. Die Darstellung des Jahres 1923 gelingt sehr gut und vermittelt einen ganzheitlichen Eindruck, der den Hitler-Putsch und die Hyperinflation nicht übermäßig betont, sondern durch zahlreiche andere Ereignisse in einen Kontext stellt.

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