Frenzel: Jetzt könnte ich Sie verstehen, wenn wir zum Beispiel in Norwegen wären. Da kommen, ich hab da mal Zahlen rausgeholt, auf jeden PC 2,4 Schüler. In Deutschland sind es elf Schüler, die auf einen Rechner kommen. Sind wir nicht ganz schön weit weg von einer Situation, wie Sie sie gerade an die Wand malen? Kraus: Also, ich lasse mich nicht blenden von irgendwelchen Quoten oder Zahlen. Es hat mir bislang noch niemand nachweisen können, dass eine Totaldigitalisierung des Unterrichts beziehungsweise eine Eins-zu-eins-Computer-und-Tabletversorgungsrate für Schüler den Schülern wirklich etwas bringt und dass die beispielsweise in Leistungstests besser abschneiden würden. Den Beweis, den möchte ich erst mal sehen. Ich sehe nach wie vor, bis zum Beweis des Gegenteils, eine ganze Reihe an möglichen Kollateralschäden, wenn wir Unterricht total digitalisieren. Frenzel: Wie sehen die aus, diese Schäden? Kraus: Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Kinder ohnehin durch die Neuen Medien dazu neigen, sich nur noch Häppchen-Informationen zu holen, dass die Ausdauer, das Durchhaltevermögen, dass das Konzentrationsvermögen leidet und das, was man mit dem Laptop unterrichtlich oder auch zu Hause recherchierend bearbeitet, eher ein bisschen an der Oberfläche bleibt. Schule braucht auch Durchhaltevermögen, braucht das Konzentrative, das Besinnliche, das Meditative. Ich glaube, das wird durch eine totale Digitalisierung, wenn alle sechs oder acht Unterrichtsstunden am Tag nur noch mit Tablets zu tun haben, gefährdet."Ich lasse mich nicht blenden von irgendwelchen Quoten und Zahlen", "Ich habe den Eindruck", "Ich glaube" - nichts von alledem basiert auf irgendeiner Art von Faktenbasis. Das ist symptomatisch.
Im Übrigen will ich gleich sagen, dass Kraus natürlich Recht hat wenn er sagt, dass die Gegenseite keinen positiven Effekt beweisen kann - entsprechende (belastbare) Studien wären mir bisher auch nicht bekannt. Ich will an dieser Stelle auch gar nicht die Debatte über Sinn und Unsinn von Computern und Tablets in deutschen Klassenzimmern führen. Worum es mir geht ist der faszinierend luftleere Raum, in dem sich diese Diskussion abspielt. Solche Meinungen können Leute ja haben, und ich habe selbst auch genug davon, aber sollte man nicht erwarten, dass jemand, der das Ganze beruflich macht, wenigstens ein bisschen Datenbasis hat? Das gleiche Phänomen finden wir in der Politik generell (und ich wette ein paar Cent darauf dass die großen Entscheidungen in den Chefetagen der Unternehmen auch wesentlich öfter aus purem Bauchgefühl getroffen werden als die so rauslassen): Effekte werden einfach behauptet, Gefühle werden gennant ("Irgendwie finde ich die Digitalisierung, die in meinem Alltag keinerlei Rolle spielt, schon irgendwie komisch") und auf der Basis dann Politik gemacht oder auch nicht ("Breitbandausbau brauchen wir nicht, Mobilfunknetz tut's auch"). Und vom Journalismus, dessen ungehemmte Lust nach griffigen Narrativen ohne Faktenbasis sprichwörtlich ist will ich gar nicht anfangen. Wir sehen dasselbe übrigens auch in der Wirtschaftspolitik: während die Rechten behaupten, dass sozialstaatliche Absicherung Arbeitsanreize nimmt und dass Arbeitslosigkeit effektiv auf einem Tausch von Freizeit und Geld beruht, behaupten die Linken, dass genau dies nicht der Fall sei und sich alles durch einen selbsttragenden Aufschwung über steigende Binnennachfrage regeln lässt (jeweils stark vereinfacht). Eine echte Faktenbasis dafür hat keiner; argumentiert wird eher psychologisch mit angenommenen Verhaltensmustern. Es zeigt eher das Menschenbild des jeweiligen Diskutanten auf als dass es sich mit der eigentlichen Frage beschäftigt. Es wird wirklich Zeit, dass Entscheidungen auf etwas belastbareren Fundamenten getroffen werden als Instinkt und Gefühl, ganz besonders wenn es sich um die Instinkte von alten Männern handelt.
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