Der Wahlkampf 2025 hat mit dem Moment begonnen, als Olaf Scholz vor die Kameras trat, um die Entlassung Christian Lindners zu verkünden. Das Drama um den Zeitpunkt der Vertrauensfrage und den Wahltermin hatte auch den Hintergrund, dass relativ klar war, dass über Weihnachten und Neujahr wenig Weltbewegendes zu erwarten ist und man im Januar in die eigentliche heiße Phase starten wird. Das sind eine Menge Worte um zu sagen, dass dieser Artikel eine eher kurze Halbwertszeit haben dürfte - zu unklar ist, wie sich die Lage im neuen Jahr entwickeln wird. Trotzdem handelt es sich um eine Gelegenheit, die sich abzeichnende Strategie der Parteien unter die Lupe zu nehmen und einige Prognosen zu wagen beziehungsweise festzustellen, wo solche sich schlicht nicht machen lassen.
Die AfD. Die AfD hat sich in den Umfragen bei 18-20% eingegroovt. Das ist viel, aber es ist angesichts des Höhenflugs zu Beginn des Jahres auch gleichzeitig einigermaßen beruhigend: für den Moment scheinen die Rechtsradikalen eine natürliche Grenze erreicht zu haben. Die fehlende Professionalisierung, die eine Regierungsbeteiligung undenkbar macht, könnte ein Teil dieses Problems sein. Vor allem aber ist die Nachrichtenlage der Partei nicht sonderlich gewogen. Ihr Lieblingsthema Migration ist über den Bruch der Ampel, Energiepreise, das FDP-Papier und vieles andere in den Hintergrund getreten, und die Partei braucht die Aufmerksamkeit der Medien.
Das bemerkt man auch an ihrem weitgehend unbeachtet gebliebenen Stunt, Alice Weidel zur Kanzlerkandidatin zu küren. Hat Robert Habeck noch wenig Chancen, so hat sie keine. Aber das ist auch nicht der Grund für das Manöver. Der Grund ist die Delegitimierung der demokratischen Parteien - und der demokratischen Medienöffentlichkeit. Niemand schadet Weidel dabei so sehr wie Robert Habeck. Denn mit welcher Begründung würden die TV-Sender ein Triell veranstalten, das Habeck einschließt? Mit welchem Recht gleichzeitig laden sie nur Merz und Scholz ein, wo die SPD in den Umfragen praktisch gleichauf mit den Grünen rangiert? Es ist offensichtlich, dass niemand Weidel dabeihaben will. Der eigene Objektivitätsanspruch der Medien wird so ad absurdum geführt und schwerer Konfliktstoff in den Wahlkampf der demokratischen Parteien eingeführt, die sich auf einen "fairen Wahlkampf" festgelegt hatten. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass die Frage nach der Gleichbehandlung von CDU, SPD und Grünen noch öfter auf der Tagesordnung stehen und die AfD hier eine Rolle des ständigen Stachels im Fleisch spielen wird.
Machtoptionen hat die AfD keine, und sie will auch keine. Die CDU schließt eine Koalition mit ihr kategorisch aus, muss eine solche Koalition auch ausschließen. Gleichzeitig lebt die Partei davon, ausgeschlossen zu sein, draußen zu stehen, nicht zum System zu gehören und es von außen permanent anzugreifen. Deswegen sind auch ihre programmatischen Positionen in der Debatte so irrelevant: ohne auch nur so zu tun, als hätte man Interesse an der Regierungsbeteiligung ist das alles ohnehin Makulatur.
Stattdessen ist die Partei vor allem dagegen, und überall mit +1. War schon die Position der LINKEn gegenüber Russland stets von einer, sagen wir, wohlwollenden Äquidistanz zu den USA geprägt, erklärt die AfD einfach direkt, dass man die Ukraine opfern und die "Interessen Russlands" mehr berücksichtigen sollte. Wo eine Manuela Schwesig noch Nordstream 2 als rein wirtschaftliches Projekt verbrämte, bekennt sich die AfD unumwunden zu den geopolitischen Implikationen und sieht es als großen Bonus, dass bei der Gasverbrennung CO2 freigesetzt wird; schließlich ist das mit der Klimakrise eh nur so eine grüne Weltverschwörung. Die viel zu hohen Sozialleistungen müssen dringend gekürzt werden, außer natürlich für die verdienten Deutschen, für die sie viel zu niedrig sind. Der Staat hat sich aus Wirtschaft und Familie herauszuhalten, die aber gleichzeitig in einem konzertierten Programm nationaler Rückbesinnung auf Linie gebracht werden müssen. Deutschland muss mehr exportieren und aus der EU austreten. Und so weiter. Nichts davon macht Sinn, alles schließt sich aus, keine Sau interessiert es.
Ebenso wie die SPD wartet die AfD vor allem auf einen Fehler der anderen oder ein externes Ereignis. Sie kann es sich auch leisten, zu warten. Im Idealfall können CDU und SPD keine Regierung bilden, brauchen die Grünen und wird die AfD damit dominierende Oppositionspartei. Das ist ihr natürlicher Modus, so dass sie sich Wahl für Wahl einer Sperrminorität nähert, Jahr für Jahr das demokratische System weiter unterminiert und das Undenkbare immer denkbarer macht.
