Montag, 1. März 2010

Buchbesprechung: Detlef Gürtler - Wir sind Elite

Von Stefan Sasse

„Elite“ beschäftigte die Bildungsdebatten in der ganzen „Bildungsrepublik Deutschland“ als Nebenprodukt der Ära der Agenda2010. Landein, landaus erschallte die Forderung, dass Eliten mehr gefördert werden sollten, dass es gar „neue“ Eliten brauchte, mit denen sich Deutschland dem ja immer schärfer werdenden internationalen Wettbewerbsdruck stellen könne – wir kennen den Tenor. Detlef Gürtler hat sich in seinem Buch „Wir sind Elite“ mit durchaus ironischem Unterton der Problematik der Förderung gestellt.

Zu diesem Zweck teilt er sein Buch in mehrere Kapitel ein, in denen er sich verschiedenen Problemstellungen zuwendet. Zuerst zeigt er auf, dass jedes Kind einzigartig (Kapitel 1) und speziell (Kapitel 2) ist. Daraus folgt, dass jedes Kind anders lernt, sich für andere Dinge interessiert und anders behandelt werden muss. Die angestrebte Wissensgesellschaft brauche diese Einzigartigkeit (Kapitel 3), weil Uniformität im Denken keine kreativen Ergebnisse mit sich bringt, die für eine Wissensgesellschaft notwendig wären – ganz im Gegensatz zu einer Industriegesellschaft, wo eine Uniformität des Denkens und Handelns geradezu notwendig war.
Deswegen, so konstatiert Gürtler, wird Lernen zur Lebensaufgabe – und Lehren auch (Kapitel 4). Der erste Teil dieser Schlussfolgerung ist ebenfalls geläufiges Debattenthema, die Implikationen der Zweiten dagegen sind oftmals ignoriert oder zumindest missverstanden, denn wenn jeder lernt muss irgendwo auch jeder lehren. Spätestens hier bemerkt der Leser, dass Gürtler auf ungewohnten Pfaden argumentiert. Das bereitet auf den Schock in Kapitel 5 etwas besser vor.
In diesem behauptet Gürtler nämlich nicht nur, dass Schulen eine gleichmacherische Tendenz hätten, sondern er befürwortet dies ausdrücklich und fordert durch die Einführung von Ganztagsschulen diesen gleichmacherischen Effekt noch zu verstärken. Damit liegt er so quer zur Debatte, dass es schmerzt. Wohltuend schmerzt. Gürtler zeigt auf, dass die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Lernerfolg besonders in den Sommerferien deutlich wird: die Leistungskurve von Kindern aus sozial schwachen Haushalten sinkt nach den Schulferien signifikant stärker ab als bei „reichen“ Kindern. Auch auf einer täglichen Basis lässt sich dieses Phänomen beobachten, das in Ländern mit Ganztagsschulen wie Frankreich oder den USA deutlich weniger ausgeprägt ist.
Doch damit ist Gürtler noch lange nicht am Ende, er legt erst richtig los. Er fordert tatsächlich die Bildung einer Elite, aber keiner Elite in die Höhe, sondern einer Elite in die Breite. Das Ziel des Bildungssystems solle es nicht sein, eine Handvoll extrem guter Schüler zu produzieren, sondern sehr viele gute Absolventen. Dazu ruft er in Kapitel 10 Humboldt 2.0 aus, eine breit angelegte Bildungsoffensive. In Kapitel 11 zeigt er dem Leser auf, wie wichtig es ist, Schüler nicht zu demotivieren indem man auf eine „Friss oder Stirb“-Mentalität setzt, die nur die Besten vorankommen und den Rest versauern lässt. In Kapitel 12 verwirft er mit großer Verve die Idee, dass die Schule für den Beruf ausbilden solle, oder die Einführung eines Schulfaches „Wirtschaft“. Überschrieben ist es mit „It’s not the economy, stupid“, in Abwandlung an das berühmte Wahlkampfmotto Clintons. Die letzten fünf Kapitel befassen sich dann damit, was man anders machen könnte und wie dies umgesetzt werden könnte.

