Donnerstag, 29. Oktober 2015

Die Kandidaten 2016: Jeb Bush

Als wir die Serie begonnen haben, hätte ich nicht damit gerechnet, dass ich irgendwann einmal Zeitdruck damit verspüren würde, Jeb Bush als Kandidaten zu analysieren. Ich habe selbst ziemlich selbstsicher die Prognose gewagt, dass er - sofern nicht eine größere Katastrophe dazwischen kommt - der republikanische Kandidat wird. Mit dieser Einschätzung stand ich nicht gerade allein. Im Frühsommer hatte Bush bereits über 100 Millionen Dollar an Wahlkampfspenden für seinen PAC "Right to Rise" eingesammelt und schien das republikanische Establishment in der Tasche zu haben. Nun, am Tag nach der dritten republikanischen TV-Debatte, sieht es eher so aus, als würde er bald denselben Weg gehen wie Scott Walker und seine Kandidatur noch lange vor dem offiziellen Beginn der primaries im Februar zurückziehen müssen. Gab es eine Katastrophe? Oder war Bush nur viel schwächer, als es immer den Anschein hatte?


Der Vergleich Bushs mit Walker drängt sich aus mehreren Gründen auf. Zusammen mit Rubio waren die beiden von vornherein die "ernsthaften" Kandidaten, die man sich tatsächlich - anders als die derzeit in Umfragen vorne liegenden Trump, Carson und Fiorina - im Wettstreit mit Hillary Clinton und im Weißen Haus vorstellen konnte. Und wenn es eine Formulierung gab, die in den Medien nach Scott Walkers Rückzieher in aller Munde war, dann die, dass er "auf dem Papier" stark gewesen war. Dasselbe gilt auch für Bush. Eigentlich sollte er stark sein. Er ist es nur nicht. Die Frage ist nur, warum.

Walker etwa schien die Unterstützung der konservativ-evangelikalen sicher in der Hand zu haben. Als Gouverneur hatte er immer eine konfrontative, an der reinen Lehre ausgerichtete Politik betrieben. Ebenso Bush - zu Anfang des Wahlkampfs verwies er gerne auf seine Zeit als Gouverneur von Florida, in der der großzügigen Gebrauch vom Veto machte, das Budget zusammenstrich und die Steuern kürzte. In einem normalen Wahlkampf unter Politikern würde es ihren Gegnern auch schwerfallen, sie auf dieser Seite zu flankieren. Nur kämpfen sie nicht nur gegen andere Politiker, wie etwa Ted Cruz, Chris Christie und John Kasich. Sie kämpfen gegen Außenseiter wie Trump und Carson. Und niemand, der auch nur annähernd versucht, an seine spätere Wirkung im Duell gegen Clinton zu denken, kann stärkere Aussagen machen als sie.

Denn Trump und Carson sind vor allem eins: Showdarsteller. Sie müssen sich nicht darum kümmern, ob ihre Aussagen von fact checkern gegengeprüft werden. Als Bush verkündete, dass seine Wirtschaftspolitik, wenn er Präsident werden würde, für 4% Wachstum pro Jahr sorgen würde gab es in den Medien Kritik daran, wurde ihm vorgeworfen, Fantasiezahlen zu verkünden. Bei Trump und Carson macht sich kaum jemand überhaupt die Mühe, ihre Aussagen zu überprüfen - sie sind so offensichtlich Blödsinn, dass man sie erst gar nicht ernst nimmt. Aber sie ziehen die entsprechende Aufmerksamkeit völlig auf sich und bedienen das Element des "Washington Outsider", des Nicht-Politischen. Genau das ist es, was die Wähler der Republicans gerade wollen. Einen radikalen Bruch, eine Entmachtung des Establishments. Und niemand verkörpert das Establishment so sehr wie Bush, der Darling der großen Spender und Parteieliten, der zwar zig Millionen von der Wallstreet bekommt, bei den Kleinspenden noch von Bobby Jindal überholt wird.