Die FDP. Zu sagen, dass die FDP ein schlechtes Jahr hatte, ist wohl die Untertreibung des Jahres. Nach desaströsen Wahlergebnissen in den östlichen Bundesländern entschloss sich die FDP-Spitze offensichtlich dazu, die Koalition früher zu beenden. Wann genau dieser Entschluss fiel, ist aktuell noch nicht zu 100% zu klären. Sicherlich im Herbst 2024, wahrscheinlich im Sommer, eventuell sogar bereits im Frühjahr. Dass diese Frage überhaupt so im Detail argumentiert wird, liegt an dem durchgestochenen D-Day-Papier. Dieses ist symptomatisch für den Zustand der Partei. Was auch immer in den dortigen Führungsgremien besprochen wird, landet bei der Presse. Man könnte beinahe annehmen, Lindner wäre Vorsitzender der SPD, was das angeht. Die Parteizentrale der Liberalen ist jedenfalls ein Sieb, was Geheimhaltung angeht.
Das fiel der Partei mächtig auf die Füße - und wird ihr vermutlich weiter auf die Füße fallen, denn die Annahme, dass noch weitere Details bei einschlägigen Redaktionen bekannt sind und auf ihre Veröffentlichung nach der Weihnachtspause harren, ist nicht unbedingt weit hergeholt. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass viele Journalist*innen auch persönlich beleidigt sind, dass man sie direkt angelogen hat, statt dass die üblichen Spiele unter Gentlemen gespielt werden. Eigentlich kann Lindner das ja auch, wie man an dem "ich habe das Papier nicht zur Kenntnis genommen"-Gambit sehen kann.
So oder so aber reißen die Negativschlagzeilen nicht ab und verhagelten der FDP ihr Konzept, das Koalitionsende als Befreiungsschlag zu deklarieren und als Alternative in den Wahlkampf ziehen zu können (was zugegebenermaßen ohnehin keine leichte Botschaft ist). Stattdessen hat sich der Weg unter die 5%-Hürde unverdrossen fortgesetzt; die Partei rangiert je nach Umfrage zwischen 3% und 4% der Stimmen - ein absolutes Desaster.Die Idee, zusammen mit Friedrich Merz einen bürgerlichen Wahlkampf für die ohnehin fantastische Idee einer schwarz-gelben Koalition zu machen, hat sich die FDP durch das D-Day-Debakel selbst zerschossen. Nachdem sich Merz zu Beginn noch öffentlich für einen Finanzminister Lindner zu erwärmen wusste, geht die CDU mittlerweile großflächig auf Abstand zu den Liberalen, aus Furcht, dass die toxische Marke auf sie abfärben könnte.
Da eine Regierungsbeteiligung unter diesen Umständen ausgeschlossen ist, bleibt den Liberalen nur noch der Mut der Verzweiflung. Die Vorstellung, wie 2021 ungebundene Wählende mit einem Programm der Modernisierung locken und gewinnen zu können, ist angesichts der Bilanz und dem Fallout der aktuellen Geschehnisse dahin. Für die Partei geht es um das nackte Überleben. Entsprechend setzt sie auf die einzige Strategie, die ihr in dieser Situation bleibt: die eigene Basis maximal zu mobilisieren und es über die 5%-Hürde zu schaffen, um sich dann als Opposition im Bundestag gegen die unvermeidlichen Abnutzungserscheinungen einer Koalition der CDU mit einer der beiden linkeren Parteien SPD oder Grüne (oder gar beide) zu profilieren.
Dazu greift Lindner tief in die rhetorische Radikalisierungskiste und inszeniert die FDP als eine libertäre Partei. Die Idee scheint zu sein, sich die grundlegende Systemkritik des Trumpismus und ihren Fokus auf Expert*innenkommissionen und Umgehung beziehungsweise Zerstörung staatlicher Kapazitäten zu eigen zu machen, ohne die negativen Seiten des Autoritarismus und Populismus zu übernehmen, die Lindner ohnehin nicht glaubwürdig bedienen kann (und die CDU-Generalsekretär Karsten Linnemann gerade demokratiekonform zu machen versucht, um die rechte Flanke der CDU zu decken). Sein Bekenntnis zur Förderung von Krypto-Währungen, die abseits wilder Spekulation und dem Ausstoß riesiger CO2-Emissionen bisher vor allem durch ihre Nützlichkeit für das Organisierte Verbrechen aufgefallen sind, ist ebenfalls in diese Wendung ins libertäre Spektrum zu sehen. Gleichzeitig benennt er aggressiv den argentinischen Präsidenten Milei als Vorbild; alles, was zu dieser Inszenierung noch fehlt, ist die Bestellung einer Manufactum-Kettensäge.
