Montag, 3. September 2018

Die FDP rastet in China aus weil Mädchen auf syrischen Brücken Mathe lernen - Vermischtes 03.09.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Die FDP fischt im Trüben
Auf Platz zwei der Apologeten folgt jedoch, Sie ahnen es, die FDP, in der schon jeder Sechste keinen Grund für eine Verurteilung der Exzesse sieht. Der Fairness halber: Knapp 70 Prozent der liberalen Wähler fanden sich hierzu doch bereit. Aber eben auch: Nur knapp 70 Prozent. [...] So sprach der Chemnitzer MdB Frank Müller-Rosentritt im DLF so evidenzfrei wie bedeutungsschwanger von Polizisten, die Ausländer besser behandeln würden als Deutsche, und kritisierte die Kritik der Presse, die oft nicht „sachlich und objektiv“ berichten würde. Das war plump. Nur wenig subtiler kam dann Wolfgang Kubicki um die Ecke, der „Chemnitz“ ursächlich auf das bekannte Kanzlerinnendiktum „Wir schaffen das“ zurückführte und damit frohgemut jene direkte Linie zog, an der entlang sich die AfD seit 2015 von Erfolg zu Erfolg hangelt. Nebensätze und Einschränkungen kann man getrost beiseite lassen, denn hängen blieb natürlich nur dies: Hätte Merkel nicht, dann würde Chemnitz nicht. Auch jetzt noch bemühte sich in der Parteispitze niemand, den brennenden Feuerwerkskörper möglichst weit wegzuwerfen. [...] Ein großes Loch in den Zaun schneiden, der den zivilisierten Diskurs umschließt, sich dann weit hinauslehnen und schließlich nach dem unausweichlichen Backlash behaupten, eigentlich alles ganz anders gemeint zu haben: Wer in diesem Vorgehen Ähnlichkeiten zu anderen neuerdings im Bundestag vertretenen Parteien zu erkennen glaubt, der darf sie getrost behalten. Er hat recht. [...] Weil all das offenbar aber immer noch nicht reichte, um die erwähnten 30 Prozent zu dogwhistlen, setzte Christian Lindner persönlich noch einen drauf. Die „Migrationspolitik von Angela Merkel“ habe unsere politische Kultur zum Schlechteren verändert, ließ er wissen, um sogleich nachzuschieben, dass diese Erklärung „Chemnitz“ nicht erkläre und natürlich auch nicht entschuldige. Welchen Zweck jenseits des Stimmenfangs in der Orange-und-Grauzone die Bemerkung dann überhaupt noch erfüllte, bleibt sein Geheimnis. Wer weiß, vielleicht war ja alles ganz anders gemeint. [...] So oder so: Die FDP wird gebraucht. Markt- und wertliberale Positionen müssen auch und besonders unter dem starken Druck der radikalen Ränder parlamentarisch mit Nachdruck vertreten werden. Wer hingegen glaubt, Kräften wie der AfD durch inhaltlichen Druckausgleich beizukommen, der sollte gleich die CSU bitten, in der Selbsthilfegruppe einen Stuhl freizuhalten. Eine Kraft wie die FDP sollte ihn nicht brauchen. Es gilt: Lieber die Klappe halten, als Unsinn reden! (Salonkolumnisten)
Genauso wie die CSU sieht die FDP ihre Zukunft darin, mit der AfD um Stimmen zu konkurrieren. Die Zusammensetzung der FDP-Wählerschaft lässt zwar vermuten, dass das nicht ganz so falsch ist wie für manch andere Partei - und 30% Zustimmung zu rechtsextremen Positionen unter FDP-Anhängern sind nicht wenig - aber es bedeutet immer noch, dass eine überwiegende Mehrheit der Wähler diese Position nicht teilen. Aktuell versuchen Lindner, Kubicki und Co, beide Seiten zu bedienen, indem sie den politischen Abfall der AfD in nette Worte und bürgerliche Staffage kleiden und dann, wenn man sie darauf anspricht, zurückrudern. Das hat für die Republicans und die Tories auch eine ganze Weile funktioniert. Aber am Ende verliert eine demokratische Partei, und mit ihr die Demokratie selbst, diesen Tanz auf dem Vulkan immer, und die echten Populisten übernehmen, ohne Dankbarkeit für ihre Steigbügelhalter aus dem bürgerlichen Lager. Der Ansatz der Merkel-CDU, eine klare Abgrenzungsstrategie zu verfolgen, ist daher mittel- und langfristig deutlich sinnvoller, egal wie sehr der konservative Flügel mosert.

2) Die fragliche Normalität des Ausrastens
Die Geschehnisse in Chemnitz stellen uns vor eine unbequeme Frage. Teile der Bevölkerung, darunter viele junge Männer in schwarzen T-Shirts, rasten kalkuliert aus, weil ein Verbrechen geschehen ist. Sie rasten aber nicht des Verbrechens wegen aus. Alexander Gauland (AfD) hat es gerade als normal bezeichnet, wenn die Leute nach Tötungen ausrasten. Abgesehen davon, dass „normal“ und „ausrasten“ zu verschiedenen Wortfeldern gehören, kommt es normalerweise nach Tötungen nicht zu solchen Demonstrationen. Denn sonst müssten sie in Sachsen ja allein im Jahr 2017 schon 26 Mal ausgerastet sein. So viele Tötungsdelikte verzeichnet die Kriminalitätsstatistik dort. Wenn ein Deutscher eine Deutsche totschlägt, kommt es selten zu Demonstrationen. Die meisten halten es nämlich zu Recht für die Tat eines Individuums, nicht eines Merkmalsträgers. Wenn ein Deutscher einen Nichtdeutschen totschlägt, ist es ebenso nicht normal, dass die Leute ausrasten und wurde jedenfalls noch nie von Gauland und seinen Leuten als normal bezeichnet. Jetzt soll das Ausrasten normal oder wenigstens verständlich sein, weil es zwei Asylbewerber waren. Dass das Opfer, hätten die beiden jemand anderen getötet, als „Deutsch-Kubaner“ jetzt womöglich unter den Verfolgten der organisierten Hetzmeute wäre, gehört zur Perfidie ihrer gespielten Empörung. [...] Ein Chemnitzer Buchhändler hat in dieser Zeitung mitgeteilt, die Mehrheit, die auch in Chemnitz nicht rechts ist, fühle sich wegen der geringen Anzahl von Polizeikräften nicht mehr sicher genug, um sich offen gegen Rechtsradikale auszusprechen. Ob Gegendemonstrationen Schutz genössen, sei den Bürgern zweifelhaft. Das führt auf die unbequeme Frage, die selbst dann übrig bliebe, wenn Cheblis Forderung erfüllt würde, und die vielleicht in ihrer Formulierung enthalten war: Wie kann es gelingen, die politische Neutralität der Exekutive und eine homogene Unnachsichtigkeit gegen Straftäter durchzusetzen? Anders formuliert: Wie ist es zu erreichen, dass auf Gesindel, das den Hitlergruß zeigt oder „Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer“ brüllt, nicht irgendwann, sondern sofort zugegriffen wird? Dass der Bremer Abgeordnete, der den Chemnitzer Haftbefehl im Internet geteilt haben soll, Bundespolizist ist, liest sich wie eine böse Fußnote zu diesen Fragen. (FAZ)
Die rhetorische Brandstiftung der AfD wird nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen. Das Overton-Fenster hat sich ungeheur nach rechts verschoben. Man muss sich einmal klar machen, was passieren würde, wenn Linke solche Phrasen von sich gegen würden. Gewalt ist grundsätzlich keine legitime Reaktion auf empfundenes Unrecht, ob man Autos anzündet, Steine schmeißt oder sonst was anstellt. Mit der gleichen Rhetorik haben sie seinerzeit die RAF verteidigt. Was will man machen, wenn das Schweinesystem einem keine andere Wahl als die Gewalt lässt? Bedeutungsschwanger hängen solche Sätze im Raum. Tragisch ist das natürlich, und irgendwie schlecht, und man selbst würde ja nie, aber irgendwie muss man das ja verstehen. Und Schlimmes ist ja auch nicht passiert, war ja nur ein Kaufhaus, und das deckt ja eh die Versicherung. Also verstehen kann ich die jungen Leute ja schon...und plötzlich hast du einen radikalisierten Untergrund und Schießereien auf offener Straße, und keiner will's gewesen sein.

3) Für Mathe brauchen Mädchen Mut
"Wir müssen die Stereotype loswerden", sagt Wade. Sie meint damit beispielsweise das Vorurteil, das Gehirn von Frauen sei einfach nicht für Naturwissenschaften und Mathematik gemacht. Die Idee ist verbreitet, vor allem, weil bislang viele Bemühungen gescheitert sind, Schülerinnen für die sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) zu gewinnen. Das ist in Großbritannien genauso wie in Deutschland. Selbst Wissenschaftler fordern zuweilen, "die Mädchen doch mit Mathe in Ruhe" zu lassen. "Das ist ein Mythos", sagt Wade. Sie sagt: Die Schülerinnen würden durch Vorurteile von Mitschülerinnen, Lehrern und Eltern entmutigt. Sie ist nicht die Einzige, die das so sieht. Die Ingenieursprofessorin Barbara Oakley, Autorin eines Buches über das Lernen, schrieb jüngst in der New York Times, Schülerinnen seien bis zu einem bestimmten Alter in Mathe genauso gut wie Schüler. Erst wenn sie anfingen, an sich selbst zu zweifeln, übten sie weniger. Erst dann würden ihre Leistungen schlechter. [...] Ein Buch hat die Arbeit von Jess Wade stark geprägt: Inferior. How Science Got Women Wrong, 2017 erschienen, von Angela Saini verfasst. Saini demontiert darin die Ergebnisse der Gendergehirnforschung. Das habe ihr erst deutlich gemacht, wie extrem die Forschung daran mitgearbeitet habe, die Vorurteile gegenüber weiblichen Wissenschaftlern zu verfestigen, sagt Wade. Welche Vorurteile? Etwa, dass Frauen empathischer seien und Männer systematischer. Ein Beispiel: In seinem Buch Vom ersten Tag anders aus dem Jahr 2004 veröffentlichte Simon Baron-Cohen eine Studie, die beweisen sollte, dass schon neugeborene Babys sich je nach Geschlecht unterschiedlich verhielten. In der Studie heißt es, dass die weiblichen Säuglinge sich mehr für menschliche Gesichter interessierten, während die männlichen Babys lieber ein Mobile betrachteten. Saini aber traf die Wissenschaftlerin, welche die Studie durchführte, und fand heraus, dass sie bei vielen der Babys vorher wusste, ob sie Jungen oder Mädchen waren. Die Ergebnisse seien also nicht neutral ermittelt worden und zudem habe sich ein Großteil der Kinder weder für Gesichter noch für Mobiles interessiert. (Zeit)
Ich lass das mal für die Fans biologistischer Argumente hier im Blog da. Diese Studien, die das scheinbar belegen, sind wissenschaftlich fast durch die Bank wertlos. Der bestimmtende Faktor ist die soziale Prägung, was den Kindern und Jugendlichen kommuniziert wird. Und das sind nun einmal traditionelle Geschlechter-Vorurteile allerorten. Das fängt schon im Kindergarten an und zieht sich in die Schule, findet sich in Kinderbüchern schon der Kleinsten, die noch ohne Text auskommen und geht bis zu den Shootern, die die #Gamergate-Kids dann spielen, das ist in der Familie und reproduziert sich später in der eigenen Familie. Ohne eine Bewusstwerdung dieser Unterschiede und ein aktives Gegensteuern wird sich daran auch nichts ändern, allein durch die Macht von Phlegmatismus und Gewohnheit. Das ist so gesehen "natürlich".

4) What I learned about militarized policing
In the summer of 2014, unarmed protestors in Ferguson, Missouri were met with a startling and aggressive police response, and a national debate over the proper role of law enforcement in American communities—a dialogue we’ve initiated many times in our history, but never adequately resolved—reignited. For days, cable news networks saturated broadcasts with images of police in armored vehicles designed to withstand improvised explosive devices in Iraq, taking aim at civilians with high-powered rifles, clad in protective gear fit for a theater of war. I wanted to understand why police had this equipment, why they used it, and what costs and benefits so-called “militarized policing” delivered. As a doctoral student in political science, I knew where to start—locating reliable data—but I didn’t know it would take me four years to assemble and analyze. This week, I published my findings: Militarized police units are deployed more often in black neighborhoods, even after controlling for local crime rates. And while militarized policing does not, on average, make either the public or police any safer, it may tarnish the reputation of police. [...] Though limited to a single state, the data revealed some striking patterns. SWAT teams were originally conceived to handle violent emergencies, but roughly 90 percent of SWAT deployments in Maryland over five years occurred to execute a search warrant. After merging the deployment data with U.S. census figures, I found that every 10 percent increase in the share of African Americans in a zip code area was associated with roughly the same percent increase in SWAT deployments. I also conducted survey experiments that showed seeing militarized police in a news report—relative to traditionally equipped police—lowers public support for both the funding of police agencies and the presence of police patrols, and may even inflate perceptions of crime. (The Atlantic)
Abgesehen davon, dass diese Militarisierung nachgewiesenermaßen nichts bringt und sogar schädlich ist, möchte ich kurz auf die politischen Probleme eingehen. Theoretisch gesehen ist eine entsprechende Polizeireform nicht schwer, man muss ja nicht mal ein Gesetz dafür machen, das kann die Exekutive durch entsprechende Handlungsanweisungen und Verordnungen selbst innerhalb ihrer Behörden regeln. Nur: der politische Preis dafür ist gigantisch. Eine solche Reform ist fast zwangsläufig ein progressives Projekt, wird also nur passieren können, wenn Progressive an der Regierung sind, und die haben stets das Problem, beim Thema Innere Sicherheit eine offene Flanke zu haben, die sie durch umso aggressiveres Auftreten (man denke Otto Schily) zu schließen hoffen. Würde eine solche Reform angegangen werden, kostet es die konservative Opposition gar nichts, Zeter und Mordio zu schreien und Horrorszenarien zu entwickeln, und sobald irgendein schlimmer Kriminalfall passiert (und dass das irgendwann passiert ist garantiert) können sie billige Punkte ernten. Es ist ein "Nixon goes to China"-Moment: genauso wie nur ein Sozialdemokrat Hartz-IV machen oder die Banken retten konnte, genauso kann nur ein Konservativer die Polizei reformieren, weil nur die das politische Kapital haben, um es in einer solchen Unternehmung zu verbrennen. Davon ist allerdings gerade nichts zu sehen.