Dadurch hatte Bush von Anfang an deutlich weniger Wind in den Segeln. Es würde allerdings nur das Narrativ der Bush-Familie bestätigen, wenn man es bei dieser einfachen Beschreibung beließe. Ja, die Basis der Republicans ist gerade meilenweit davon entfernt, auch nur annähernd realistische Vorstellungen von ihren politischen Möglichkeiten zu haben. Aber es ist nicht so, dass diese Entwicklung wie aus heiterem Himmel über die Bushs kam. Die letzten beiden Präsidenten mit dem republikanischen Parteibuch hießen beide Bush. Es war von Anfang an offensichtlich, dass es zumindest ein wenig Widerstand von der Basis gegenüber der Idee geben würde, ausgerechnet den Bruder der beiden Präsidenten mit den niedrigsten Zustimmungswerten im letzten halben Jahrhundert zu nominieren. Nur war es vernünftig gewesen davon auszugehen, dass Bush eine Strategie für dieses Problem hätte.

Genau diese Annahme aber war offensichtlich falsch. Und ich muss zugeben dass mich das verblüfft. Wie kann jemand, der auf einen solchen kollektiven Erfahrungsschatz und so erfahrene Berater zurückblicken kann so unflexibel sein? Vor dem Eintritt Trumps in den Wahlkampf war Bushs Strategie eindeutig gewesen - und auch von ihm entsprechend formuliert: shock and awe hießt das Prinzip, in Anklang an die im Irakkrieg gewählte Strategie der US Army. Die gewaltige Überlegenheit Bushs in Wahlkampfspenden, in politischer Infrastruktur und in Insiderunterstützung sollte seine Konkurrenten noch vor der ersten Debatte in die Knie zwingen. Damals machte das Sinn: programmatisch passte und passt zwischen Rubio und Bush kaum ein Blatt Papier, und Bush hatte sämtliche Netzwerke und großen Spender und einen Haufen Erfahrung, die er gegen Rubio ausspielen konnte. Gegen Walker dagegen konnte er sich als moderate, vernünftige Alternative und bessere Wahl für die general election präsentieren. Alles sah gut aus, bis Trump, Carson und Fiorina als trio terribile die Rechnung durcheinander brachten. Plötzlich kämpften alle Kandidaten darum, in den Worten Mitt Romneys severely conservative zu sein. Das erklärt aber immer noch nicht, warum Rubio plötzlich als neuer GOP-Kronprinz im Rampenlicht steht.

An dieser Stelle kommen zwei Faktoren ins Spiel: Bushs kaum zu glaubende Schwäche bezüglich seines Familiennamens und seine Ähnlichkeit mit Hillary Clinton. Aber der Reihe nach.

Tatsächlich hatte sich Bush auf Angriffe vorbereitet, die ihn lediglich als Wurmfortsatz der Präsidentschaft seines Bruders George W. Bush betrachten. Seine Verteidigungslinie "I'm my own man" hätte sicher auch halten können. Nur ging er von falschen Voraussetzungen aus. Er dachte, der größte Nachteil der Präsidentschaft seines Bruders würde der Vorwurf von Familiendynstien und Vetternwirtschaft sein, wie ihn auch Clinton aushalten musste - die sich relativ gut von ihrem Mann absetzen konnte, was in Jeb Bushs Strategie ja auch vorgesehen war: auf Differenzen mit seinem Bruder angesprochen erklärte er immer, dass er wirklich (ganz bestimmt!) sparen werde und nicht wie Dabbelju mit neuen Sozialleistungen und teuren Kriegen das Defizit aufblasen würde. Gleichzeitig gab er die Schuld dafür dem eh unbeliebten Kongress, was ihn vom Vorwurf der Disloyalität befreite. So weit, so gut.

Nur hielten sich seine Gegner nicht ans Drehbuch. Offensichtlich hatte Jebs Wahlkampfplanung damit gerechnet, dass der Angriff von den Democrats kommen würde, aber die waren sich immer noch nicht sicher, ob sie Bush sein Versagen in Irak und Afghanistan wirklich vorwerfen konnten, vom offensichtlichen Problem des größten Terroranschlags aller Zeiten einmal ganz abgesehen. Bush spekulierte wohl darauf, dass es die Democrats wie seither nicht wagen würden, Dabbelju dieses Versagen vorzuwerfen, um sich nicht dem Vorwurf der Pietätslosigkeit auszusetzen. Eine vernünftige Rechnung, und die Democrats halten sich hier auch weiterhin zurück. Wozu sollten sie auch in eine Schlammschlacht einsteigen? Den Job hat ihnen Donald Trump abgenommen, dem man übermäßige Pietät noch nie vorwerfen konnte. Er wies darauf hin, dass Jebs Bruder nicht erst nach 9/11 Präsident wurde - Bushs Mantra "my brother kept us safe" wurde plötzlich von innen attackiert. Wäre es ein Democrat gewesen, Bush hätte nichts besseres passieren können, denn die Republicans hätten sich notgedrungen hinter ihm zur Verteidigung seines Bruders scharen müssen. Stattdessen traten sie taktvoll zur Seite, während Trump mit dem Instinkt des Bullies die Schwäche Bushs gnadenlos ausnutzte.