Gürtlers Gedanken sind wahrlich bahnbrechend. Sie stellen die Debatte völlig auf den Kopf, und der große Charme dabei ist, dass alles was er sagt von großer Klugheit ist und dem Leser eigentlich kaum eine andere Möglichkeit gibt als zuzustimmen. Seine Gedanken sollten Eingang in die Debatte finden, denn sie sind wichtig und von größerem Sinn als vieles von dem, was in der Entwicklung zur „Bildungsrepublik“ so vom Stapel gelassen wird. Kaufen!

8 Kommentare:

  1. @Stefan Sasse

    Danke für den Tipp, werde ihn mir merken, und mir das Buch bei Gelegenheit einmal besorgen. Was "Wir sind Elite" angeht, da habe ich eigentlich - als 70er - immer in Erinnerung, dass der Begriff "Elite" in Deutschland eigentlich für immer vorbei sein sollte. Grund? "Wir sind eine furchtbare Elite...." (Zitat: Heinrich Himmler).

    Die Nazis förderten die "Elite" unter den Deutschen, nämlich die SS bzw. NS-Mörderbanden, und seither war der Begriff "Elite" in Deutschland eigentlich tot.

    Dank Neoliberalen erlebt dieser Begriff eine Wiederbelebung, die auf eine ähnliche Tendenz hinausläuft - Frei nach dem Motto der "Neuen SS" - der FDP - "Wir sind eine furchtbare" Elite....

    Sorry für meine dunklen Gedankengänge, aber ich seh es leider so, wenn ich die neoliberalen Phrasendrescher in Deutschland von "Elite" reden höre, und hoffe, dass das Buch von Gürtler sich davon wohltuend abhebt ;-)

    Gruß
    Bernie

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  2. Spricht es jetzt für mich oder gegen Gürtler, dass ich das eigentlich schon seit Jahren so sehe?

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  3. „It’s not the economy, stupid“

    Herrlicher Aufdruck für ein T-Shirt :)

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  4. Nur als kleiner Hinweis.
    Dieser Detlef Gürtler brachte 2003 ein tolles Buch auf den Markt Titel: VORBILD DEUTSCHLAND

    Against the mainstream!

    Wenn man bedenkt, welch Geist im Jahre der absoluten Reformen hier im Lande herrschte, dann läßt sich erkennen, wie wichtig damals das Buch war, gewesen wäre und auch noch heute ist.

    Nur 2003 fand es wenig Beachtung, so wie es in der Jetztzeit nicht anders sein wird.

    Schade!

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  5. Vielen Dank für den Hinweis auf dieses Buch.
    Einige Anmerkungen (ich habe es natürlich noch nicht gelesen):
    - Die Forderung, Schule solle nicht auf den Beruf vorbereiten freut mich; endlich mal wieder jemand, der Bildung als Wert an sich denkt.
    - Ein Unterrichtsfach "Wirtschaft" (als kritische Betrachtung und mit Darstellung von Alternativen zum real existierenden Kapitalismus) fände ich Wünschenswert.
    - Ein gutes Schulsystem sorgt dafür, dass möglichst viele sehr gut ausgebildet sind. Die "Produktion" einiger extrem guter Absolventen scheint mir aber auch wünschenswert.

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  6. @anonym: Das mit der wenigen Beachtung kann sich noch ändern. Inzwischen gibt`s Vorbild Deutschland nämlich auch als kostenlosen Download:
    http://www.detlef-guertler.de/Detlef_Guertler_Vorbild_Deutschland.pdf
    @Stefan Sasse: Danke unbekannterweise.

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  7. Oh, ich danke! :) Danken Sie auch dem Verlag, der das Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. ;)

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  8. Schon wieder 'Elite'!

    Da war es bei mir mal wieder Zeit für eine Begriffsbestimmung.
    Die verschiedenen Aspekte des Elitebegriffes
    werden hier sehr gut dargestellt:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Elite

    Der Absatz: http://de.wikipedia.org/wiki/Elite#Eliten_in_Deutschland
    verdient im Zusammenhang mit der Rezension durch seine kritische, Schein und Sein beleuchtende Darstellung besondere Beachtung.

    FG Anonym

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