5) No matter who wins the Syrian civil war, Israel loses
Those doubts about Putin’s willingness and ability to constrain Iran are only increasing. A recent article published by the Washington, D.C.–based Middle East Institute analyzed several signs that Russia is quietly reducing its military presence on the ground in Syria, a step that would only decrease Putin’s leverage with Iran and Assad. Meanwhile, Iran and its allies have embedded themselves within Syrian security institutions, making it impossible to distinguish them from the country’s regular army. [...]As these political and military dramas play out, there is little question about a fundamental fact—Iran and its allies are poised to challenge Israel on multiple fronts in the years ahead. In Lebanon and Syria, Hezbollah boasts more fighters and better weapons than at any point in its history. Earlier this year, in the Gaza Strip, Hamas and Israel engaged in a series of tit-for-tat clashes for months before a cease-fire took hold. And in Iran, there is a growing risk that the Islamic Republic could restart its nuclear program following the Trump administration’s decision to reimpose sanctions on the country. “The goal is to encircle Israel with these proxies that could enmesh it in a series of open-ended, low-level conflicts that make life there unbearable,” Michael Eisenstadt a former U.S. army officer who is currently a fellow at the Washington Institute for Near East Policy, told me. “The idea is to set in motion a long-term process of decline.” (The Atlantic)
Ganz spannend zu sehen, wie das russische Engagement in Syrien und die Zurückhaltung der Amerikaner ostentativ erst einmal gar nicht betroffen scheinende Staaten wie Israel betreffen. Außenpolitik ist immer kompliziert, aber die Verflechtungen im Nahen Osten suchen wahrlich ihresgleichen. Dazu sind es auch dauernd Situationen, in denen es keine guten, sondern nur schlechte und sehr schlechte Optionen gibt. Einerseits hofft Israel darauf, mit einer Null-Verhandlungs-Politik gegenüber dem Iran die Atombombe zu verhindern, aber andererseits müsste es eigentlich mit dem Iran verhandeln, will es je Stabilität in zwei seiner Nachbarländer (Libanon und Syrien), die permanent instabil sind. Strategisch hält man zentrale Orte wie die Golan-Höhen, die aber politisch Dauer-Zankäpfel sind und den Frieden, den sie militärisch absichern, politisch unmöglich machen - und so weiter. Die ganze Region ist in einem Netz solcher Probleme gefangen, die keinerlei gute Lösungen kennen. Und so reproduzieren sich verschiedene Versionen eines beschissenen Status Quo, und versucht jeder, so viel wie möglich mit simpler Machtpolitik abzusichern, weil alles andere nicht zu funktionieren scheint. Ein absoluter Teufelskreis.

When the United States ratified the Nineteenth Amendment nearly a century ago, the law’s immediate impact extended far beyond giving women the right to vote. Women’s suffrage—widely viewed as one of the 20th century’s most important events—coincided with a growing (if gradual) embrace of gender equality, increased social spending, and a greater tendency among politicians to take a progressive stance on legislative proposals. Evidence suggests that women’s suffrage also corresponded with a significant increase in municipal spending on charities and hospitals, as well as on social programs; one study found that when women gained the right to vote, child mortality dropped by as much as 15 percent. A new study shows that another one of the ripple effects of women’s suffrage was that, across the board, children were more likely to stay in school. [...] In securing women the right to vote, the Nineteenth Amendment seems to have produced a positive, long-lasting contagion effect throughout society. “One of the ongoing things that we’re learning as economists is that there are spillovers from policies that are not necessarily targeted to education,” Shenhav says. “Policies that reduce political participation have implications for education policy.” The economists could only identify a measurable impact for the generation of students that attended school during or immediately after national suffrage. Yet the researchers say that women’s ability to vote surely led to longer-term benefits, including in labor-market productivity. “What we find is that when women got power, there were changes in spending that closed various gaps—any kind of spending: health care, education,” says Kuka, of Southern Methodist University. “These kinds of changes mattered back then and they probably matter now, too.” (The Atlantic)
Ähnliche Effekte sind mit Sicherheit auch feststellbar, wenn man die Civil-Rights-Politik der 1960er-Jahre für die afroamerikanische Bevölkerung untersucht. Demokratische Partizipation schafft immer ganz neue Anreize und Perspektiven im System. Deswegen ist ja auch die Idee wenigstens eines Kommunalwahlrechts für Ausländer (die innerhalb der EU ja mittlerweile verwirklicht ist) grundsätzlich gar nicht so dumm. Wer stakeholder in einem Gemeinwesen ist, bringt sich in dieses auch ganz anders ein, erlebtes mit anderen Augen, selbst wenn die Person selbst nicht einmal wählt oder an den Gremien partizpiert. Ähnliche Überlegungen leiten ja auch die Schülermitverantwortung (SMV) an staatlichen Schulen oder AStAs an Universitäten. Das ist eine relevante Überlegung, wo es um die Integration der Flüchtlinge geht.

7) Immer wieder Ärger mit dem Spannbeton
Die Elsenbrücke ist eine der wichtigen Verkehrsverbindungen Berlins – und seit Freitag das jüngste Beispiel für ein größeres Problem. Seit jenem Tag ist diese wichtige Verbindung zwischen Friedrichshain und Treptow halbseitig gesperrt, es wurden Risse im Stahl festgestellt. Das ist für die Brücke nichts Neues: Das Bauwerk über die Spree verursachte seit seiner Eröffnung in den 60er Jahren immer wieder Ärger. Die Brücke steht jedoch beispielhaft für eine größere Herausforderung. Und das nicht erst seit dem spektakulären Brückeneinsturz in Genua mit mehr als 40 Toten vor gut zwei Wochen. Jede Zehnte der 1085 Berliner Brücken wird als baufällig eingestuft. Das ergab eine kleine Anfrage der Grünen im vergangenen Jahr. Besonders betroffen ist der Berliner Autobahn-Ring, langfristig plant man dort viele Bauwerke komplett zu ersetzten. Zwischenzeitlich werden nur Sanierungsarbeiten durchgeführt, wie jüngst an der Rudolf-Wissell-Brücke. [...] „Die Planer rechneten damals noch nicht mit dem heutigen Verkehrsaufkommen und der hohen Belastung durch Lkws“, sagt Frank Ehlert, Sprecher vom Tüv Rheinland. Die Brückenprüfer des Tüv müssen in Deutschland öfter schlechte Noten vergeben: „Wir registrieren seit geraumer Zeit eine Häufung der Probleme“, sagt Ehlert. Das läge vor allem am Alter der Bauwerke. „Es muss an vielen Stellen in den Erhalt investiert werden“, sagt der Tüv-Sprecher und warnt davor, die Lage zu unterschätzen. (Tagesspiegel)
Eine Katastrophe wie in Genua ist in Deutschland nur eine Frage der Zeit. Die Brücken wissen es weniger zu schätzen, dass die Schwarze Null in Deutschland regiert. Der andere Faktor ist natürlich die dumme Brückenarchitektur der 1960er und 1970er Jahre. Damals wurde nicht nur hässlich, sondern auch nicht sonderlich nachhaltig gebaut, das kann man leider nicht anders sagen. Die damalige Ästhetik und Ideologie hat dem Land im Bereich der Bausubstanz nicht sonderlich gut getan.

8) Die Debatte um G8 oder G9 führt am Ziel vorbei
Wir haben in einer Projekt­gruppe versucht, mit einem Konzept namens „Abitur im eigenen Takt“ die Veränderung des Denkens in Deutsch­land hin zur konsequenten Output-Orientierung anzustoßen. Schülerinnen und Schüler sollten durch die Anwahl modularisierter Kurse selbst entscheiden, ob sie die Kurs­stufe zum Abitur in zwei oder drei Jahren absolvieren wollen. Dabei könnte es auch ein Teil­abitur geben, das Deutsch-Abitur also zum Beispiel in einem Jahr und das Mathe-Abitur im Jahr darauf absolviert werden. Eine Inte­gration von Praktika oder Auslands­aufent­halten wäre in einer solchen Ober­stufe problem­los möglich, längere Krank­heiten könnten abgefedert werden, und ein außer­schulisches Engagement würde er­leichtert. Zaghafte Vorschläge im inter­nationalen Vergleich – doch in Deutschland scheint eine solche Umsetzung undenkbar: Die Vergleich­bar­keit sei gefährdet, heißt es aus den Kultus­ministerien. Aber: Erstens waren die Abitur­prüfungen der 16 Bundes­länder zu keinem Zeit­punkt wirklich vergleich­bar. Sogar inner­halb eines Bundes­lands wie Baden-Württemberg gibt es Abitur­prüfungen auf unter­schiedlichem Niveau, die jedoch zu einem rechtlich absolut gleich­wertigen Abschluss führen. Das Argument ist also vor­geschoben. Zweitens wird eine Leistung nicht durch den Zeit­punkt der Prüfung bestimmt, sondern dadurch, dass man diese Hürde nimmt. Was viel eher gefährdet ist als die Vergleich­bar­keit des Abiturs, ist die Qualität des deutschen Schul­systems, wenn es so starr und unflexibel bleibt und so daran scheitert, ein System für die Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin zu sein. (Deutsches Schulportal)
Ich bin schon lange ein Fan von mehr Modularisierung an deutschen Schulen. Deswegen habe ich das neue Abitur (seit 2004), das Deutsch und Mathe zu verbindlichen Hauptfächern für alle gemacht hat, auch immer als einen Fehler empfunden. Ich denke, die komplett offenen Ansätze, wie sie im Artikel an den Beispielen Kanadas und Finnlands diskutiert werden, sind in Deutschland angesichts der bemerkenswerten Reformresistenz des deutschen Bildungsbereichs eher unrealistisch. Was aber durchaus möglich ist ist eine sanfte Aufweichung des bisherigen Systems. Wir haben das bereits in Baden-Württemberg. Das alte dreigliedrige Schulsystem gibt es hier schon lange nicht mehr, stattdessen haben wir zahlreiche verschiedene Schularten, vor allem im beruflichen Bereich (ab Klasse 8), die eine stärkere Spezialisierung erlauben. Der Standardweg zum Abitur in BaWü (wie an den meisten Orten in Deutschland) bleibt das allgemeinbildende Gymnasium, aber das ist ein Irrweg. Das allgemeinbildende Gymnasium ist für eine bestimmte Schülergruppe das bestgeeignete, aber dass diese die Mehrheit ist, darf getrost bezweifelt werden (wie früher, als man das humanistische Gymnasium mit Altgriechisch, Latein und Philosphie zum Maß aller Dinge erklärte...). Es ist für Schüler ohne spezifische Stärken und Schwächen das Beste, aber für Schüler, die Stärken in einem Bereich und Schwächen in einem anderen haben ist es Quatsch. Man spricht nicht umsonst von "Stärken stärken". Es ist daher gut vorstellbar, über den Weg der Profile die Gymnasienvielfalt zu erhöhen, ohne gleichzeitig an Niveau zu verlieren oder zu tief in die bestehende institutionelle Struktur einzugreifen. Bei Interesse kann ich dieses Konzept gerne mal in einen größeren Artikel ausrollen.

9) Länder erproben Alternativen zu Zensuren
Problematisch ist die Benotung mit einem Ziffernsystem aus Sicht vieler Kritiker auch, weil es kaum einheitliche Standards für die Benotung gibt. An den meisten Schulen ist es den einzelnen Lehrkräften überlassen, wie viele Punkte pro Aufgabe vergeben werden, wie viele sie pro Fehler von der Maximalpunktzahl abziehen, wie viele mündliche Noten sie sammeln. Weitere Verzerrungen hat Kai Maaz, Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung, gemeinsam mit anderen vor einigen Jahren nachgewiesen. „In die Benotung fließen soziale Effekte mit ein.“ Kinder aus Arbeiterfamilien bekommen – bei gleicher Leistung im standardisierten Test – etwas seltener gute Noten als Kinder aus Akademikerfamilien. Einen Vorteil haben Ziffernnoten: Sie sind für jeden verständlich und leicht vergleichbar. Darauf verweisen die Befürworter – und argumentieren, dass effiziente und aussagekräftige Alternativen trotz jahrelanger Debatten noch immer fehlen. Zudem haben Studien wiederholt gezeigt, dass Schulnoten ziemlich exakte Vorhersagen für den Schulerfolg erlauben. Aus dem Dilemma – einerseits sind Noten oft ungerecht, andererseits wird ihre Aussagekraft von Lehrern und Eltern geschätzt – suchen Pädagogen seit Jahren einen Ausweg. In Modellversuchen erproben Schulen Alternativen zur klassischen Benotung. Da wird etwa der Stoff in Module zusammengefasst: Ein Schüler kann dann zum Beispiel den „Einmaleins-Führerschein“ machen, sobald er sicher multiplizieren kann. [...] Auch Bildungsforscher Maaz plädiert dafür, Schulnoten um andere Formen der Bewertung wie Lernentwicklungsgespräche und die Ergebnisse von standardisierten Tests zu ergänzen. „Wenn es ein valides alternatives Bewertungssystem gäbe, sollten wir auf Ziffernnoten ganz verzichten“, sagt Maaz. (Tagesspiegel)
Wo wir schon bei Bildungsthemen sind, hier noch ein älterer Artikel aus dem Tagesspiegel. Ziffernoten haben alle Arten von Problemen, aber vor allem die dummen ganzen Noten 1-6. Jeder kennt das Thema, dass sowohl deine 2,6 als auch eine 3,4 dieselbe Note ergeben; zieht man den üblichen pädagogischen Freiraum ein, geht der Bereich sogar von 2,5 bis 3,6 oder 3,7 (arithmetisch eigentlich "bessere" Noten werden praktisch nie "schlechter" gemacht, also etwa eine 2,4 in eine 3; der umgekehrte Fall kommt gelegentlich vor). Das Oberstufensystem mit 0 bis 15 Punkten gibt wenigstens dreimal so viele Differenzierungspunkte; das ist schon ein deutlicher Fortschritt. Aber insgesamt sind Noten Objektivitätssimulationen. Ungeheuer viele Leute sitzen etwa dem Fehlschluss auf, Noten seien dann besonders objektiv und gerecht, wenn sie innerhalb einer Klasse oder Stufe der Gauss'schen Normalverteilung entsprechen (was hahnebüchener Unsinn ist). Wie in Bayern (der Artikel geht darauf ein) gibt es häufig Druck, "zu schlechte" oder "zu gute" Schnitte sowohl zu erklären als auch nachträglich zu verändern. Bei "zu schlechten" Schnitten laufen meist Schüler und Eltern, zunehmend aber auch Vorgesetzte und Kollegen Sturm; bei "zu guten" Schnitten sind es meist die Parallelklassen, Kollegen und Schulleitungen. So oder so erspart man sich als Lehrer viel Ärger, wenn man auf die Normalverteilung hin korrigiert, was nicht sonderlich schwer zu bewerkstelligen ist und das ganze Unternehmen häufig ad absurdum führt. Am schlimmsten ist, dass die Überhöhung von Noten dazu führt, dass weder Eltern noch Schüler noch Kollegen noch Schulleitungen irgendetwas ernst nehmen, das am Ende nicht mit einer Note versehen wird. Es ist zum Haare raufen. Und ich hab noch nicht mal zum Thema Hausaufgaben angefangen...

