meine these zur #pisa -bildungslücke: deutsch als kultursprache hat keine angesehene & eingeübte "mittlere" sprachebene wie "plain english".
— Martin Lindner (@martinlindner) 3. Dezember 2013
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Stefan Sasse: Martin, wie kommst du zu dieser doch etwas ungewöhnlichen Einschätzung? Martin Lindner: Es ist mir schlicht aufgefallen, als jemand, der sich sein Leben lang mit deutscher Sprache herumschlägt: als habilitierter Literaturwissenschaftler, als gelegentlicher Publizist, sogar früher mal als sehr gelegentlicher Werbetexter und auch, noch früher, als Songtextschreiber: "Mag sein, daß deutsch bald eine tote Sprache ist. Man kann sie so schlecht singen, man muß in dieser Sprache meistens immerzu denken." (Der Dichter R.D. Brinkmann, 1975) Inzwischen geht das Singen deutlich besser, nach jahrzehntelangem Training, aber trotzdem: der deutschen Schriftsprache haftet, als Ganzes betrachtet, immer noch etwas Umständliches, Kanzleihaftes, Abstraktes, sozial nach unten Sich-Abgrenzendes an. Sehr deutlich wurde mir das, als ich um 2003 die angelsächsische “Blogosphäre” entdeckte: Dort in den Blogs gab es sehr viel mehr klare, entspannte, unverkünstelte, aber zugleich sehr intelligente und auch komplexe Texte, als ich jemals auf Deutsch gesehen hatte. Ich habe den Eindruck, dass dort ein an mündlicher Rhetorik geschulter, einfacher und klarer Stil kulturell trainiert und gepflegt wird. Er steht quasi zur Verfügung. Im Deutschen scheint da ein Register zu fehlen: Entweder abgehoben und betont schriftlich oder schlunzige Berufsjugendlichensprache mit scheußlichen Rückkopplungseffekten (aktuellstes Beispiel: die Piraten!) - dazwischen gibt es wenig. Auch bei uns sieht man, dass Bloggen hilft, weil es eine ganz neue Form zwischen “Publikation” und mündlicher Sprache auf Augenhöhe etabliert, aber insgesamt gibt es hier sehr viel weniger Leute mit einem eigenen, sicheren Ton. Und jetzt, anlässlich der PISA-Diskussion, habe ich mich eben gefragt, ob das nicht sehr stark die spezifisch deutschen Bildungserfahrungen prägen muss: Ist es hier besonders schwer für Jugendliche ohne “Bildungshintergrund”, eine eigene Schriftsprache zu finden, in der sie sich kompetent fühlen und zugleich auf Augenhöhe in Diskussionen usw.eingreifen, öffentlich mitdenken können? Ich habe den subjektiven Eindruck, dass man hier auch SchülerInnen noch oft die Unsicherheit oder das verquälte Suchen nach Eindruck schindenden Formeln anmerkt. (Man müsste mal Deutschlehrer von heute fragen, etwa @herrlarbig.) Stefan Sasse: Nun, da kann ich dir gleich zwei persönliche Anekdoten dazu geben: zum Einen fällt es mir (als Deutschem und Deutschlehrer!) leichter, auf Englisch zu bloggen (auf Nerdstream), und ein deutsches Blog über Popkultur war praktisch unvorstellbar, von Anfang an. Und zum Zweiten haben die Schüler tatsächlich massiv Ehrfurcht vor allen, die diesen Duktus beherrschen, und fühlen sich dadurch minderwertig. Nach elf Semestern hatte ich das Deutsch-Studium und den Habitus der Fakultät mehr als satt. - Aber ich schweife ab. Heißt das dann, dass wir quasi das Denken, Sprechen und Schreiben an den Universitäten und Schulen ändern müssen? Weg von einer formelhaften, komplexen und möglicherweise präzisen, aber schwer zugänglichen Sprache? Martin Lindner: Kurz gesagt: Ja. Ich bin eigentlich sicher, dass das nötig ist. (Mir selbst ging es übrigens ähnlich mit dem selbst Englisch schreiben, auch ich hatte da ein viel klareres Gefühl. Aber auch umgekehrt: Ich ertappe mich immer noch dabei, wie ich grauenhafte deutsche Sätze schreibe, wenn es “Paper” oder “Reports” o.