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Im Zusammenhang mit der Großen Koalition ist gerade vor allem der Paragraph 38 wieder auf der Tagesordnung, der das "freie Mandat" des Abgeordneten betrifft, das in direktem Konflikt mit dem in der BRD seit ihren Anfangstagen geübten, nirgendwo gesetzlich geregelten "Fraktionszwang" zu stehen scheint. Beispielhaft findet sich das bei den NachDenkSeiten:
Auf einen Punkt im Koalitionsvertrag lohnt es sich auch noch hinzuweisen, weil er für alle jene, die hofften, dass bei einer 80-Prozent-Mehrheit wenigstens die Debatten innerhalb der Regierungsparteien offener sein könnten, eine Enttäuschung sein muss. Einem freien Mandat spottend (Abgeordnete sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 Abs. 1 GG)) wurde im Koalitionsvertrag festgeschrieben: „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“ Man könnte also den größten Teil der 504 Abgeordneten (311 von CDU/CSU, 193 von SPD) gleich in Urlaub schicken und nur noch ihre Fraktionsspitzen beibehalten, die dann jeweils für die Gesamtfraktionen entscheiden. Die Oppositionsparteien mit zusammen 127 Sitzen im Bundestag haben – im Wortsinne – ohnehin kaum noch (die Zeit um) etwas zu sagen.
Auch Kommentator In Dubio hier im Blog kann sich überhaupt nicht mit dem Fraktionszwang anfreunden:
Das Grundgesetz benennt klar die Rolle, die Abgeordnete haben. Weder in den Normen für den Bundestag noch für die Bundesregierung taucht der Begriff “Partei” auf.
Wer unterschreibt eigentlich den Koalitionsvertrag? Die Parteiführung kann es doch gar nicht! In der Praxis tut sie das zwar häufiger, aber schon das ist ein Minenfeld. Nun geht die SPD jedoch weiter, die Mitglieder sollen über die Rolle bestimmen, die Abgeordnete mit ihrem Parteibuch übernehmen sollen: Regierung oder Opposition. Gabriel & Co. haben ganz klar gesagt, sie wollen die Zusammenarbeit mit der Union. Das ist der Wille freier Parlamentarier. Ein Mitgliedervotum kann diesen freien Willen in das Gegenteil verkehren. Eigentlich absurd.
Koalitionsverträge sind Absichtserklärungen, wie die Abgeordneten der Regierungsseite in der Legislatur zusammenarbeiten wollen. Er bildet die Grundlage für Gesetzesinitiativen, welche der Bundestag – nicht das Kabinett! – am Ende verabschiedet. Unter diesen Aspekten nicht zumindest einen grundsätzlichen Konflikt zu sehen, ist schon arg nonchalant.
Und wenn deine wolkige Behauptung von vorher stimmt, dass ein Mandatsträger sich magisch von seiner Partei löst und dann “dem ganzen Volk” dient (wie auch immer das gegen soll, ich halte die Theorie für Quatsch) (..).
Die Folgen dieses “Quatsches”, wie Du es nennt, haben schon einige Politiker zu spüren bekommen. Zuletzt z.B. Guido Westerwelle, der zu lange benötigt hat, sich von der Rolle des oppositionellen Parteipolitikers zu lösen und Diener des Staates zu werden. Gerade die Deutschen haben wenig Verständnis für ihre politische Vertretung, wenn diese nur ihr eigenes Süppchen kocht. Da verwundert es nicht, dass es in der Vergangenheit so wenigen Parteien gelungen ist, in die politische Phalanx des Deutschen Bundestages einzubrechen. Der deutsche Souverän wägt außerordentlich sorgsam.
P.S.: Die Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung darf nicht so weit gehen, dass sich das repräsentative zu einem imperativen Mandat wandelt. Auch das hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen klargestellt.
Bevor ich auf den Fehler dieser Interpretation komme, vorweg ein kurzer Kommentar: der Fraktionszwang ist im deutschen politischen System ein unbedingtes Muss. Ohne ihn wäre eine politische Arbeit im Bundestag ein Ding der Unmöglichkeit. Dies gilt im Übrigen für jedes Parlament, selbst solche, in denen die Abgeordneten dank eines direkten Mehrheitwahlrechts eine wesentlich stärker legitimierte individuelle Stellung haben, etwa in den USA. Dort gibt es im Kongres die Funktion der so genannten "Whip" (Peitsche), deren Aufgabe es ist, die Abgeordneten auf Linie zu bringen. Wäre ein so essentielles und von Anfang an verwendetes Mittel wie der Fraktionszwang tatsächlich grundgesetzwidrig, wäre er längst vom BVerfG einkassiert worden beziehungsweise hätten die Parteien ihn längst explizit ins Grundgesetz geschrieben. Artikel 38 unterliegt ohnehin keiner Ewigkeitsgarantie.