10) The political virtues of hypocricy
But hypocrisy, suggests recently retired Representative Barney Frank, is less evidence of corruption than evidence of its absence. It is what makes Congress function. It is the only tool legislators have after they’ve rooted out real corruption. [...] And Frank goes further: Instead of seeing political flip-flopping as a necessary evil, he suggests it is inherent to democracy. In an interview for the TV show I host on The Jewish Channel, Up Close, he explained that, “Any legislator is in an essentially compromised position, given the nature of democracy, because your decision about how to vote inevitably is a compromise—our system wouldn’t work otherwise—between your own views and your voters’.” [...] Posner and Sunstein recognize this gap, as well. “A key precondition of flip-flopping thus seems to be ambiguity as to whether a constitutional or institutional norm exists,” they write. In other words, the flip-flopping gap voters create—between what they think in a vacuum and what they think when partisanship is mixed in—exists because of a gap in law or custom. Posner and Sunstein think we can close some of that gap with new approaches: introducing a veil of ignorance into certain decision-making by removing partisan markers from policy proposals, for example, or increasing the number of public officials who are career professionals not appointed by politicians. But of course, though the gap can be narrowed, it can never be fully closed. At some point, after all, norms and laws leave people without clear guidance on specific issues, in the same way that elections and political coalitions do. At these times, voters and elected officials are driven by a variety of competing interests, and whatever approach wins out is likely to leave someone pointing a finger with accusations of hypocrisy. And, to a degree, the accusers will almost always be right that hypocrisy wins the day. The best we can do is be frank about it. (The Atlantic)
Genauso wie meine ewige Verteidigung des Fraktionszwangs gilt auch hier, dass außer der Herstellung von Wurst nichts so eklig anzuschauen ist wie die Realität der legislativen Prozesse. Das gilt auch für Heuchelei. Sie ist essenziell, nicht weil Politiker so furchtbar schlechte Menschen sind, sondern weil die Wähler sie wollen. Und ich schreibe hier bewusst wollen. Jeder Wähler wird, direkt gefragt, selbstverständlich sagen, wie furchtbar man es findet, dass Politiker lügen. Und das stimmt in dem Moment sicher auch. Nur dummerweise sind Wähler jedes Mal tödlich beleidigt, wenn man ihnen die Wahrheit sagt, und wählen dann die anderen. Jeder Politiker merkt das irgendwann, und das ist der Moment, in dem sie beginnen, die Wahrheit etwas flexibler zu betrachten. Ich empfehle die Lektüre des ganzen Artikels, weil die Mechanismen deutlicher erklärt, aber das Grundprinzip gilt in jedem politischen System. Wähler neigen dazu, ihre Ansichten zusammen mit der Partei, mit der sie sich identifizieren (Partei hier im losen Sinne, es muss keine politische Partei sein), zu ändern. Das passiert mal mehr (Republicans), mal weniger (Democrats) stark, aber es passiert jedes Mal. Mehrheitswahlsysteme haben das Phänomen stärker als Verhältniswahlsysteme, aber auch hier gilt: es gehört dazu. Sich darüber aufzuregen ist wie Unternehmer dafür anzuklagen dass sie Geld machen. Es ist nicht Aufgabe der Unternehmer, ihren Profit zu vermindern um irgendwelche moralischen Maßstäbe zu erfüllen; es ist Aufgabe der Gesellschaft, ihnen entsprechende Regeln aufzuerlegen. Genauso ist es Aufgabe der Wähler und der Medien, die Politiker ehrlich zu halten. Wenn diese Kontrollinstanzen versagen oder gar bewusst diese Aufgabe nicht wahrnehmen braucht man sich über das Ergebnis nicht zu wundern.

11) Abschied von der heilen Welt
Die Gewaltverbrechen kommen wie gerufen für die Schwedendemokraten mit ihrem Anführer Jimmie Akesson. Haben doch die meisten Täter einen Migrationshintergrund: ein willkommener Anlass für Akesson, auf Flüchtlinge zu schimpfen - oder gar den Einsatz der Armee in den Städten gegen Banden zu fordern. Die Kandidaten der Mitte lassen sich mitreißen: Premier Löfven hat einen Militäreinsatz nicht ausgeschlossen. Oppositionschef Kristersson kündigte für "lange Zeit eine verschärfte Flüchtlingspolitik" an. Dabei sind die Flüchtlinge nicht schuld an der Eskalation der Gewalt. Die Täter sind vor allem junge Männer mit schwedischem Pass, deren Vorfahren einst nach Schweden kamen - und deren Integration misslungen ist. "Flüchtlinge sind nicht unser Problem. Es sind immer dieselben, altbekannten Personen, die so extrem gewalttätig sind", sagt Malmös Vize-Polizeichef Erik Jansaker. Gut 200 Männer, meistens zwischen 19 und 24 Jahre alt, Söhne oder Enkel von Einwanderern aus dem Nahen Osten, Iran oder Bosnien. "Diese Menschen haben keine gute Ausbildung, keine Jobs, keine Perspektive", sagt Jansaker. "Wir haben es nicht geschafft, sie in unsere Gesellschaft zu integrieren." [...] Wer den sozialen Aufstieg schaffte, zog bald weg. Im Gegenzug wurden immer mehr Migranten hier einquartiert. Oder sie zogen hierher, weil die Mieten so niedrig und ihre Landsleute hier waren. So entstanden Parallelgesellschaften. Heute verlassen in einigen Problemvierteln zwischen 50 und 70 Prozent der Jugendlichen mit 15 die neunjährige Grundschule nach der Mindestschule ohne gültiges Abgangszeugnis, das sind drei- bis viermal so viele wie im Durchschnitt. Entsprechend groß ist die Arbeitslosigkeit. Mit dem Staat Schweden identifiziert sich hier kaum jemand. [...] Sollten die Rechtspopulisten die Wahl gewinnen oder gar an einer Regierung beteiligt werden, würde alles nur noch schlimmer, meint Kurtovic. "Die Schwedendemokraten würden noch weniger für die Menschen hier tun und Migranten immer weiter an den Rand drängen." Polizist Jansaker sieht das ähnlich. "Wenn das Militär hierherkäme, wäre das nicht nur ein Zeichen, dass die Polizei aufgibt. Es würde die Menschen in diesen Vierteln stigmatisieren." Auf Nachfrage gibt Jansaker zu: Seine Polizisten gehen zurzeit nur selten auf Streife im Rosengård. Denn viele Beamte wurden abgezogen, um die Morde zu untersuchen. Die Personaldecke ist dünn. Die Polizei aufzustocken, versprechen deshalb im Wahlkampf Politiker aller Couleur. Problemviertel wie Rosengård bräuchten bessere Schulen, bessere Wohnungen, bessere Krankenhäuser - und vor allem: bessere Perspektiven für junge Menschen. Aber das alles kostet viel Geld. "Und nach der Wahl", sagt Kurtovic, "heißt es immer: es ist kein Geld da." (SpiegelOnline)
Auch in Schweden ist ein Muster zu erkennen, das den Problemkomplex "Ausländerkriminalität" und "mangelnde Integration" durchzieht. Jahrzehntelang wurde viel zu wenig getan, und wenn man sich endlich bereit erklärt das Problem überhaupt zu sehen wird es als eine Polizeiaufgabe deklariert, als ob die der richtige Ansprechpartner wären, um jahrzehntelange Integrationsversäumnisse aufzuholen. Was es braucht sind Sozialarbeiter, nicht Polizisten, aber die kosten halt viel Geld und lassen sich im Wahlkampf nicht so toll martialisch vermarkten. Dafür haben sie auch einen einen echten Effekt und helfen tatsächlich. Ich habe das Problem in Fundstück 4 ja auch angesprochen. Das ist eine politische Aufgabe für die Konservativen. Die sind die einzigen, die das politische Kapital haben, hier tatsächlich tätig zu werden und, vor allem, dauerhaft tätig zu werden. Wenn Progressive das machen wird es zum Wahlkampfthema und bei der nächsten Niederlage wieder zurückgebaut; wenn die Konservativen das machen, dann bleibt es. Sieht man umgekehrt ja auch bei Sozialstaatsreformen: Kohls Rentenreform wurde sofort zurückgedreht, die von Rot-Grün bleibt. Aber dafür braucht es eben Verantwortungsbewusstsein und den Willen, das politische Kapital für ein solches Thema, das eigentlich nicht das eigene Leib- und Magenthema ist und dass die eigenen Wähler nicht nur nicht interessiert, sondern vielleicht gar verprellt, anzugehen. Es gehört zur Größe Merkels, dass sie dazu bereit ist, zumindest wenn die Demoskopie sie unterstützt. Der Atomausstieg ist ja auch so ein Ding: kaum kam Schwarz-Gelb ans Ruder, wollten sie das Ding killen. Erst als die Konservativen es machten, wurde es zur festen Größe. Only Nixon can go to China.

Sonntag, 2. September 2018

Bücherliste 2017/18

Bücher sind der Schlüssel zur Welt, und es gibt praktisch unendlich viele davon auf der Welt, und jedes Jahr kommen neue hinzu. Da das Leben kurz ist, möchte man nicht unbedingt mehrere Bücher anfangen und irgendwann feststellen, dass sie Mist sind und man bisher seine Zeit verschwendet hat. Andererseits ist es oft schwer, an gute Ideen für neue Bücher heranzukommen, wenn man sie nicht gerade durch Zufall findet. Ich stelle daher hier meine Bücherliste 2017/18 vor, die zwar nicht alle Bücher enthält, die ich in diesem Zeitraum gelesen habe, aber alle, die ich guten Gewissens weiterempfehlen kann oder doch wenigstens kommentieren will. Vielleicht findet ja jemand etwas Interessantes darin. Die meisten Bücher habe ich auf Englisch gelesen; wo vorhanden, habe ich Links auf die deutschen Versionen beigefügt. Alle Links führen direkt zu Amazon, und wer die Bücher über diese Links bestellt sorgt dafür, dass ein kleiner Teil des Preises von Amazon an mich geht. Kapitalismus! Artikel daher bookmarken und als ständige Referenz nutzen. :)


Jefferson Cowie - The Great Exception

Dieses Buch war eine meiner hauptsächlichen Quellen für die Artikelserie über Glanz und Elend der Sozialdemokratie. Es ist rundheraus empfehlenswert. Cowie übernimmt sich nicht in einem endlosen Wälzer, sondern macht seinen Punkt auf rund 250 Seiten, so dass das Buch zügig lesbar ist. Sein Stil ist außerdem flüssig und kommt ohne eine überflüssige Masse an Fachvokabular, Fremdworten und Bandwurmsätzen aus. Cowies grundsätzliche These ist, dass man den New Deal in den USA als die titelgebende große Ausnahme verstehen müsse. Anstatt ihn als logische Folge aus der Gilded Age und dem Zusammenbruch des Neoliberalismus in den 1920er Jahren zu lesen, der dann später quasi konsolidiert worden wäre, arbeitet er die prekäre Lage, aus der die New Dealer operierten, ebenso heraus wie die ungeplante und häufig improvisierte policy-Varianz dieser Ära. In Cowies Lesart ist Ronald Reagan demzufolge auch kein krasser Bruch und keine Revolution, sondern eine Restauration, die die Ausnahmezeit beendet. Ohne die Ausnahmetatbestände, die 1933 bis 1937 herrschten sieht er auch keine Renaissance des New Deal auftauchen. Sein Buch ist daher zwar pessimistisch, aber seine kohärente Darstellung der New-Deal-Zeit allein ist es wert gelesen zu werden, gibt er doch einen strukturierten Überblick und ordnet die Entwicklungen in einen analytischen Rahmen ein.

Henner Löffler - Wie Enten hausen

Wer sich für das Barks'sche Entenhausen interessiert, kommt an Henner Löfflers umfänglichen lexikalisch aufgebauten Werk eigentlich kaum vorbei. Von A wie Auto zu Z wie Zeitung findet sich alles, was den Kosmos Entenhauses bestimmt. Mit zahllosen Fußnoten unternimmt es Löffler, eine so kohärente Interpretation des Barks'schen Oevres wie möglich zu unternehmen. Für einschlägig Interessierte findet sich hier alles, was daran spannend ist, ohne gleich in den absurden Detailwahn der D.O.N.A.L.D.isten zu verfallen. Seine Vergleiche zwischen englischer Originalausgabe und detuscher Übersetzung sind zudem immer sehr instruktiv, und er teilt nicht die sentimentale Überbewertung von Erika Fuchs' Übersetzungen, wie sie etwa Ernst Horst (s.u.) aufweist.

Ernst Horst - Nur keine Sentimentalitäten! Wie Dr. Erika Fuchs Entenhausen nach Deutschland verlegte

Erika Fuchs ist eine der prägendsten Persönlichkeiten der deutschen Sprachentwicklung der letzten 70 Jahre, und dass sie in keinem Deutsch-Bildungsplan für die Schule auftaucht ist nur einmal mehr Ausdruck des allgemeinen Snobismus, der dieses Fach leider Gottes bestimmt. Ernst Horst hat keinerlei solche Berührungsängste. Er wurde in den 1950er Jahren mit Fuchs' Übersetzungen groß, und er unternimmt hier den Versuch, ihr ein Denkmal zu setzen. Detailliert setzt er sich mit Fuchs' Wirken auseinander, sowohl in ihrem Bezug zur deutschen Sprache (sie schuf solche Formulierungen wie "alter Freund und Kupferstecher" und ließ zahllose Zitate aus den Klassikern einfließen) als auch in der Art, wie sie Entenhausen deutsch zu machen versuchte (wer sich je wunderte, warum Donald in den Lustigen Taschenbüchern "Schmalzkringel" isst...Fuchs kannte Donuts nicht). Äußerst nachteilig ist jedoch Horsts reaktionäre politische Einstellung, die in dem Buch mehr und mehr durchschlägt und in immer längeren Tiraden gegen all das, was ihn an der Moderne stört, ausartet. Ich kenne trotzdem kein besseres Werk über Erika Fuchs und Entenhausen.

Anatol Stefanowitsch - Eine Frage der Moral - Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen

Anatol Stefanowitsch ist einer der profiliertesten deutschen Linguisten, nicht so sehr weil er bahnbrechende Forschungsergebnisse veröffentlicht (was er vielleicht tut, das weiß ich nur nicht, ich kenne mich auf dem Feld nicht aus, Linguistik habe ich im Studium gehasst), sondern weil er eine der wahrnehmbarsten öffentlichen Stimmen für gerechte Sprache, gendersensible Sprache und politisch korrekte Sprache ist. Wenig verwunderlich ist daher, dass der Duden-Verlag ihn beauftragt hat, eine kleine Fibel zur Rechtfertigung politischer Korrektheit zu schreiben. An Kritik an der solchen herrscht ja wahrlich kein Mangel, so dass eine kohärente und konzise Verteidigung derselben durchaus notwendig war. Und das liefert Stefanowitsch hier auch ab. Das Büchlein ist kaum 80 Seiten lang und groß gedruckt, man kann es locker in unter einer Stunde lesen. Teuer ist es auch nicht. Selbst wenn man politisch korrekte Sprache hasst sollte man es sich daher zu Gemüte führen, dass man wenigstens die Gegenposition einmal zur Kenntnis genommen hat, allein der intellektuellen Hygiene wegen.

Richard J. Evans - The Pursuit of Power // Richard J. Evans - Das europäische Jahrhundert

Richard J. Evans ist einer der profiliertesten Historiker; ich habe in der Vergangenheit bereits auf seine dreiteilige Serie zum Dritten Reich aufmerksam gemacht (hier, hier, hier jeweils in Englisch). In diesem Band untersucht er die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts in zehn Längs- und Querschnitten unter verschiedenen Gesichtspunkten, die er alle unter dem Oberbegriff des "pursuit of power" subsumiert, der - so seine These - eine fundamentale Dynamik des 19. Jahrhunderts darstellte. So lesenswert alle diese zehn problemlos unabhängig voneinander lesbaren Längs- und Querschnitte auch sind, so wenig überzeugend fand ich letztlich die Oberthese des "pursuit of power". Die deutsche "Übersetzung" des Titels scheint mir da näher an der Wahrheit zu sein, und es drängt sich der Verdacht auf, dass Evans am Ende für ein strukturell relativ disparates Buch irgendein starkes Verkaufsargument brauchte. Davon sollte man sich aber nicht weiter stören lassen; der Mangel an einem Gesamtnarrativ sorgt zwar für ein stückiges Leseerlebnis, aber die einzelnen Kapitel selbst sind auf dem aktuellen Stand der Forschung, solide (wenngleich eher kompliziert und ein wenig dröge) geschrieben und geben dem einschlägig vorgebildeten Leser einen guten Überblick über die Epoche. Die letzte Einschränkung ist wichtig: ohne gewisse Grundkenntnisse wird die disparate Struktur des Buchs dem Leser das Genick brechen und jedem Verständnis im Weg stehen, was das Buch mit den "Totengräbern" (s.u.) gemeinsam hat. Wer diese Vorkenntnisse mitbringt und den sachlich-historischen Stil nicht abstoßend findet sollte Evans aber unbedingt lesen.