ä. werden sollen.) Ich habe mal Alexander Lasch (Linguist in Kiel) gefragt, ob es einen deutschen “plain & simple” Wortschatz gibt, weil er sich um “leichte Sprache” kümmert. (Was nicht dasselbe ist, natürlich.) Aber es kam nicht viel dabei heraus. Es gibt wohl “Wortschätze” (wie die 10.000 häufigsten Wörter des Deutschen) für Deutsch-als-Fremdsprache-Lernende: Auf dieser Grundlage könnte man Leuten (nicht nur) mit Migrationshintergrund gutes, klares, einfaches Deutsch beibringen. Und daneben natürlich bloggen. Ganz viel bloggen. Stefan Sasse: Ich wurde im Referendariat immer dafür kritisiert, dass ich zu umgangssprachlich sei. “Seien Sie sprachlich ein Vorbild”, hieß es. Ich weiß nicht, ob das für die anderen Sekundarschulen auch gilt, aber das Gymnasium sieht sich immer noch als Bastion deutschen Kulturguts, und das ist ja bekanntlich in perfektem Hochdeutsch geschrieben. Anders als Bloggen, was man den Schülern ja auch schlecht befehlen kann: gibt es denn für dich dann andere Pfade, die man als Lehrer beschreiten sollte? Eventuell auch wo möglich andere Lektüren als die verstaubten Klassiker wählen, für deren Verständnis der Duden stets bereit liegen sollte? Martin Lindner: Hm, da müsste ich meine Tochter (16) fragen, die ganz ausgezeichnet schreibt, von Anfang an, viel besser und sicherer als ich in dem Alter. (Ich musste mir das noch regelrecht erkämpfen, mit ständigen Popkultur-Injektionen.) So weit ich das mitbekomme, sind aber Klassenlektüren in der Regel auch nicht richtig prägend … Irgendeine Form von Schriftlichkeit, die schnell und ohne großen Perfektionsdruck geht, aber nicht-privat ist (keine mündlich-schlunzige Form, kein Chat-Ton), sondern “wie gedruckt” wirkt. Vielleicht kollektives Meso-Blogging, also so was wie tumblr, irgendwelche Fundstücke sammeln und mit kurzen Kommentaren der ganzen Welt präsentieren, jeweils drei bis fünf Sätze. Und viel lesen, aber was, wenn nicht gute Blogs, die sie interessieren (und woher soll man die nehmen)? Vielleicht die SchülerInnen Blog-Texte zu persönlichen Interessen suchen lassen und die dann jeweils gemeinsam umschreiben? Stefan Sasse: Prägende Lektüre von Schillers “Die Räuber” ist eher unwahrscheinlich, ja. Ich muss allerdings zugeben, dass dich nicht weiß, was Meso-Blogging ist. Kannst du das genauer ausführen? Gerade auch in Hinblick darauf, wie es eine neue Mittlere Bildungssprache schaffen könnte? Martin Lindner: Zwischen den “richtigen” Blogs mit für sich stehenden Texten (mit Überschrift und zwischen ca. 3 - 9 Paragraphen) und dem “Microblogging”, also die 140 Zeichen von Twitter und alles, was sich daran orientiert, bildete sich vor allem durch die besonders einfache und intuitive Blog-Plattform tumblr eine Art Mittelding (= meso) heraus: Es werden dort sehr viele Bilder gepostet (in der Regel Fundstücke aus dem Netz), und die Texte beziehen sich in der Regel auf ein “Fundstück”. Das kann auch ein griffiges Zitat sein, der Link zu einer Veranstaltung, zu einem Film usw. Diese Texte stehen also nicht für sich, was den Writer’s Block umgeht, und sind eben eher kurz: ein Paragraph oder höchstens zwei, also ca. drei bis fünf Sätze. Kurze Kommentare und Bemerkungen, aber dennoch eben im Kern bereits “Veröffentlichungen”, keine quasi-mündlichen “Botschaften”. Tumblr ist in den USA unter