Mit diesem Caveat nun direkt zur Interpretationsproblematik des Grundgesetzes. Oftmals wird der Fehler irgendwelcher evangelikaler Gruppen gemacht, die Schrift wörtlich zu nehmen und direkt anzuwenden. Dabei ist die Funktion des Grundgesetzes aber nicht, irgendwelche alltäglichen Details zu regeln. Das Grundgesetz legt Prinzipien des Staates fest und legitimiert diesen in seinen Handlungen. Die Details zum Ablauf finden sich dann in den wesentlich umfangreicheren Bundes- und Landesgesetzen. Das ist ja auch der Grund, warum die Kontrolle über ein Ministerium so bedeutsam ist - die Leute dort legen die Details fest, die Gesetzestexten folgen. Daraus ergibt sich folgende Prioritätenleiter:
Grundgesetz = Grobe Richtlinien
Bundes- und Landesgesetze = Richtlinien
Ausführungsbestimmungen der Ministerien = The real shit
Ein Grundgesetzparagraph wie der Artikel 38 legt daher ein legitimatorisches Grundprinzip fest. Der Abgeordnete ist frei gewählt und in seinen Abstimmungen ebenfalls frei. Niemand kann ihn oder sie zwingen, entgegen dem Gewissen zu handeln. Wie passt da der Koalitionszwang hinein? Ganz einfach: niemand zwingt Leute, in eine Partei zu gehen. Dass es in der Realität kaum eine andere Chance gibt, in den Bundestag zu gehen, spielt für dieses Argument keine Rolle. Das Grundgesetz weist den Parteien diese Funktion ausdrücklich zu. Wenn ein Abgeordneter sich also nicht dem Fraktionszwang unterwerfen will, muss er das auch nicht tun. Ihm oder ihr bleiben zwei Möglichkeiten: der Rücktritt vom Mandat oder der Austritt aus der Partei. Im ersteren Falle rückt automatisch ein Stellvertretender nach, im zweiteren Fall ist der Abgeordnete ab sofort parteilos (und seine oder ihre Karriere aller Wahrscheinlichkeit nach beendet). Aber genau das ist eben das Problem mit Gewissensfragen: sie sind selten leicht und haben meist schwerwiegende Konsequenzen. Wäre das nicht so, wäre der Bundestag völlig handlungsunfähig, weil ständig irgendwelche Abgeordneten unter Berufung aufs eigene Gewissen die Abstimmungen torpedieren würden.
Ist das noch demokratisch? Laut Grundgesetz absolut. Aber dem gegenteiligen Eindruck vieler Zeitgenossen liegt ein weiteres, fast noch schwerwiegenderes Missverständnis zugrunde. Sie verstehen schlichtweg nicht, wie ein Parlament arbeitet. In der Idealvorstellung sitzen dort rund 600 Leute, die in einer angeregten Debatte den bestmöglichen Kurs für das Land festlegen (was auch zu den völlig sinnlosen Forderungen führt, die Anwesenheitszeiten und Abstimmungsquoten der Parlamentarier zu erhöhen). In der Realität aber sind die verhandelten Aspekte viel zu komplex und umfangreich, als dass jeder Abgeordnete die Anträge auch nur lesen, geschweige denn verstehen könnte, selbst wenn man 24 Stunden tägliche Arbeitszeit veranschlagt. Eine Arbeitsaufteilung ist daher unbedingt notwendig, wenn das Parlament nicht nur irgendwelche Bauchentscheidungen oder von äußeren Einflüssen beeinflusste Entscheidungen treffen soll.
Von all dem steht im Grundgesetz nichts, und darüber muss auch im Grundgesetz nichts stehen. Das Grundgesetz gibt den Abgeordneten die Sicherheit, dass sie niemand zu einer Stimmabgabe zwingen kann und ermöglicht es ihnen, die Regeln ihrer Arbeit selbst festzulegen, wie sie notwendig sind, solange darüber andere Werte des Grundgesetzes nicht verletzt werden. Und das ist beim Fraktionszwang schlicht nicht der Fall. Eine Koalition und ein Koalitionsvertrag wären ohne eine Abmachung, dass die Fraktionen die Mehrheiten nicht wechseln vollkommen unnötig. Die reine Größe der Mehrheit hat damit wenig zu tun. Die Forderung, den Fraktionszwang aufzuheben, ist eine Kampfansage an unser komplettes politisches System. Das kann man machen, und man wird danach ein anderes Parlament haben, das nach völlig anderen Regeln funktioniert (und wohl auch gewählt wird). Ob das dann besser ist, wage ich zumindest zu bezweifeln. Das Beispiel der USA sollte uns stets eine Warnung sein. So schlecht ist unser System nämlich wahrlich nicht.
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