James Holland - The War in the West: A New History Vol. 1 Germany Ascendant

Ganz anders als Evans liest sich dagegen Holland. Seine dreiteilige Serie über den Zweiten Weltkrieg im Westen ist ungeheuer flüssig und spannend zu lesen. Tolland verbindet ein hervorragendes Gefühl für Zeit und Ort mit biographischen Augenzeugenberichten und interessanten und Einblicke garantierenden Details. Man sollte nicht glauben, dass das Verfolgen der Geschicke und Alltagserlebnisse von Soldaten und Zivilisten über die ersten beiden Kriegsjahre neben kriegswirtschaftlichen Statistiken und Politikgeschichte ein sinniges Ganzes ergeben könnten, aber Holland hat ein ausgezeichnetes Gespür für historische Narrative. Er schafft es zudem, ständig neue und interessante Fakten einzubringen, die neue Blickwinkel ermöglichen und das bisherige Verständnis des Kriegs im Westen herausfordern, vom Sitzkrieg an der Westfront zum meist völlig in Vergessenheit geratenen Kampf in Skandinavien. Gerade letzterer erhält bei Holland eine wesentlich größere Stellung als etwa der Frankreichfeldzug, weil sich der Autor weniger im Nacherzählen sattsam bekannter Ereignisse übt, sondern diese durch neue Erkenntnisse besonders wirtschaftshistorischer Natur in einen ganz neuen Kontext stellt. Unbedingt empfehlenswert!

James Holland - The War in the West: A New History Vol. 2 The Allies Strike Back

Was im obigen Absatz zum ersten Teil der Serie gesagt wurde, stimmt unbeschnitten auch für den zweiten Teil. Holland stützt sich hier hauptsächlich auf den Balkanfeldzug und den Krieg in Nordafrika. Spannend ist, wie er mit dem Feldzug in der Sowjetunion umgeht. Dieser nimmt natürlich für den Kriegsverlauf, ebenso wie der beginnende Krieg im Pazifik, einen gewaltigen Raum ein, hat jedoch nichts mit dem Gegenstand seiner eigenen Erzählung zu tun. Holland schafft es tatsächlich, diese Großkonflikte nur dann einzubinden, wenn sie für sein eigentliches Narrativ interessant sind und dieses stützen und sinnvoll erweitern - oder sofern sie für das Verständnis notwendig sind. Nebenbei gelingt es ihm weiterhin, neue und erhellende Details in die Analyse einzubauen - etwa in einem umfassenden Vergleich, wie das Afrikakorps und die britische Armee mit den gewaltigen Herausforderungen für die Moral der Truppe in Nordafrika umgingen (die Briten nahmen einen gewissen Verfall schlichtweg als in einer Demokratie unvermeidlich hin und stoppte deswegen Offensiven, während die Wehrmacht mit drakonischen Strafen die Disziplin trotz schlechter Moral aufrecht erhielt und die Truppe herunterwirtschaftete). Auch hier unbedingte Empfehlung.

James S. A. Corey - Cibola Burn / James S.A. Corey - Cibola brennt (The Expanse 4)

Im vierten Band der Expanse-Reihe finden sich die Charaktere erstmals auf einem Planeten außerhalb des Sonnensystems wieder und vermitteln dort in einem Konflikt zwischen den Konzernen des Sonnensystems, die legalen Anspruch auf den Planeten haben, und den individualistischen Siedlern, die den Planeten als neue Frontier sahen und sich selbst hinschmuggelten. Zudem versucht Holden das Rätsel der alten Alien-Technologie und dem "Ermittler" in Gestalt John Millers zu lösen. Der Roman selbst ist der schwächste der Reihe und könnte theoretisch komplett übersprungen werden, weiß aber wenigstens mit einem interessanten Grundkonflikt aufzuwarten: Die Konzerne haben einen deutlich verantwortungsvolleren und sinnvolleren Ansatz zur Besiedlung der neuen Planeten als die radikalen Siedler, haben jedoch auf der anderen Seite durch den riesigen Resourcenvorteil auch eine Versuchung, einfach nackte Gewalt anzuwenden. Wegen der holzschnittartig bösen Charaktere unter den Security-Kräften des Konzerns jedoch erreicht das nie das Niveau, das die Prämisse verspricht.

James S. A. Corey - Nemesis Games / James S. A. Corey - Nemesis-Spiele (The Expanse 5)

Der fünfte Band der Expanse-Reihe unternimmt einen literarisch interessanten Ansatz, indem er die vier Hauptcharaktere Holden, Naomi, Alex und Amos trennt und über das ganze Sonnensystem verteilt. Amos geht auf die Erde, um einige dunkle Hinterlassenschaften seiner kriminellen Vergangenheit aufzulösen, Alex versucht auf dem Mars mit seiner Ex-Frau reinen Tisch zu machen und Naomi versucht wie Amos, die Dämonen ihrer Vergangenheit zu bannen. Doch nichts geschieht wie erwartet, und innerhalb kürzester Zeit stehen die Charaktere mitten in tumultartigen Umwälzungen nach dem verheerendsten Terroranschlag der Geschichte der Menschheit. Besonders interessant fand ich das kontinuierliche Brechen der Leser-Erwartungen darüber, was als nächstes geschehen würde. Keiner der scheinbaren Hauptplotstränge war tatsächlich einer; tatsächlich lösen sich die ursprünglichen "Missionen" der Charaktere innerhalb der ersten paar Kapitel und machen der eigentlichen durch die Hintertür eintretenden Hauptstory Platz.

James S. A. Corey - Babylon's Ashes / James S. A. Corey - Babylons Asche (The Expanse 6)

Im Finale des eigentlichen Handlungsbogens der Expanse-Reihe kommen sämtliche Plots in einer explosiven Hetzjagd über das ganze Sonnensystem zusammen. Soziale und politische Ordnungen lösen sich auf. Besonders interessant aus politischer Sicht sind die Konsequenzen der tausend neuen Welten, die nun für eine Besiedlung offenstehen, und die Folgen des Terroranschlags auf die Erde. Plötzlich verschiebt sich die Macht massiv in Richtung der Belter. Diese Dynamik ist interessant. Der Band hat zudem mit 16 Charakteren die meisten POV-Charaktere irgendeines Expanse-Buchs, was zwar der über das System verteilten Story ebenso hilft wie dem Abschließen diverser Plotfäden, den Charakteren selbst aber nicht viel Raum zur Entfaltung bietet.

James S. A. Corey - Persepolis Rising (The Expanse 7)

Ich habe Band 6 der Reihe als eigentliches Finale bezeichnet. In Band 7 machen wir einen Zeitsprung von 30 Jahren in die Zukunft, und wie das bei solchen Zeitsprüngen in Romanen häufig ist wurde der Status Quo effektiv nur in die Zukunft fortgeschrieben, was nicht sonderlich spannend ist. Alle sind etwas älter und grauer und die Rocinante pfeift aus dem letzten Loch, aber ansonsten gab es bei den Charakteren keinerlei Veränderungen. Das ist die erste Enttäuschung. Die zweite ist, dass der eigentliche Plot - das Auftauchen der geheimnisvollen Siedler von Lakonia - ungeheuer generisch und wenig interessant ist. Letztlich attackieren außerirdische Invasoren das Sonnensystem und zwingen alle aufrechten Einwohner in einen Guerilla-Kampf. Die Philosophie der Lakonier ist der übliche 300-angehauchte Fascho-Mix, auch hier gibt es wenig Spannendes. Man wird sehen, was das Autorenteam daraus noch macht.

James S. A. Corey - Strange Dogs

Neben den Hauptromanen der Reihe haben James S. A. Corey auch einige Novellen geschrieben, darunter Strange Dogs. Die Story beleuchtet einige Hintergründe von Lakonia und ist tatsächlich interessant, hauptsächlich wegen des Horror-Aspekts, den die Geschichte einnimmt. Auf der anderen Seite darf man etwas beunruhigt ob der Technologien sein, die hier aufgebaut werden. Unter Umständen graben die Autoren da ein Logikloch, aus dem sie später nicht herauskommen. Diese Novelle war aber die beste, die ich bisher gelesen habe.

James S. A. Corey - The Vital Abyss

Wer der Überzeugung war, dass es dringend eine Novelle braucht um zu erfahren, was der (nicht besonders interessante) Wissenschaftler Cortazar seit seiner Gefangennahme getrieben hat, wird hier fündig. Die Story an sich bietet leider wenig Spannendes, weil Cortazar ein emotional toter Mensch ist. Und da ich Persepolis Rising zuvor gelesen hatte und die Struktur nicht gerade innovativ ist kommt bei der Frage, ob er die Gefangenschaft überlebt, auch kaum Spannung auf. Hoffentlich nicht...? Aber natürlich tut er es und wird weiterhin böse Dinge tun, die den Plot voranbringen. Kann man sich sparen.

Klaus Theweleit - Männerphantasien 1+2

Ein Klassiker aus den Siebzigerjahren stellt dieses Werk dar, in dem Klaus Theweleit die Faschisten besonders (aber nicht exklusiv) in Deutschland auf die spezifisch männlichen Fantasien hin untersucht, die diese hegen. Das Werk ist mehr als umfassend und bis heute meines Wissens nach nicht wirklich reproduziert worden, so dass es immer noch die einzige Quelle zu dem Thema darstellt. Es ist von einer teilweise tragiokomischen Natur, wie die SA-Sturmleute beziehungsunfähig waren, weil ihre Vorstellungen an Frauen und Beziehungen mit der Realität völlig inkompatibel waren. Theweleit ist allerdings extrem schwer zu lesen; das Buch ist voll vom typischen 1970er-Jahre-Jargon, enthält zahllose Anspielungen auf (damals) aktuelle Ereignisse und Trends und politisiert an allen Ecken und Enden. Es ist quasi das linksalternative Gegenstück zu Ernst Horsts Untersuchung Entenhausens, was das angeht. Empfehlen kann ich es daher nur bedingt, aber interessant ist es allemal.

Michael Kaminski - The Secret History of Star Wars

Uneingeschränkt empfehlen kann ich dagegen die "Secret History of Star Wars". Michael Kaminski hat das zur Verfügung stehende Quellenmaterial in epischer Breite analysiert und interpretiert. Er vergleicht Drehbuchentwürfe miteinander und stellt diese den verschiedenen Einflüssen gegenüber, wertet Interview und Autobiographien aus und zieht natürlich die Filme selbst mit heran. Auf diese Art entsteht ein vollständiger Überblick über die Entstehungsgeschichte der klassischen und der Prequel-Trilogie. Kaminski gelingt es dabei auch, zahlreiche Klischees und erfundene Geschichten zu relativieren und falsifizieren, vom angeblichen Einfluss Campbells und des Monomythos' bis zur Idee, dass Lucas die gesamte Geschichte im Voraus geplant hatte. Nebenbei erfährt man auch einiges über die Prozesse bei der Entstehung von Drehbüchern, Filmen und moderner Blockbuster. Wer sich für Popkultur interessiert sollte dieses Buch lesen.

David Edgerton - The Shock of the Old

David Edgertons zentrale These ist, wie es der Buchtitel bereits werbewirksam ankündigt, eine Art Antidot zu technophilen Utopien. Wenn einmal wieder der neueste Hirnfurz von Elon Musk als gigantische, menschheitsrevolutionierende Errungenschaft angepriesen wird macht es Sinn, Edgerton herauszukramen und seiner Schilderung zu folgen, dass alte Technologien eine ungeheuer lange Halbwertszeit haben, manchmal überraschende Comebacks und erleben und so manche brillante neue Technologie sich als üble Sackgasse erweist. Eines von vielen, vielen Beispielen in dem Buch ist die Atomenergie: heute schalten wir unter gigantischem Aufwand die Meiler ab und kehren zum totgesagten Kohlestrom zurück, während man in den 1950er Jahren noch den privaten Atomreaktor um die nächste Ecke sah. Bedauerlicherweise ist Edgerton nur schlecht lesbar; dem Buch mangelt es an einer klaren Struktur, so dass es trotz aller guten Ideen und Ansätze ein unglaublich stückhaftes Werk bleibt, dessen zentrale Gedanken irgendwo zwischen Einwürfen und Exkursen verstreut bleiben.

Yuval Novah Harari - Homo Deus: A brief history of tomorrow // Yuval Novah Harari - Homo Deus: eine kurze Geschichte von morgen

Populärwissenschaftliche Bücher sind gerne gehypt, wenn sie irgendwelche steilen Thesen mit exotisch wirkenden Fachgebieten verbinden. Das gilt für solchen Schmarrn wie "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken", das ich hier nicht mit einer Verlinkung veredlen werde. Und es gilt für seitengewordene heiße Luft wie Yuval Novah Harari, dessen Bücher ständig die ersten Plätze der NYT-Bestsellerlisten besetzen. Im vorliegenden Werk entwirft Harari die These, dass der Mensch sich durch allerlei technologische Fortschritte in eine Art gottgleiche Position aufschwinge. Soweit, so belanglos. Ärgerlich wird es dadurch, dass Harari in irgendwelchen Fachgebieten wildert, in denen er nichts verloren hat und in denen er offensichtlich auch nur sehr oberflächliche Kenntnisse hat und uralte, mittlerweile stattsam widerlegte Narrative aufkocht, sei es Anthropologie, sei es Theoligie. Gerade in der Anthropologie sollte man sehr vorsichtig sein, aus irgendwelchen indigenen Stämmen eine mythische menschliche Vergangenheit als Naturzustand zusammenzubasteln, aber der Versuchung können offensichtlich nur wenige widerstehen. Hände weg von diesem Buch, oder wenn ihr es schon kaufen müsst, nutzt wenigstens die Links oben.

Al Gore - An Inconvenient Sequel - Truth to Power

Das Begleitbuch zu Al Gores neuem Film "An Inconvenient Sequel" ist ein schön anzusehener, vollfarbiger Band voll protziger zweiseitiger Aufnahmen und viel Selbstgratulation zwischen einer ganzen Reihe von Daten und Fakten zum Klimawandel. Ich hatte den Band in der Hoffnung erstanden, ihn für den Unterricht hernehmen zu können, da Gore zwar anspruchsvoll, aber lesbar schreibt. Letztlich bin ich aber nicht die Zielgruppe. Gores Nonprofit, das Jahr für Jahr Klimabotschafter ausbildet, hat genau diese Klimabotschafter als solche auserkoren, weswegen das letzte Drittel des Buchs sich auch mit Aktivismusstrategien beschäftigt. Das ist natürlich sinnvoll, aber der US-zentrische Ansatz ist bei einer weltumspannenden Organisation (und Problematik!) etwas unglücklich, was weiter zu dem Eindruck beiträgt, das Buch sei an einem vorbeigeschrieben.