Teens und Twens sehr erfolgreich, während diese Altersgruppen eher nicht bloggen. Statt tumblr könnte man auch Wordpress nehmen und mit einem tumbleblog-theme versehen. Das läuft auch auf Kumist-Servern. Stefan Sasse: Ich verstehe. Das klingt sinnvoll; gleichwohl steht dem zumindest hier in Baden-Württemberg natürlich gleich wieder das Schulrecht entgegen, denn das Kultusministerium verbietet genau das explizit. Aber ein anderes Thema: du hast in deinen Tweets auch erwähnt, dass die Findung dieser “Mittelsprache” dazu beitragen könnte, die shortcomings mittelmäßiger Leser aufzufangen, da nur 8,7% der Lehrer “gut” seien. Der Zusammenhang erschließt sich mir nicht auf den ersten Blick. Martin Lindner: Das war ein anderer Tweet-Strang, da ging es um den stereotypen Ruf nach “guten Lehrern”, worunter man sich dann diese faszinierenden, enthusiastischen, humorvollen, mit natürlicher Autorität ausgestatteten Rampensäue vorstellt, die Didaktik im Blut und alles im Griff, die dazu noch jedem Schüler und Schülerin ins Herz schauen. Wenn es solche LehrerInnen tatsächlich gibt, dann sind das sehr Wenige. Ich habe mal die Lindner’sche Konstante aufgestellt: Die Anzahl der “guten Lehrer” in einem Kollegium ist nie höher als 8,7% (und auch die funktionieren nur für bestimmte Schüler, fast nie für alle, btw). 50% sind hoffnungslose Fälle. Als müsste sich die Verbesserung der Schule darauf konzentrieren, für die anderen 41,3% Bedingungen zu schaffen, unter denen sie eine fruchtbare und konstruktive Rolle spielen können. Aber das hat jetzt mit der Mittelsprache nicht direkt zu tun. Stefan Sasse: Ok, ich hatte da einen Zusammenhang hergestellt. Im Grundproblem stimme ich dir aber definitiv zu; die Bedingungen sind eher auf eine dünne Elite ausgelegt als auf die breite Masse. Kommen wir zurück zu der Schaffung einer neuen, mittleren Schriftsprache (denn das ist ja der relevante Teil dabei). Denkst du, der zunehmende Einfluss der Popkultur könnte da auch einen bewegenden Effekt haben, wenn sie endlich in den Schulen ankommt? Wenn wenigstens der Referenzrahmen bekannter ist als bei den eher klassischen Texten, könnte das ja vielleicht zu einem ungehemmteren Umgang mit der Sprache führen. Martin Lindner: Die große Zeit der Popkultur war doch in den 1990ern … Damals war ja “Popliteratur” und eine damit verbundene Schreibweise mal kurze Zeit relativ populär (sic!). Wie ist das heute? Am ehesten wiederum Blogs, denke ich: Fashion-Blogs; Blogs zu Filmen, Fernsehserien, Büchern; Blogs zu Death Metal Bands; Nerd-Blogs über Games, Gadgets, wasweißich. Da wird tatsächlich von Fans drauflosgeschrieben. Ich denke, da besteht die Chance, dass die Leute sowas lesen. Man könnte sie das erst sammeln lassen, und dann eben umarbeiten, aber das sagte ich ja schon. Überhaupt: “Ins Netz Schreiben lernen” als eine eigene Lehr-/Lern-Einheit betrachten. Da könnte es auch einen MOOC dazu geben ... Stefan Sasse: Das wäre in der Tat eine Möglichkeit. Die Realität ist allerdings ja noch die, dass zumindest das Gymnasium ganz massiv das Beherrschen der Bildungssprache trainiert, die spätestens an den Universitäten unverzichtbar ist. Hat diese Bildungs-Hochsprache an den Schulen überhaupt eine Berechtigung, oder sollte sie nicht auf die akademischen Zirkel beschränkt bleiben und auf den Restbestand der Humanistischen Gymnasien? Martin Lindner: Ich glaube, dass die Bildungs-Hochsprache ganz grundsätzlich nicht Maßstab für den Erwerb von Sprachkompetenz