Ich halte das für eine sinnvolle Strategie. Das potenzielle Publikum für libertäre Politik in Deutschland ist klein, aber es könnte reichen, um in einem aggressiven Lagerwahlkampf die eigene Wählendenschaft gegen den Fallout des D-Day-Papiers zu immunisieren. Wenn man ohnehin gegen das System steht, dann sind den eigenen Leuten Aufdeckungen der "Systempresse" herzlich wurscht. Ich deute die leichte Erholung auf 4% in den jüngsten Umfragen in diese Richtung. Lindner und seinen Leuten bleiben wenig andere Optionen. Niemand anderes wird in dieser Situation die Führung der Partei übernehmen - Agnes Strack-Zimmermann wartet auf die Niederlage -, und Lindner kann wenig anderes tun. Es wird sich weisen, ob es für die FDP reicht oder nicht. Ihre Strategie ist aber alternativlos.
Die LINKE. Der einstige Schrecken der Mitte und Inbegriff des Populismus in Deutschland hat ein ganz anderes Problem: eine zunehmende Irrelevanz. Ebenso wie die FDP kämpft die Partei um das politische Überleben, aber aus anderen Gründen und mit anderer Strategie. Die Gründe sind dieselben wie bereits 2021, als die Partei die 5%-Hürde verfehlte und nur dank dreier Direktmandate in den Bundestag einziehen konnte: ein immer noch unentschiedener Flügelkampf, der Verlust des Status als natürliche Protestpartei, der Verlust des Status als natürliche Ostpartei, ein Abräumen der großen Themen der 2000er Jahre durch die Regierungen Merkel und Scholz. Dazu kommt ein Wagenknecht-förmiges Problem, das der Partei weitere unbedingt notwendige Wählende abzieht.
Aus diesem Dilemma ergibt sich auch die Wahlkampfstrategie, die an Verzweiflung und Alternativlosigkeit sogar noch eine Spur schärfer ist als Lindners: erneut drei Direktmandate zu erringen. Dafür hat man alle Zugpferde aufgeboten. Die alten Schlachtrösser Gysi, Ramelow und Pau werden ein letztes Mal mobilisiert, in der Hoffnung, dass es so reichen möge. Was genau man dann im Bundestag eigentlich zu erreichen hofft, ist weitgehend unklar. Als Oppositionspartei ist die LINKE weitgehend unsichtbar. Vielleicht hülfe ihr eine Merz-Kanzlerschaft, aber gegen "soziale Kälte" zu opponieren ist auch nicht viel frischer als Merz' politische Vorstellungen. Ansonsten ist die LINKE die Partei, die immer noch vorbehaltlos eine Politik der offenen Grenzen und Akzeptanz sämtlicher Migrant*innen fordert, eine legendär mehrheitsfähige Position, und ist sich in ihrer Haltung zu Ukraine und Russland uneins.
Ich bin gar nicht sicher, was ich überhaupt zu der Partei schreiben soll. Sie fühlt sich irrelevant an, gestrig, als wäre sie bereits nicht mehr im Bundestag. Das ist ein tödlicher Eindruck.
Das BSW. Ein möglicher Newcomer ist das Bündnis Sahra Wagenknecht. Allein, nach einem Höhenflug in den Umfragen (und Wahlergebnissen) zu Beginn des Jahres steht die Partei in den Umfragen nun unter der 5%-Hürde. Wagenknecht war schon immer ein Medienphänomen ohne Massenbasis, und die Vorstellung einer eigenen Partei auch deswegen so irreal, weil sie keine Führungskraft ist und keinerlei Händchen für fast alle politischen Alltagsaufgaben hat. Gleichzeitig gibt sie diese aber auch nicht ab - ein wilde Kombination, die in der idiosynkratischen (und möglicherweise verfassungswidrigen) Organisation der Partei ihren Niederschlag findet.
Im Wahlkampf präsentiert das BSW denn einen Mix aus überbietenden Forderungen nach neuen Sozialleistungen auf der einen und scharfer Rhetorik gegen USA, EU und NATO auf der anderen Seite. Aber der Raum der Russlandfreunde ist in Deutschland ziemlich gut gefüllt. Wer es gerne gemäßigt und besonnen mag, weiß sich bei der SPD gut aufgehoben. Wenigstens im Osten können hier auch die CDU-Landesverbände sehr gute Dienste leisten. Wer es gerne radikaler Pro-Putin mag, findet das auch bei der AfD, sogar noch krasser, und wer gerne den Klassiker hat, ist auch bei der LINKEn bedient. Ein Alleinstellungsmerkmal ist das alles, abgesehen von Wagenknechts Persönlichkeit, nicht.
Dazu gehört auch, dass der Neuigkeitswert des "Linkskonservatismus" sich schnell abgenutzt hat. Gegen "woke" zu wettern können CDU, FDP und AfD genauso, auch das ist wahrlich kein Alleinstellungsmerkmal. Und ansonsten ist die Partei eben trotz allem ziemlich im linken Spektrum zu finden. Mein Bauchgefühl ist, dass das BSW, wenn Wagenknecht nicht wieder massenhaft Sendezeit im Fernsehen geschenkt bekommt, beim aktuellen Umfragenwert korrekt angesiedelt ist. Dadurch könnte Wagenknechts bleibendste Errungenschaft sein, die LINKE endgültig als parlamentarische Kraft zerstört zu haben. Weniges könnte passender sein.
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