Arthur Goldschmidt Jr. - A Concise History of the Middle East

Der Mittlere Osten gehört zu jenen Regionen der Welt, über die man unbedingt mehr wissen sollte, aber häufig genug sehr wenig weiß, vor allem wenn es um den Zeitraum geht, der vor der für die aktuelle Nachrichtenlage unmittelbar relevanten Fakten liegt. Die "concise history" war daher genau das, was ich suchte: in 25 Kapiteln wird die Geschichte der Region vom Iran bis Ägypten von Mohammed bis heute dargestellt. Etwas überraschend kam für mich dann doch der stark gegenwartsbezogene Fokus: In Kapitel 14 wird Israel gegründet, so dass für die ganzen Dynastien und Machtwechsel zwischen Mohammeds Tod und dem Ende des Ersten Weltkriegs mit dem breiten Pinsel gezeichnet wird, was als Einsteigergeschichte aber gar nicht schlecht ist. Die Autoren navigieren das Minenfeld verschiedener Religionen und Überzeugungen außerordentlich gut: sie haben zwar eine eigene Meinung, stellen aber immer erst neutral unterschiedliche Sichtweisen dar ehe sie erklären, welche sie selbst als überzeugend empfinden, und da es mehrere Autoren sind widersprechen sie sich teilweise sogar fundiert, so dass Mini-Debatten entstehen. Auch der Gegenwartsfokus war im Nachhinein ein Segen, weil man so endlich auch einmal eine ordentliche Geschichte des Nahostkonflikts aus Perspektive Saudi-Arabiens, Irans und (besonders spannend) Ägyptens bekommt. Die USA dagegen spielen kaum eine Rolle; es ist eine Geschichte des Mittleren Ostens, keine verkappte Geschichte der US-Außenpolitik. Das Buch ist daher sehr zu empfehlen.

Dale Carnegie - How to win friends and influence people // Dale Carnegie - Wie man Freunde gewinnt

Dale Carnegie schrieb den Klassiker aller Vertreter und Vorstände in den 1930er Jahren, und das merkt man dem Buch durchaus an. Die 17 Grundprinzipien, die Carnegie hier darlegt, sind allerdings reichlich zeitlos und für jeden, der entweder mit Menschen arbeitet oder generell seine "people skills" verbessern will, zu unterschiedlichen Graden hilfreich. Als Historiker fand ich die zahllosen Beispiele aus der Praxis häufig amüsant, weil diese deutlich die wesentlich hierarchischere Zeit zwischen 1930 und 1970, als die verschiedenen Auflagen des Buchs entstanden, wiederspiegelt. Ob man die vorgestellten Techniken als unzulässige, verwerfliche Manipulatin empfindet oder als Grundlagen eines besseren Zusammenlebens sei dahingestellt. Als problematisch dürften Besucher dieses Blogs dagegen solche Vorschläge wie "nie über Politik diskutieren" empfinden. Geht es rein darum, ob einen Leute sympathisch finden, ist das einfache Zustimmen natürlich zuträglicher, aber ob das gesamtgesellschaftlich so praktisch ist? Eine gesunde Skepsis darf man sich durchaus bewahren. Wenn jemand Vorschläge für aktuellere, brauchbarere Bücher in die Richtung hat, gerne in die Kommentare!

James Graham Wilson - The Triumph of Improvisation

Wilson stellt die Periode zwischen 1986 und 1991, als Reagan, Bush und Gorbatschow gemeinsam den Kalten Krieg beendeten, unter das Leitmotiv der Interpretation. Weder Sowjets noch Amerikaner folgten einem festgelegten Plan, sondern improvisierten in einer sich rapide wandelnden Welt Reaktionen, die letztlich zu dem - bei weitem nicht vorgezeichneten - Ergebnis des Zusammenbruchs der Sowjetunion führten. Wilson ist besonders positiv gegenüber dem außenpolitischen Establishment in Washington eingestellt, das unter Reagan an die Macht kam und in personeller Kontinuität zu Bush überlebte. Ohne Kritik bleibt das glücklicherweise nicht; besonders die tief ideologisch gefärbten Ansichten Reagans und seiner unmittelbaren Berater (die nicht aus dem wesentlich pragmatischeren und glücklicher agierenden Bush-Zirkel kamen) zerstörten immer wieder Fortschritte und setzten sie mutwillig aufs Spiel. Wilson ist besonders gut darin, die widersprüchlichen Fraktionen innerhalb des außenpolitischen Establishments auf beiden Seiten herauszuarbeiten und ständig deutlich zu machen, wo Alternativen bestanden und warum sich die Akteure so entschieden, wie sie sich entschieden, so dass das Ende des Kalten Krieges weniger als vorbestimmtes Ergebnis von strukturellen Faktoren oder brillanter magischer Fähigkeiten Reagans erscheint, sondern vielmehr als eines von vielen möglichen Ergebnissen, und eines, das die jeweiligen Akteure eigentlich nicht anstrebten. Unbedingt empfehlenswert!

George R. R. Martin - A Feast for Crows // George R. R. Martin - Zeit der Krähen, George R. R. Martin - Die dunkle Königin

Der vierte Teil des Zyklus vom "Lied von Eis und Feuer", der inzwischen unter der Verfilmung "Game of Thrones" wesentlich bekannter geworden ist, genießt in der Fangemeinde einen etwas gespaltenen Ruf. Ich gehöre zur (wachsenden) Gruppe derjenigen, die in diesem Band (und seinem Nachfolger, A Dance With Dragons, siehe unten) den (bisherigen) Höhepunkt der Saga sehen. In "Feast", das die Hälfte der Geschichte mit einem Fokus auf King's Landing, Dorne, den Iron Islands und Braavos bietet, entwirft Martin mit visionärem Blick überlappende Narrative und Leitmotive und hebt die Serie von ausgezeichneter Fantasyliteratur in den Status von Hochkultur. Es ist kein Wunder, dass der Schreibprozess sich so lange hinzog, wie er es tat. Selten war ein Titel so aussagekräftig wie hier. Um Euron Crowseye zu zitieren: "All of Westeros is dying." Der Verfall ist überall mit Händen zu greifen, das Abflauen nach dem "Sturm der Schwerter". Normalerweise befassen sich Fantasygeschichten nie damit, wie jemand nach einem großen Krieg Frieden zu schließen versucht. Hier ist es der gesamte zweite Akt, und es zeigt sich schnell, dass der Sieg auf dem Schlachtfeld der einfache Teil war - eine Lektion, die so manchem Zeitgenossen zu lernen angeraten wäre.

Robert J. Gordon - The Rise and Fall of American Growth

In diesem absolut brillanten Werk, das zusammen mit Cowies "Great Exception" eine Hauptquelle für die Artikelserie über Glanz und Elend der Sozialdemokratie war, zeigt Gordon die Entwicklung des amerikanischen Lebensstandards zwischen 1870 und 1970 auf. Das Buch ist in zwei Teile gespalten; einmal die Entwicklung zwischen 1870 und 1940 und einmal die zwischen 1940 und 1970. Der Grund für diese Spaltung ist eine von drei zentralen Thesen aus dem Buch: dass (These eins) der gigantische und nie dagewesene Anstieg des Lebensstandards seit 1870 (These zwei) einmalig und unwiederholbar durch (These drei) eine Reihe grundlegender Innovationen im Bereich des vernetzten Haushalts bedingt sei. Die wesentlichen Technologien waren 1940 alle erfunden, danach - so Gordons These - wurden sie verbreitet und verbessert. Spätestens 1970 hatte die gesamte amerikanische Gesellschaft vollen Zugang zu all diesen Technologien, weswegen sich seither das Wachstum unwiderruflich (siehe These zwei) verlangsamt hätte. Dieses Buch ist eine Offenbarung und sollte unbedingt gelesen werden.

Anselm Doering-Manteuffel - Nach dem Boom

Die dritte Hauptquelle für meine Artikelserie über Glanz und Elend der Sozialdemokratie stellt dieser kleine Band meines ehemaligen Lieblingsdozenten dar (mittlerweile emeritiert), in der er zusammen mit einigen anderen Wissenschaftlern eine konzise Geschichte des Ende des Nachkriegsbooms in den 1970er Jahren zeichnet und dafür strukturelle Gründe auszumachen versucht. Ich habe seinerzeit die Hauptseminare besucht, in denen die Grundthesen und das Quellenmaterial dafür durchgearbeitet wurden, und es war eine absolute Bereicherung. Wie leider bei deutschsprachigen historischen Werken üblich ist die Sprache allerdings sehr verdichtet: viele Fremdworte und Schachtelsätze sorgen dafür, dass sich die Gesamtlänge in Grenzen hält, aber angenehme Lektüre sieht anders aus. Dieses Buch ist Arbeit, aber es lohnt sich.

Rüdiger Barth - Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik

Dieses Buch habe ich ausführlich hier rezensiert.

Paul Elliot - Legions in Crisis

Wer an römische Legionen denkt, sieht sie im Normalfall in ihrer klassischen hochimperialen Form aufmarschieren, wie sie auf der Trajanssäule (und, anachronistisch, in Asterix) verewigt ist. Helme mit breitem Ohren- und Nackenschutz, Rüstung aus Metallstreifen, rechteckiger Schild und kurzer Gladius, dazu zwei Wurfspeere. Dass nach den "klassischen" römischen Kaisern bis Marc Aurel noch gut drei Jahrhunderte folgten, ist zwar grundsätzlich bekannt, aber die Ära selbst weitgehend unbekannt, sieht man einmal vom klassischen wie falschen Gibbons'schen Narrativ des stetigen Niedergangs ab. Paul Elliot stellt in seinem Buch dar, wie sich die Legionen in der Zeit der Soldatenkaiser verändert haben. Wer schon immer wissen wollte, warum die Legionäre plötzlich ovale Schilde, lange Schwerter und Kettenhemden tragen, erfährt das hier. Das Buch ist leider nur eingeschränkt gut geschrieben und bekommt nie die Balance zwischen archäologischem Exkurs, ordentlicher Erklärung der Fachbegriffe und eigentlicher Analyse hin, aber das trifft auf viele Werke der Militärgeschichte zu, die eher von Amateuren geschrieben werden (und sich dann mangels Fachkenntnis gerne in steile Thesen verrennen, aber das tut Elliot glücklicherweise dank klug beschränkten Fokus' nicht). Von daher ist das Buch nur zu empfehlen, wenn man sich genug für die Militärgeschichte der Legionen interessiert, um über diese Mängel hinwegzusehen.

George R. R. Martin - A Dance with Dragons // George R. R. Martin - Der Sohn des Greifen, George R. R. Martin - Tanz der Drachen

Der bislang letzte Band des "Lied von Eis und Feuer"-Zyklus ist in meinen Augen der beste. Das ist in der Fangemeinde wie bei "Feast" sehr umstritten, aber nirgendwo erreicht Martin ein derart hohes literarisches Niveau wie hier. Das geht wie bei anspruchsvolleren, komplexen Werken so häufig mit einem gewissen Verlust an Massenkompatibilität einher, der sich allerdings in Grenzen hält: Martin ist ein populärer UND literarischer Autor. So gute Prosa wie in diesem Band allerdings findet sich in den ersten Bänden nicht; Leitmotive sind mit ungeheurer Liebe zum Detail eingewoben, Symbole verstreut, und so weiter und so fort. Auch die Geschichte weiß, wenn man erst einmal über die ursprüngliche Enttäuschung der eigenen Erwartungen hinweg ist, zu begeistern. Ich finde auch immer den Vergleich mit The Expanse instruktiv: dort wird dem Leser alles was er will auf dem Silbertablett präsentiert, aber das macht es sicher nicht besser.

Frank Herbert - Dune // Frank Herbert - Dune: Der Wüstenplanet

Es ist schon knapp zwei Jahrzehnte her, dass ich den Wüstenplanet das letzte Mal gelesen habe. Meine Leseerfahrung dieses Mal ist...gemischt, um es milde auszudrücken. Auf der einen Seite bleibt der Roman ein absolut bahnbrechendes Werk der Science Fiction und läuft geradezu über vor wilden Ideen, die spannend sind und den Leser zum Nachdenken anregen. Auf der anderen Seite sind die Charaktere und die Geschichte ungeheuer langweilig erzählt. Kein einziger der vielen benannten Charaktere in diesem Buch verdient überhaupt die Bezeichnung Charakter; sie alle sind holzschnittartig und haben im Verlauf des Buchs keine Entwicklung. Jeder von ihnen ist zum Ende des Romans effektiv dieselbe Person wie zu Beginn, im Falle von Paul und Jessica Atreides haben sie effektiv nur aufgelevelt. Ich denke daher, ich werde den ursprünglichen Plan, die Lektüre zu nutzen und endlich auch die anderen vier Bände des Zyklus' zu lesen, aufgeben. Harte Science-Fiction war noch nie mein Genre, und "Dune" hat mir wieder einmal gezeigt warum. Da doch lieber Expanse.

Adam Tooze - Crashed: How a decade of financial crisis changed the world // Adam Tooze - Crashed: Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben

Das erst diesen August erschienene Werk von Adam Tooze ist rundheraus empfehlenswert. Tooze, dessen vorherige Werke "Wages of Destruction // Ökonomie der Zerstörung" und "The Deluge // Sintflut" ebenfalls unbedingt gelesen werden sollten, ist ein weiteres Meisterwerk gelungen, dessen wirtschaftshistorische Untersuchung bestehende Annahmen über den Haufen wirft und durch geschickte, globale Analysen neue Ansätze zum Verständnis komplexer Themen schaffen kann. Tooze betrachtet die Finanzkrise als ein globales und andauerndes, nun in ihr zehntes Jahr gehendes, Phänomen. Allein das ist revolutionär. In seinem Buch baut er auf mehrere Kernthesen: 1) Die Finanzkrise ist ein amerikanisch-europäisches Produkt, weil die Finanzmärkte derart verschränkt waren, dass sich das gar nicht trennen lässt. 2) Da die Finanzmärkte global operieren, ist die Krise auch global. 3) Finanzpolitik und Finanzmärkte sind zwei Paar Stiefel. 4) Finanzpolitik ist Machtpolitik. 5) Eurokrise und Finanzkrise sind unterschiedliche Ausprägungen derselben Krise. Auf Basis dieser Prämissen betrachtet Tooze die Geschichte der letzten zehn Jahre und bindet damit alles von Subprime-Krediten zu Griechenland, von "Chimerica" zu TPP, von Ukraine zu Brexit in diesen Zusammenhang ein. Wenn der geneigte Leser nur ein Buch aus dieser Liste lesen wird, sollte es dieses sein.