sein sollte. Das kann nur zu Hochstapelei und Unsicherheit führen. Was wäre auch der heute aktuelle Maßstab dafür? Schirrmacher oder der Redenschreiber des Bundespräsidenten? Auch die Verständigung der Wissenschaftler und Intellektuellen tendiert allmählich zu einer “mittleren Sprache”, scheint mir. Vor kurzem habe ich eine Rede von Sascha Lobo gehört, die thematisch und im Grad der Ernsthaftigkeit ungefähr dem entspricht, was früher ein Richard von Weizsäcker vertreten hätte. Diese gerade entstehende mittlere Sprache auf hohem Niveau sollte eigentlich künftig der Maßstab sein. Daraus lassen sich dann vielleicht Curricula ableiten, die einen erweiterten Basiswortschatz trainieren, und einfache, aber nicht primitive Satzkonstruktionen. Inzwischen habe ich übrigens meine Tochter gefragt, aber die hatte auch nichts anderes zu bieten als ihre Deutschlehrer: “Mehr Zeitung lesen”, “Mehr Bücher lesen” - “Sie lesen alle viel zu wenig”. Stefan Sasse: Der Kern ist sicher nicht falsch - es ist das Lesen von Zeitungsartikeln aus Niveau-Blättern, die das Sprachverständnis dieser Bildungshochsprache wie sonst fast nichts trainieren, mit Bücherlesen knapp hintendrein. Die Frage scheint ja auch mehr zu sein, ob man das überhaupt will - und die Mehrheit der Jugendlichen zumindest beantwortet das mit einem klaren “Nein”. Denkst du, dass hier ein Blick über den Großen Teich hilfreich sein kann, wo diese Entwicklung ja bereits längst eingesetzt und etwa Leute wie Sascha Lobo beeinflusst hat? Martin Lindner: Mir kommt eben vor, und da sind wir wieder am Anfang, dass auch die Niveau-Blätter dort viel verständlicher und direkter schreiben: sagen wir Tom Friedman, Leitartikler der NYT, oder Paul Krugman, Wirtschaftsnobelpreisträger, Blogger und ebenfalls NYT-Kolumnist, usw. Der Unterschied zu den Blogs ist da gar nicht groß, weil die amerikanische Sprache historisch immer “non nonsense” und nicht-elitär sein wollte. Das üben die auch in den Journalismus-Handbüchern. Und ich glaube, dass die Debattenkultur an den Hochschulen auch in diese Richtung wirkt. Stefan Sasse: Stimmt, die Debattenkultur ist ein guter Stichpunkt. Deutsche Schüler wissen mit dem Format überhaupt nichts anzufangen. Sollten wir das mehr einführen, um auch mündlich auf dieses Ziel zu kommen? Martin Lindner: Das könnte ein Weg sein. Die “mittlere Schriftsprache” ist ja zugleich “mündlicher”. Man könnte also mündliche argumentative Sprache einüben und das dann etwa mit Video-Aufnahmen zu multimedialen “Texten” machen. (Genau das passiert ja im Web vielfach.) Diese Videos könnte man transkribieren und so an einer persönlichen Schriftsprache feilen, die dem Mündlichen nah ist. Jede/r SchülerIn sollte eigentlich so etwas wie “den eigenen Ton finden”. Wenn der sehr einfach ist, dann ist das eben so. Stefan Sasse: Das klingt doch nach einem Projekt! Vorschlag für die erste Klasse: Spitzenpolitiker und Journalisten. Martin Lindner, Dr. phil. habil., hat sich 20 jahre lang an der Uni mit Literatur- und Medienwissenschaft beschäftigt. 1999 ist er mit dem ersten iMac ins World Wide Web gegangen, weil das auf einmal als Kulturtechnik auch Leuten zugänglich wurde, die nur an Buchstaben interessiert sind. Seitdem berät er Unternehmen und Organisationen dabei, wie sie Wissens- und Lernprozesse mit den Mitteln des Web neu gestalten können, und äußert sich als Publizist und Redner zum "Digitalen Klimawandel". Mehr zum Thema.
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