John Dolan - The War Nerd Illiad

Der "War Nerd" ist vielen vermutlich besser über sein Blog zur Außenpolitik besonders des Mittleren und Fernen Ostens bekannt, der mittlerweile nach Patreon gewandert ist. Dieses Buchprojekt ist ein spannendes: Dolan schrieb den Gedichtepos des "Ilias" in moderne Prosa um. Er erzählt dabei dezidiert nicht die Geschichte des Trojanischen Krieges, sondern nur den eigentlichen Teil der Ilias vom Streit zwischen Achilles und Agamemnon zum Begräbnis Hektors. Die Kenntnis der restlichen Geschichte wird schlicht vorausgesetzt. Was das Buch so spannend macht sind einerseits die modernen Übertragungen des alten Epos - erzählt in Prosa, weil "heutzutage Lyrikbände zwar noch gelegentlich publiziert, nicht aber gelesen werden" - quasi Vers für Vers, aber verständlich mit einer geläufigen Bildsprache, andererseits aber gerade das Behalten des Archaischen Ursprungstexts. Dolan lässt uns in die Gedankenwelt dieser Leute eintauchen und schafft es, dass man die Haltungen von Göttern, Halbgöttern und Königen versteht, deren Mentalität eine uns völlig fremde darstellt. Darin besteht die eigentliche Leistung des sehr empfehlenswerten Buchs.

Timothy Snyder - Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin // Timothy Snyder - Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin

Ein Buch das schon länger auf meiner Leseliste lag und das ich nie abgeschlossen hatte war dieses. Im Sommer habe ich endlich die Muße dafür gefunden. Es war nicht leicht. Es gibt Bücher, die sind schwer zu lesen, psychologisch gesehen. Das hier gehört dazu. Ich musste Snyder immer wieder zur Seite legen und mich von der Lektüre erholen, weil das, was hier geschildert wird, einfach schwer zu ertragen ist. Die Geschichte der kommunistischen und nationalsozialistischen Massenmorde in Osteuropa ist immer wieder aufs Neue erschreckend, selbst wenn man denkt, man habe eigentlich genug darüber erfahren. - Snyders Buch ist ziemlich umstritten, weil er einerseits den Holocaust in eine direkte Relation zu Stalins Massenmorden setzt und diese direkt vergleicht (was ihm oft als Holocaust-Verharmlosung ausgelegt wird, was aber meiner Meinung nach nicht zutrifft) und andererseits, weil er Auschwitz für überbewertet hält und die Erinnerungspolitik attackiert. Für Snyder - und da hat er völlig Recht - wird das dem Thema nicht gerecht, weil der Großteil der Mordopfer der Nazis eben nicht in Auschwitz starb, sondern in den "Bloodlands" durch fahrende Mordkommandos. Es lohnt sich, sich mit diesem Buch und seinen Thesen auseinanderzusetzen, auch wenn es schmerzt.

Christoph Mauch/Kiran Patel - Wettlauf um die Moderne. Die USA und Deutschland 1890 bis heute

Diese Aufsatzsammlung ist bereits etwas älter, und wenn ich "etwas älter" sage, meine ich 2006. Dass zwölf Jahre in der Geschichtswissenschaft manchmal eine Ewigkeit bedeuten können, sieht man an dieser Essaysammlung ziemlich gut. Die Autoren, allesamt Experten für deutsche und amerikanische Geschichte, arbeiten immer in Tandems an einem Oberthema (Wirtschaft, Politik, Religion, Einwanderung, Gender, ...) und vergleichen die Geschichte der USA und Deutschlands seit 1890. Das geschieht notwendigerweise in ziemlich breiten Pinselstrichen (das Buch ist "nur" rund 600 Seiten lang), aber das ist nicht grundsätzlich das Problem. In einem in deutschen Geschichtswerken beständig auftauchenden Problem ist die Sprache extrem kondensiert, voller komplizierter Sätze und Fachworte, was die Lektüre eher trocken und anstrengend macht. Breite Vorkenntnisse werden offenkundig vorausgesetzt. Am spannendsten fand ich den Aspekt mit dem Erscheinungsdatum. In vielen der Essays ziehen die Autoren Bezüge zur Gegenwart - was teilweise zu spannenden Effekten führt, etwa wenn der Neo-Imperialismus der amerikanischen Außenpolitik als Grundannahme genommen wird oder die allgegenwärtigen Malls Grundlage der Analyse der Konsumkultur ist. Das war 2006 noch richtig, ist 2018 aber bereits wieder graue Vergangenheit. Verblüffend wie schnell so was manchmal geht.

Rick Wilson - Everything Trump touches dies

Dieses Buch des republikanischen Politikberaters Rick Wilson ist ein einziger langer Rant. Es ist zwar gelegentlich ganz interessant, wenn er sein Insiderwissen aus 30 Jahre Wahlkämpfen einbringt und die Perspektive eines staffers im Weißen Haus unter Trump mit großer (wenngleich ätzender) Einfühlsamkeit darlegt, aber im Großen und Ganzen schreibt sich hier ein Gründungsmitglied der Never-Trump-Conservatives seinen Frust von der Seele. Aber Hölle, er tut es unterhaltsam. Dieses Buch ist für all diejenigen, die Trump und die post-2010 GOP nicht leiden können, ein einziger großer Spaß. Politics as Entertaintment in Reinkultur. Die Tirade an Invektiven Wilsons hat eine geradezu kathartische Wirkung, und genau da liegt mit das Problem: auf einer Welle solchen Hasses wurde Trump schließlich in Weiße Haus gespült. Von daher bleibt die Leseerfahrung zutiefst ambivalent. Wer aber Bedarf nach einem solchen Buch hat, kann zugreifen, denn Wilson ist wenigstens interessant, spritzig und, vor allem, ehrlich: er geht schonungslos mit seinen eigenen Fehlern, Fehleinschätzungen und seiner eigenen Rolle im Abstieg der GOP ins Gericht. Und natürlich basht er permanent die Linken, wer also so was mag, wird hier auch finden was er sucht.

Joe Studwell - How Asia works

Wie bereits das von mir beim letzten Mal empfohlene Poor Economics (englisch, deutsch) ist dieses Buch dazu angetan, das Verständnis von Entwicklungspolitik beträchtlich zu erweitern. Wo sich Poor Economics mit Hilfsorganisationen und extremer Armut beschäftigt hat, sieht sich dieses Buch an, wie asiatische Staaten sich im 20. Jahrhundert industriell entwickelten - oder es nicht taten. Joe Studwell stellt dabei die These auf, dass alle erfolgreiche Entwicklungspolitik auf Friedrich List zurückgeht, dessen Ideen auch die westlichen Industriestaaten gefolgt seien (er nutzt die japanische Metapher des "ökonomischen Flusses", den alle Länder, wenngleich zu unterschiedlichen Zeitpunkten, befahren). Er macht drei zentrale Punkte aus: Landreform (Privatbesitz von Land), Industrialisierungspolitik (sanfter Protektionismus) und "financial repression" (Finanzierung derselben). Erst wenn diese Schritte abgeschlossen sind erfolgt der Anschluss an den Weltmarkt mit Deregulierung und Liberalisierung. Studwell geht sowohl mit den sozialistischen als auch den IMF-Entwicklungsideen hart ins Gericht. Seine Argumente sind neu, sie sind überzeugend und sie sollten deutlich mehr diskutiert werden, als sie es gerade werden.

Samstag, 1. September 2018

Flugzeugträgerkapitäne in Chemnitz kaufen zu viele Eigenheime und diskutieren den Sozialismus - Vermischtes 01.09.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Das lange Schweigen der sächsischen Regierung
Drei Jahre danach ist die Polizei mit solchen Situationen immer noch überfordert. In Heidenau mussten sich die Beamten zurückziehen damals, sie überließen den Neonazis das Feld. Auch in Chemnitz wirkte die Polizei nun hilflos: 800 Menschen konnten durch die Stadt ziehen, als gehöre sie ihnen. Dass nicht Schlimmeres passierte, war reines Glück. Von Staatsversagen zu sprechen, ist deswegen keine Übertreibung. Es ist ein Staatsversagen, das weit zurückreicht. Über Jahrzehnte hinweg hat die sächsische Regierung Rechtsextremismus verharmlost. Sie ließ zu, dass sich weitreichende Strukturen entwickeln konnten. Sie kriminalisierte zuweilen sogar jene, die sich diesen Strukturen entgegenstellten. Bis heute greift in Sachsens CDU der alte Mechanismus: Wer den Rassismus und Rechtsextremismus thematisiert, der begeht Sachsen-Bashing. Die Medien: berichten angeblich immer nur negativ über dieses ach so schöne Bundesland. Diese Haltung sickerte in die Justiz ein, in die Sicherheitsbehörden, in die Kommunen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der hässlichen Wahrheit hat auf der obersten politischen Ebene bis heute nicht stattgefunden. Es reicht nicht, dass Ministerpräsident Michael Kretschmer, CDU, die Schirmherrschaft für ein Friedensfest übernimmt, das sich gegen Rechtsextreme richtet, es reichen auch nicht harte Haftstrafen gegen die Mitglieder der Terrorgruppe Freital - solange die Strukturen, die deren Bildung überhaupt begünstigten, immer noch existieren. Angesichts der jüngsten Szenen in Chemnitz stellt sich die Frage, ob die nächste Terrorgruppe nicht längst im Werden ist, im Erzgebirge, in der Sächsischen Schweiz. Die sächsische Regierung muss endlich begreifen, dass Rechtsextremismus eine Bedrohung darstellt: eine Bedrohung für Menschen mit anderer Hautfarbe, eine Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es ist eine Bedrohung, die mit aller Macht bekämpft werden muss. Doch Ministerpräsident Kretschmer hat nach den Ausschreitungen lange geschwiegen, bis er sich dazu durchringen konnte, die rechtsextreme Stimmungsmache zu verurteilen. Das ist eine Schande für Sachsen. (SZ)
Der laxe Umgang mit Rechtsextremisten, den die CDU an den Tag legt, ist ein Schandblatt. Sobald irgendwo die Antifa aufläuft, werden sofort Hundertschaften mobilisiert (zurecht!), aber wenn Nazis Ausländer durch die Straßen jagen oder Politterror begehen, dann fühlt sich die Staatsmacht überfordert. Gerade in Sachsen ist das ein riesiges Problem, das ewig einfach geleugnet wurde. Aber statt dass da die ganze Gesellschaft aufsteht, wo es glasklar gegen Nazis geht, die auf den Fotos in Glatzen Hitlergruß zeigen, haben wir unseren eigenen Charlottesville-Moment: in der FAZ fabulieren sie von "Rechten und Bürgerlichen", die gegen "Linksextreme" kämpfen, während die BILD sich den Umweg gleich schenkt und die "linken Chaoten" für die Geschehnisse verantwortlich macht. Die sächsische CDU versucht sich auch darin, beide Seiten irgendwie zur Verantwortung zu ziehen, statt das zu tun, was jeder aufrechte Demokrat tun sollte: gegen Nazis sein, immer und überall. Es ist dieser unbändige Wunsch, die Geschehnisse nicht als originäre Nazi-Orgie zu sehen, der dahinter steckt. Es muss einfach Merkels Flüchtlingspolitik sein, wie es immer Merkels Flüchtlingspolitik sein muss. Und deswegen können es auch nicht Nazis sein, wenigstens nicht nur, denn das Narrativ der ehrlich empörten Wutbürger, die vor allem der Bruch des Dublin-II-Abkommens und nicht etwa dumpfer Rassismus umtreibt, ist den Leuten einfach zu wichtig. Hier zeigt sich dann auch das moralische Versagen der FDP besonders deutlich. Wenn Kubicki etwa erklärt, dass "die Wurzel" der Gewalt in Chemnitz Merkels Politik sei oder Lindner sekundiert, sie habe "unsere politische Kultur zum schlechten verändert", sehen wir das besonders deutlich. Nein, Herr Kubicki, das sind Nazis, die Gewalt ausüben. Die muss man nicht in Schutz nehmen, um am rechten Rand nach Stimmen zu fischen. Das erinnert fatal an die Ausflüchte von gemäßigten Linken, bei denen die Ausschreitungen vom Schwarzen Block und Antifa auch grundsätzlich immer durch Polizeigewalt provoziert sind und die eigentlich ja gar nichts mit der eigenen Bewegung zu tun haben. Aber es ist diese Art von Legitimisierung, die diese Bewegungen am Leben hält. Und in Sachsen (oder Thüringen oder oder oder) geht es halt nicht um Sachbeschädigung, sondern Körperverletzung und Mord.

Möglichst viele Menschen sollen also die vier Wände, die sie bewohnen, auch besitzen. Diese Idee hat sich fest ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Der Besitz eines Eigenheims gilt in der Schweizer Politik als eine gute Sache. Doch ist das wirklich so? Ist Wohneigentum wirklich erstrebenswert? [...] Die Ökonomie des Eigenheimbesitzes ist zugegebenermassen etwas unlogisch. Vergleicht man nämlich Individuen miteinander, so stellt man fest: Je reicher eine Person ist, desto eher besitzt sie ein Eigenheim (wie Sie in Ihrem Bekanntenkreis wohl unschwer feststellen werden). Vergleicht man allerdings geografische Gebiete miteinander, so gilt: Je reicher ein Gebiet ist, desto weniger Eigenheimbesitzer gibt es da. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man sich die ökonomischen Argumente zum Eigenheimbesitz genauer anschaut. [...] Lässt man das fragwürdige Argument weg, wonach Eigenheimbesitzer die besseren Gemeindebürger sind, so zeigt sich unter dem Strich: Der Nutzen des Wohneigentums fällt überwiegend beim Individuum an. Der Schaden entsteht dagegen beim Kollektiv, bei der Volkswirtschaft. Lohnt sich also das Wohneigentum? Der Ökonom Andrew Oswald kommt in einem Buchbeitrag zu einem ziemlich klaren Schluss: «The world would be a better place if nearly everyone rented their homes.» Die Welt wäre also ein besserer Ort, wenn wir fast allesamt Mieter wären, sagt Oswald. Zu dieser Schlussfolgerung kam er, indem er US-Bundesstaaten hinsichtlich ihrer Wohnsituation verglich. Und feststellte: Staaten, in denen die Wohneigentumsquote stieg, verzeichneten in der Folge eine höhere Arbeitslosigkeit. Das Paper ist bei CNBC und beim «Independent» zusammengefasst. [...] Der Markt für Immobilien, Hypotheken und Eigenheime ist gesetzlich verzerrt – und dies wirkt sich auf die Volkswirtschaft unter dem Strich nicht förderlich aus.
Das ist eine spannende Untersuchung. Ich gehe davon aus, dass sich die Zahlen in Deutschland nicht wesentlich von der Schweiz unterscheiden werden, was das angeht. Der Besitz eines Eigenheims ist tatsächlich in den meisten westlichen Staaten erklärtes Ziel der Politik und wird mal mehr, mal weniger stark gefördert (in Deutschland fiel die entsprechende Förderung dem allgemeinen Sparwahn zum Opfer). Das volkswirtschaftliche Argument ist auch interessant. Ich denke aber, der Artikel vergisst einen wichtigen Faktor: Leute, denen die bewohnte Immobilie gehört, gehen wesentlich pfleglicher mit ihr um und investieren mehr in sie und ihren Erhalt beziehungsweise Renovierung und Ausbau. Kein Mieter hat ein großes Interesse an Investitionen in eine gemietete Immobilie. Das ist beim Besitzer anders. Zudem ist der private Immobilienmarkt für die Finanzwirtschaft ja auch wichtig. Hier gibt es vergleichsweise große und sichere Gewinnmargen (wenn man nicht gerade in Subprime investiert...), was vor allem für Wald- und Wiesenbanken relevant ist (weniger für Goldman Sachs). Auch volkswirtschaftlich relevant: Eigenheimbesitzer sind nicht flexibel, was wiederum wirtschaftliche Folgen hat - sie ziehen für Jobs im Allgemeinen nicht weg und nehmen meist auch keine an, die einen längeren Fahrtweg bedeuten - was auch wieder volkswirtschaftlich relevant ist, und so weiter.
Zudem darf man nicht die politischen Folgen vergessen, die am Eigenheim hängen. Das gilt besonders für die Kommunalpolitik. Diese wird von den Besitzern von Immobilien völlig dominiert (ganz besonders von solchen, die auch noch Land besitzen). Mieter interessieren sich bei weitem nicht so sehr für Kommunalpolitik wie die Besitzer des jeweiligen Eigenheims, und das ist ein Kreislauf, der sich selbst füttert. Bedenkt man die große Stellung des eigenen Hauses gerade in der süddeutschen Mentalität (der "schwäbische Traum" nenne ich es immer), wird klar, dass die volkswirtschaftlichen Argumente zwar schon irgendwie stichhaltig sind, aber politisch überhaupt nicht durchsetzbar sind. Zudem ist die eigene Immobilie für viele immer noch die beste und sicherste Form der privaten Altersvorsorge. Und an der Altersvorsorge herumzuspielen ist an den Wahlurnen ja immer ein Kracher...

In his dignified bearing, civility, and respectful bipartisanship, McCain displayed the classical virtues like few in our time. Honor, nobility, courage, public-spiritedness — he esteemed them all and did his best to embody them in his life. That, far more than his policy positions or well-known chumminess with reporters, is the source of the heartfelt tributes that have flowed forth from so many at the news of his death. His life was a reminder of an older, elevated notion of politics that places country before party and self-sacrifice before self-interest. [...] It also provoked him to swipe at those in his own party he considered to be "agents of intolerance" and to take stands against Republican voters who displayed small-minded bigotry. He did both knowing full well that such acts could harm him politically. At a time when many on the right deny the possibility of standing on principle, McCain made a habit of doing exactly that. [...] But he didn't do it enough. In one of his weakest moments, he helped to empower the very forces in our politics that aim to do away with everything McCain stood for. In picking Sarah Palin to be his running mate in the 2008 presidential election (in part to please the elements of the GOP base he'd previously antagonized), McCain elevated right-wing populism far beyond anything the U.S. had previously seen. Republican voters heard on a national stage a candidate who knew nothing about the issues and offered little beyond empty expressions of cultural resentment. And they loved it. In compromising his high-minded principles for the sake of expediency, McCain inadvertently paved the way for the debasement of American politics. This decision was encouraged by members of the political establishment on the center-right — Bill Kristol, Ross Douthat, and others. [...] But perhaps even more than his elevation of Palin, McCain's stances on foreign policy helped pave the way for the electoral collapse of the country's once vital center. McCain was a hawk for all seasons, consistently pushing the form of full-spectrum idealistic militarism that came to be associated with neoconservativism. Whatever the geopolitical problem, McCain was there (usually in the form of an op-ed co-authored with latter-day Trump toady Lindsey Graham) to place his moral authority and reputation behind a proposal to launch a barrage of bombs, and sometimes send ground troops as part of an invasion designed to overthrow tyrannical governments, in the name of freedom and democracy. [...] As the old saying has it: Fool me once, shame on you; fool me twice, shame on me. America's political (and foreign policy) establishment has made an awful lot of foolish mistakes and earned an awful lot of shame since the conclusion of the Cold War. And John McCain was a leading member of that establishment, far too often backing up and encouraging its follies. Any attempt to reach an honest and sober assessment of his career and contribution to our politics must wrestle with this decidedly mixed track record and its far-reaching unhappy consequences. (The Week)
Damon Linker bietet hier eine gute Übersicht über Leben und Wirken von John McCain, die dessen positive und negative Seiten gut zusammenfasst. McCain ist ein gutes Beispiel für wirkmächtige Narrative. Immer wieder hat er geschafft, sich als "Maverick" zu positionieren, eine Charakterisierung, die er nicht verdient hatte. McCain war kein Politiker, der von der Orthodoxie seiner Partei abwich, weil er bestimmte Policies verfolgte. Er war ein Politiker, der sich rächte, indem er Parteilinien überschritt, wenn es die Partei nichts kostete (besonders nach Bush und Trump). Aber er war ein treuer Parteisoldat. Was in vielen Elogien nicht ausreichend gewürdigt wird ist meiner Ansicht nach die Rolle, die McCain in der Legitimierung der radikalen Rechten spielte. Zwar ist seine persönliche Integrität im Wahlkampf 2008 zu recht legendär. Aber er war es, der Sarah Palin nominierte und damit völlig abgedrehte, anti-intellektuelle und aggressiv-unwissende Politik hoffähig machte. Die Geister, die er aus der Flasche ließ, konnte die GOP nie wieder einfangen. 8 Jahre später gewann dann Trump die Präsidentschaft. Der jetztige Mann im Weißen Haus ist auch McCains Hinterlassenschaft.

4) "Alle Bösen sollen wieder gehen"
Sie finde den Aufmarsch der Rechten gut, sagt Judy. Einige hätten es zwar übertrieben mit der Gewalt. "Aber wir brauchen die Rechtsextremen, wir brauchen Menschen, die mal in den Stadtpark gehen und einen umklatschen. Wenn wir Frauen demonstrieren gehen, wäre das doch allen egal", sagt die 32-Jährige. Wegen der männlichen Flüchtlinge fühle sie sich unwohl. Ihre Freundin nickt. [...] Da ist zum Beispiel der für den Innenstadtbereich zuständige sogenannte Bürgerpolizist: Es gebe dort eben ein allgemeines Gefühl der Angst. Auch er persönlich frage sich, "ob wir das Geld, das wir für Einwanderer ausgeben, nicht lieber Deutschen geben sollten, die hier jeden Morgen Briefe austragen". Da ist der Mann mit dem Laptopkoffer, den kurz geschnittenen Haaren und dem südosteuropäischen Akzent. "Es sind nur die Moslems, die hier mit dem Messer rumlaufen, Angst und Schrecken verbreiten", sagt er. "Denen muss man zeigen, wer hier das Sagen hat. Wenn sie heute wieder protestieren, gehe ich auch mit." [...] Der schwelende Hass erklärt möglicherweise, wie die Stimmung innerhalb weniger Stunden nach der Meldung über den mutmaßlichen Totschlag so eskalieren konnte, wieso sich auch Familien mit Kindern den Protesten anschlossen. [...] Ziel der Hooligans sei das Stadtfest gewesen, sagt er. "Sie sind mitten über die Wiese rüber", eine Machtdemonstration. Das Stadtfest war zu diesem Zeitpunkt offiziell längst beendet - aus Angst vor den Rechten. Anschließend zog der Mob wohl weiter Richtung Innenstadt, durchbrach eine Polizeikette. Männer traten und schlugen vereinzelt auf ausländisch aussehende Menschen ein, die wie jeden Abend neben "McDonald's" standen [...] "Wir müssen ein Zeichen setzen, irgendwann ist das Maß voll", begründet ein 66-jähriger Rentner, warum er am Montagabend mitdemonstrieren will. Er trägt eine Deutschlandflagge auf seiner Mütze. Ob er denn keine Bedenken habe, sich mit Nazis gemeinzumachen? "Nein, da habe ich keine Berührungsängste." (SpiegelOnline)
Als Ergänzung zu Fundstück 1 sehen wir hier deutlich die Radikalisierung der Gesellschaft. Und ja, das hat sicherlich mit der Ankunft der Flüchtlinge zu tun. Aber der ungeheure Hass, den diese Leute empfinden und schamlos hinausposaunen, war bereits vorher da. Und es ist dieser Hass, nicht Merkels Flüchtlingspolitik, in dem die Wurzel der Ereignisse liegt, von der Kubicki fabuliert. Was mich am meisten erschreckt ist glaube ich weniger, dass die Leute so empfinden, sondern dass es in Sachsen inzwischen überhaupt nicht als Problem empfunden wird, so zu reden. Offener Hass ist inzwischen satisfaktionsfähig und komplett aus der Schmuddelecke raus. Und dass das so ist liegt eben auch zu einem Gutteil an der Legitimierung durch kdie onservative Presse (wie FAZ, Welt oder BILD), die das beständig schönreden und als unvermeidliche und legitime, wenngleich irgendwie unschöne Begleiterscheinung von Merkels Politik lesen. Damit machen sie nichts anderes als die LINKE vorher. Als die Ostdeutschen ihre Protestwahl noch bei Gisy und Lafontaine gemacht haben, war dieser Hass immer der irgendwie unschöne, aber legitime Ausfluss bürgerlichen Ungerechtigkeitsempfindens über die Wiedervereinigung, den Neoliberalismus und das Schweinesystem, eine ständige Schönrednerei, die genau diese konservative Presse damals aufs Schärfste bekämpft hat. Jetzt nimmt man sie zur Unterstützung der eigenen Position heran und sieht sie plötzlich als Leute des eigenen tribalistischen Politikverständnisses und legitimiert sie. Dabei sind es die gleichen dauerzornigen Leute wie eh und je. Und statt dass Parteien, die sich die Eigenverantwortung auf die eigenen Fahnen geschrieben haben, wie die CDU und besonders die FDP, diese Entmündigung des Pöbels kritisieren und darauf verweisen, dass irgendwie schon jeder seine eigenen Entscheidungen trifft, stellen sie sich hin und präsentieren die von ihnen ungeliebte Politik als Zauber, der die Leute verhext. Ganz großes Kino. Dazu gehört dann das offensichtliche Versagen des Staates, das in weiten Teilen Ostdeutschlands zu bewundern ist, wo die Polizei offensichtlich zu großen Teilen rechtsextremistisch unterwandert ist und das keinen stört.

5) Als Flüchtling in Chemnitz
Schneeberg war schrecklich. Eine Kaserne, ein großer Block, sonst nichts. Keine Karten, kein Schach, kein Deutsch lernen, nichts zu tun. Eine Aufbewahrung. Man geht dorthin, um zu warten. Und die Helfer haben uns gehasst. Es waren Malteser, ich würde sagen jeder zweite von denen war ein Neonazi. Nein wirklich, ich weiß das, weil uns manchmal die Kollegen beiseite nahmen und sagten: ‚Der und der Kollege, die haben eine andere Meinung. Damit müssen wir zurechtkommen.‘ Ich akzeptierte das. [...] Einmal, ich bin im Hof Skateboard gefahren, schubste mich einer der Aufpasser vom Brett, ich flog voll hin. Einfach so. Er hat sich nie bei mir entschuldigt. Auch nicht, als sein Chef ihn dazu aufforderte. Ein anderes Mal wollte ich beim Essen Nachschlag, es gab Erbsen mit Kartoffelbrei. Die Frau schrie mich an: ‚Nein, nur eine Portion.‘ Als ich wieder wegging, kippte sie das restliche Essen in den Mülleimer. Da habe ich gemerkt, so kann es in Sachsen auch sein. Ich hatte schon Geschichten gehört, von den brennenden Flüchtlingsheimen. Bis dahin waren das für mich Geschichten. Jetzt wusste ich, dass es real war – der Hass. [...] Auf der Arbeit gibt es eine Frau, die mich hasst. Sie ist heute auch bei der Neonazi-Demo dabei. Sie hasst Ausländer. Manchmal frage ich sie, warum. Dann sagt sie: ‚Weil die nicht arbeiten.‘ Ich sage: ‚Du kennst doch mich, ich arbeite.‘ Sie sagt: ‚Du bist anders.‘ Als ich sie einmal fragte, wie viele Ausländer sie neben mir kennt, fiel ihr niemand ein. In der Chemnitzer Innenstadt kommen manchmal Menschen zu mir und sagen: ‚ Was hast du hier zu suchen?‘ Ich kenne die nicht. Wenn ich gute Laune habe, lasse ich mich auf die Beleidigungen ein und sage was. Aber das kostet Kraft. Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich mehr Verständnis erwecke, wenn ich einem Mülleimer oder der Wand meine Situation erkläre. Ich habe schnell gelernt: Mit den Menschen hier gibt es nichts zu verhandeln. Es gibt keine Meinungen zu ändern. Man kann mich hier nicht leiden, so ist das. Aber ich lasse jedem seine Meinung. (Krautreporter)
Als weiteres Fundstück im Chemnitzer Kontext habe ich diesen Artikel, der mal die andere Seite zeigt. Auch das ist übrigens auffällig bei der Pro-Hass-Presse dieser Tage: man hat unendlich viel Verständnis für den Mob, aber die Opfer fallen völlig unter den Tisch. Denn während es wahrhaftig genug Flüchtlinge gibt, die sich daneben benehmen (man denke an die Gruppe in Berlin, die jüngst eine Disco überfallen hat), der überwältigende Großteil verhält sich regelkonform ist einfach nur Opfer dieser legitimierten Ausschreitungen und des alltäglichen Hasses, der ihnen entgegenschlägt.

6) China's new aircraft carrier is all about political prestige, not military power
China's emerging aircraft carrier fleet is not designed for combat power, but rather in the pursuit of prestige. [...] Yet, while the carrier represents a milestone in Chinese naval history, it does not offer Beijing any significant military advantages. [...] Of course, these carriers aren't actually about military power; they're about political prestige. When it comes to war-fighting capability, the key to China's actual military threat is its advanced missile capabilities, not floating "please kill me" targets like China's carriers. But when we consider Chinese President Xi Jinping's broader strategy to replace the U.S.-led international order, the carriers do serve an important purpose: They make good propaganda. Showing large aircraft carriers sailing across the high seas, Xi is able to tell his domestic audience, "Look, I am making China the new great power." Xi's carriers also amplify his strategic influence on the international arena. And while this messaging has an outsize influence in persuading regional states like Vietnam, Malaysia, and the Philippines to reluctantly support Xi's agenda, it also carries impact further afield. To nations around the world, the carriers suggest that Xi is challenging American power and if necessary, will fight that power. It doesn't matter that the carriers aren't a practical means of challenging America; it only matters that they proffer a perception of Chinese resolve. And that understanding of resolve is crucial to Xi's ability to persuade foreign governments to support his economic interests over America's. Ultimately, however, even if China's carrier reality doesn't pose a significant threat to U.S. security, America has no excuse to be self-confident here. After all, our own carrier fleets are increasingly vulnerable to Chinese missile, submarine, and air-attack swarming forces. And China is determined to challenge America in just about every avenue of international affairs. (Washington Examiner)
Wegen unserer permanenten Nabelschau in der EU (und neuerdings auch in den USA) achtet kaum jemand darauf, was China eigentlich tut, aber das Land wird mit Riesenschritten zur dominanten Regionalmacht in Asien. Die künstlichen Inseln, mit denen sie ihren Herrschaftanspruch im südchinesischen Meer aufbauen, sind ja nur eine Bestandteil davon; die militärische Rüstung dient auch deutlich der Machtprojektion. Der Artikel liegt daher komplett richtig: Flugzeugträger sind Symbolpolitik, im Endeffekt die 21.-Jahrhundert-Variante der Dreadnoughts, mit denen Großbritannien und Deutschland zwischen 1900 und 1910 so wettrüsteten (und die nachher im eigentlichen Kriegsfall vor allem teure Metallhaufen ohne Wert waren). Was der Autor hier als "Please kill me target" beschreibt ist übrigens eine Art Dauergag unter Sicherheitsexperten in den USA: Flugzeugträger sind ungeheuer teuer und ein elementarer Bestandteil der US-Flottenstrategie, aber ihr militärischer Wert ist mehr als zweifelhaft. Sie sind super praktisch, wenn man Macht projizieren will - also etwa im Golf von Aden herumhängen und dem Iran zeigen, dass man jederzeit angreifen könnte - oder wenn man eine schwimmende Basis für irgendwelche Schläge gegen Dritte-Welt-Länder braucht. Aber ihr tatsächlicher Kampfwert in einem echten Konflikt ist angesichts der Verbreitung von billigen Raketensystemen, gegen die die Dinger keine Verteidigung haben, mehr als zweifelhaft. Aber Flottenstrategie hatte schon immer eine starke symbolisch-politische Komponente, deswegen ist es ja Großbritannien und Frankreich auch so wichtig, dass sie eine eigene Trägergruppe unterhalten.

7) Eine Zäsur findet nicht statt
Die Silvesternacht 2015/2016 in Köln sei eine Zäsur gewesen, sagen viele, und ich hoffe sehr, dass der Augustabend in Chemnitz auch eine Zäsur sein könnte. Wahrscheinlich ist er das nicht. Denn das Naziproblem ist ein strukturelles, gesellschaftliches und führende Vertreter der Strukturen und der Gesellschaft bewiesen, dass ihnen so gar nicht nach Zäsur ist. "Die deutschen Konservativen und ihre Führungsriege sind unfähig, sich von rechts wirklich bedroht zu fühlen. Für sie steht der eigentliche Feind immer noch links. Rechts - das sind irgendwie ungezogene Verwandte." So Ralph Giordano 1992 im SPIEGEL, es ist ein ewiger Satz, auch wenn er eindeutig nur noch für Teile der Konservativen gilt. [...] Die sächsische Polizei ist bei Rechten überrascht und überfordert, bei Linken übergriffig und übereifrig. Natürlich steckt dahinter ein strukturelles Problem, und auch ein politisches, wenn zu einem G8-Gipfel 20.000 Polizisten zusammengezogen werden, aber zu einem Naziaufmarsch mit Ansage auf einmal Polizisten fehlen. Polizeichef Georgie: "Es wäre bei einer anderen Prognoselage möglich gewesen, mehr Einsatzkräfte hinzuzuziehen". Allerdings hatte der Verfassungsschutz die Polizei offenbar schon Montag Mittag informiert, dass Horden gewalttätiger Nazis aus halb Deutschland nach Chemnitz reisen. Eine überraschend unüberraschende Überraschung also. [...] Ab wann genau werden offensichtliche Nazis in deutschen Medien eigentlich auch als "Nazis" bezeichnet? Hitlergruß und Migrantenjagd reichen offenbar nicht aus. In vielen Artikeln und in sozialen Medien ist die Rede von "Hooligans" oder "Protestlern". Hätte ich eine Zeitmaschine, würde ich ins Jahr 1933 fahren, und Hitler erstmal nicht umbringen, sondern für eine Pressekonferenz nach 2018 bringen. Wahrscheinlich könnte ich Zitate lesen wie "der als rechtsnational geltende A. Hitler". Ein strukturelles Problem, nicht nur in Sachsen, sondern auch in den Köpfen, erkennbar an den Worten. [...] "Selbstverständlich gibt es bei mir eine Lernkurve" meint Kretschmer, aber sie scheint so flach wie das Wattenmeer. Keine Zäsur. Kretschmer sagt: "Der Staat ist handlungsfähig", aber gerade Handlungsfähigkeit gehört zu den Dingen, die man nicht behaupten kann, sondern beweisen muss. Kretschmer bescheinigt sich selbst "Klarheit in den Antworten". Kretschmer fordert einen Ruck. Hört sich fast nach Zäsur an, aber eben nur fast. Abgesehen davon, dass er den Ruck nicht fordern, sondern selbst endlich rucken sollte. Eine Zäsur findet nicht statt. (SpiegelOnline)
Und noch einmal Chemnitz: Es ist tatsächlich beschämend, wie wenig Konsequenzen gezogen werden. Ich habe das bereits weiter oben ausführlich kommentiert und kann Sascha Lobo hier daher eigentlich nur zustimmen. Der Unwillen auf der konservativen Seite, die Nazis als solche zu verdammen und aus der feinen Gesellschaft auszustoßen, ist wirklich derselbe, den die LINKE immer gezeigt hat (und zeigt), die Kommunistische Plattform und ähnliche Spinner und DDR-Nostalgiker wegzuhalten.

8) The missing statues that expose that expose the truth about confederate monuments
This time, they’re angered by the toppling of a statue honoring the common Confederate soldier at the University of North Carolina, known locally as Silent Sam. In defense of the statue, they’ve drawn on a time-honored set of arguments. Slavery was never central to the Civil War, they insist, and regardless, the Confederate everyman at UNC had no direct relation to the South’s peculiar institution. Instead, Silent Sam and similar monuments across the country are simply tributes to the valor and sacrifice of Confederate soldiers. Yet if valor and sacrifice are the benchmarks for memorialization, where are all the statues to James Longstreet? Take Gettysburg: Nearly every soldier who shouldered a musket or drew a saber during that battle is represented in some form there. But before 1998, there was no likeness of Longstreet, one of the Confederacy’s greatest generals, in the 6,000-acre park. Only after a grass-roots campaign raised sufficient money was a statue erected. The finished product was then tucked behind a screen of trees at the far edge of the park. And unlike virtually every other major monument at Gettysburg, the Longstreet statue rests on the bare earth without a pedestal. Longstreet’s monument is significant precisely because it lacks grandeur and prominence. In fact, few pieces of Civil War statuary have as much to tell about the politics of historical memory (and amnesia), especially in the wake of events at UNC. That’s because, while Longstreet was a remarkable soldier, he was also an agent of federal Reconstruction — and black suffrage — in the postwar South. For that, his former comrades purged him from memory, thereby reinforcing the link between white supremacy and Confederate iconography. (Washington Post)
Die Debatte um die Beseitigung der neokonföderierten Monumente in den USA zeigt deutlich die Probleme mit Geschichte. Von rechts kommt immer das Argument, es sei "heritage" (so etwas wie Erbe, aber schwierig zu übersetzen) und jeder Versuch, das Zeug wegzumachen, würde Geschichte umschreiben. Das ist aber nicht korrekt. Erstens sind diese Statuen, die ja alle erst im 20. Jahrhundert aufgestellt wurden, selbst ein Versuch, Geschichte umzuschreiben (und ein erfolgreicher, muss man leider hinzufügen). Und zweitens zeigt der Artikel schön auf, welche Version der Geschichte hier geschrieben werden soll. Diese Statuen müssen fallen, oder wenigstens durch relativierende Plaketten ergänzt werden, und es braucht Monumente für die andere Seite der Geschichte, die bisher verschwiegen wird. Gerade in den USA ist eine Neubetrachtung der Reconstruction-Periode mehr als überfällig.

Conservatives have spent decades depicting liberals as coastal snobs. Entire campaigns were built from this theme, from Michael Dukakis’s “Harvard Yard boutique” to various Democrats failing to display the requisite enthusiasm for Nascar. Every image of Barack Obama in the right-wing media cast him gazing downward imperiously, a pose that conservatives seemed to think captured his contempt for the good people of the heartland. [...] But as is so often the case, the accusation that was made falsely against Democrats turns out to be true of Trump. For all his vaunted populism, he is filled with contempt for average people in general and his own supporters in particular. [...] Trump is the ultimate snob. He has no sense that working-class people may have equal latent talent that they have been denied the chance to develop. He considers wealthy and successful people a genetic aristocracy, frequently attributing his own success to good genes. Attempting to explain his penchant for appointing plutocrats to his Cabinet, Trump has said, “I love all people, rich or poor, but in those particular positions I just don’t want a poor person. Does that make sense?” It makes sense if you assume a person’s wealth perfectly reflects their innate intelligence. [...] The declassé image of his fan base has rubbed off on Trump, to his evident frustration. He regularly proclaims that his supporters are the true elite, but his unconvincing attempts to make the case usually devolve into boasts that Trump himself is the elite. [...] Obviously, the most elemental feature of populist politics is to associate one’s opponents with “elite.” But Trump is unable to maintain the pose because he cannot stand the stink of the people upon him. (New York Magazine)
Ich kann Jonathan Chait in seinem Artikel hier nur zustimmen. Mich erinnert das ungeheuer an Gerhard Schröder. Der war auch ein Populist, der sich hervorragend darauf verstand, ständig an diese Bevölkerungsgruppen zu appellieren und der sich gleichzeitig nichts sehnlicher wünschte, als von den oberen zehntausend als einer der ihren anerkannt zu werden. Nicht, dass er es je geschafft hätte, wahrscheinlich sucht er sich deswegen auch so verzeifelt die Ersatzbestätigung in Russland. Aber diese gleichzeitige Verachtung der ungewaschenen Massen, während man sich als ihr Champion inszeniert, ist bei beiden Politikern gegeben. Gut möglich, dass kontrollierter Populismus ein Merkmal vieler erfolgreicher Spitzenpolitiker ist. Helmut Kohl konnte das ja auch ganz gut, Lafontaine versteht sich darauf, und so weiter.

Elizabeth Warren: I believe in markets and the benefits they can produce when they work. Markets with rules can produce enormous value. So much of the work I have done—the Consumer Financial Protection Bureau, my hearing-aid bill—are about making markets work for people, not making markets work for a handful of companies that scrape all the value off to themselves. I believe in competition. [...]
Foer: In your description, that’s markets working.
Warren: The problem is that when the rules are not enforced, when the markets are not level playing fields, all that wealth is scraped in one direction. For example, leading up to the financial crash, there were a lot of mortgage brokers out there selling mortgages. Wow, did they get rich doing it. Families thought they were buying a product they could afford, whose payments they understood. Many of them lost everything. That’s a market that clearly was not working. [...]
Foer: What does it say about human nature? We have this almost innate inclination to trade with one another. And yet, the market also brings out an innate human tendency toward avarice and greed.
Warren: I would describe it differently. There’s always somebody who will see if they can run the light. The question is whether we maintain good rules and an effective cop to enforce those rules. This is where the wheels came off starting in the ’80s. This is a political issue. It’s not a markets issue. There were years of not perfect but fairly well-enforced rules that were pretty firmly hit and held. Then you hit the ’80s and the lobbying by the wealthy and the well-connected steps up and the rules start shifting. The rules tilt just a little more toward the rich and the powerful. Just a little more, just a little more. Enforcement gets weaker and weaker. Remember the whole description that started in the ’80s about deregulation and the beauties that deregulation would bring America? I understand no one wants to have to abide by dumb regulations. I get that, but deregulation became a code word for “fire the cops.” Not the cops on Main Street, the cops on Wall Street. (The Atlantic)
Ich lasse dieses Interview vor allem deswegen da, weil Warrens hervorgehobene Stellung als (sehr) vorläufiger Frontrunner im Bewerberfeld der Democrats für die Präsidentschaftswahlen 2020 bedeutet, dass diese Ideen über kurz oder lang in der amerikanischen Presselandschaft diskutiert werden werden. Zumindest in ihrem progressiven Teil; in der rechten Presselandschaft wird Warren ja bereits als verkappte kommunistische Kriegerin aufgebaut, etwa im National Review oder auf FOX News. Diese Karikatur Warrens gibt übrigens auch ein gutes Bild für die alternative Geschichte mit einem Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders 2016. Ich bin ja immer noch sehr skeptisch, dass dessen Ideen irgendeine Chance im amerikanischen Politikbetrieb hätten, aber wir werden mit Warren ja sehen, wie das läuft.

11) Eine Modelleisenbahn für Thilo Sarrazin
Stellen Sie sich vor, der pensionierte Bankvorstand Ihrer örtlichen Sparkasse hat ein Steckenpferd, eine Vorliebe für ein bestimmtes Thema, mongolischen Obertongesang etwa oder die Kultur der Samurai im Japan des 17. Jahrhunderts. Nun hat ein Sparkassendirektor nicht die Zeit, sich in alle kulturwissenschaftlichen Feinheiten einzuarbeiten. Aber er liest doch alles über das Thema, was er so in die Hände bekommt. Irgendwann hat er so viel gelesen, dass er sich dazu entschließt, ein Buch zu schreiben. Man kennt solche Bücher. Sie erscheinen in Kleinstverlagen mit edlen Einbänden und Lesebändchen aus roter Seide. Sie umfassen viele Hundert Seiten, weil der Autor einfach alles aufgeschrieben hat, was er zum Thema zu wissen glaubt. Und sie werden von niemandem gelesen, denn diese Bücher erscheinen nicht nur in Kleinstverlagen, sondern auch in Kleinstauflage und meistens zahlen die Autoren eine ganze Menge Geld, damit sie ihren Freunden und ihrer Familie zu Weihnachten eine kleine Aufmerksamkeit bescheren können. [...] Natürlich gehören zu einer solchen Simulation von Gelehrsamkeit immer auch steile Thesen. Menschen mit ein bisschen geisteswissenschaftlichem Hintergrund wird es zum Beispiel kaum erstaunen, dass die Übersetzung eines religiösen Textes, wörtlich genommen, viel eindeutiger wirkt als eine, verschiedene Kontexte einbeziehende, Lektüre des Originaltextes. Das haben neben Sarrazin auch islamische Fundamentalisten erkannt, weswegen die, wie er, einfach alles weglassen, was ihre Lesart stören könnte. Auch ein Statistiker hätte seine Freude am fröhlichen Dilettantismus des ehemaligen Finanzsenators und Vorstands der Deutschen Bundesbank. Weiß er doch, dass Statistiken immer nur so aussagekräftig und überzeugend sind wie die Voraussetzungen, die sie machen. Und dass man sehr leicht in einen sogenannten Scharfschützenfehlschluss gerät. Der heißt so, weil jeder Scharfschütze sein kann, wenn er erst schießt und dann erst die Zielscheibe um die Treffer herum malt. Übertragen bedeutet das: Wer seine Daten so auswählt, dass sie immer nur die eigene Voraussetzung bestätigen, wird immer davon überzeugt sein, dass er richtig liegt. Aber das sind systematische Probleme, die man nicht in zwei Sätzen beheben kann. Hier müsste man eigentlich nachschulen. Das ist bei diesem Werk aber gar nicht notwendig, denn auch Privatgelehrte und ihre Fans haben ihren Platz in dieser Gesellschaft. Nur sollte man solche Texte nicht mit Sachbuch- oder gar Fachbuchliteratur verwechseln. Es sind Fleißarbeiten, aus Unkenntnis methodisch schlecht gemacht, dafür umfangreich und meinungsstark. Man kann sie jemandem schenken, den so etwas freut. Für alle anderen sind sie nicht der Rede wert. (Die Zeit)
Hier wird glaube ich alles zu Sarrazin gesagt, was man sagen muss. Der Mann hält sich für einen public intellectual, aber er ist vor allem ein Amateur. Darin erinnert er mich an Schulze Rohndorf, dessen wirre Thesen ich in einem Artikel auseinandergenommen habe. Es ist der gleiche Mechanismus: Ohne die methodischen Kenntnisse wird irgendwas gelesen, mit den eigenen Vorurteilen auf Linie gebracht und zusammengemischt. Dass dieser ganze Quatsch dann ernsthaft besprochen wird, statt wie bei Schulze Rohndorf in feiner Gesellschaft ignoriert zu werden, ist die ganze Tragik Sarrazins.