Und hier kommt Bushs Ähnlichkeit mit Hillary zum Tragen. Beide sind relativ alt. Beide stammen aus Politikerdynastien. Beide sind nicht gerade für übersprühenden Esprit bekannt. Beide sind Geschöpfe ihres Parteiestablishments. Nur, Hillary konnte (soweit) all diese Schwächen neutralisieren. Bush verstärkte sie alle. Seine Versuche, Trump Grenzen aufzuzeigen scheiterten jämmerlich in der Debatte, als sich Trump einfach rundheraus weigerte, sich zu entschuldigen. Jede kernige Aussage Bushs, jede persönliche Anekdote, jeder Scherz wirken peinlichst einstudiert und künstlich, noch schlimmer als bei Clinton. An dieser Stelle macht sich die Pause, die Bush seit seinem Ausscheiden aus dem Gouverneursamt 2007 machte, deutlich bemerkbar. Clinton hat wesentlich mehr Übung darin, diese Schwächen auszubügeln. Jeder öffentliche Auftritt Bushs verschärfte damit seine Probleme - und gleichzeitig gelang es Rubio zu glänzen. Er tat in Debatten und Interviews genau das, was man von Bush erwartet hätte.

Entsprechend sind Bushs Spenden nach unten gerauscht. Obwohl er im dritten Quartal 2015 immer noch rund 15 Millionen Dollar einfahren konnte, musste er sein Budget deutlich kürzen, Mitarbeiter entlassen, von Privatjets auf Linienflüge umsteigen und billigere Hotels buchen. Das muss für ihn nicht das Ende bedeuten - auch John McCain musste 2008 solche Kürzungen vornehmen und sackte in den Umfragen ab, ehe er sich erhohlte - aber Bush ist ein schwächerer Kandidat als es McCain war und hat stärkere Konkurrenz. Es ist zu früh, um ihn vollständig abzuschreiben. Aber wie es scheint ist der Kandidat selbst nicht mehr mit vollem Herzen bei der Sache, hat er sich doch in Interviews erst jüngst darüber ausgelassen, "eine Menge coole Dinge" tun zu können, und dass man ja Trump wählen könne, wenn man mit ihm nicht einverstanden sei. Wenn er nicht bald einen neuen Ansatz für seine Kampagne findet, könnte es genauso kommen.

Samstag, 17. Oktober 2015

Die Kandidaten 2016: Ben Carson

Neben Donald Trump führt gerade ein weiterer Außenseiter die Umfragen für die republikanischen primaries an: Ben Carson. Gegenüber dem schillernden Immobilienmogul könnte Carson kaum unterschiedlicher sein. Aus ärmsten Verhältnissen stammend, arbeitete sich der Afroamerikaner im Selbststudium bis nach Harvard vor, wurde Neurochirurg und einer der profiliertesten Experten auf seinem Gebiet. Seine Lebensgeschichte "Gifted Hands" ist ein Bestseller und eine Inspirationsquelle für seine Fans. Carson selbst hat eine sehr ruhige, fast einschläfernde Art. Er kann nicht gerade große Reden schwingen. Verglichen mit Trumps lauter Angeberei sieht er beinahe bescheiden aus, und entsprechend geprägt ist auch das Narrativ der Berichterstattung. Carson gilt als intellektueller Außenseiter, der leise und sanft spricht und sich selbst sehr zurücknimmt. Dieses Bild dürfte nicht wenig zu seinen Umfrageerfolgen beigetragen haben, ist jedoch alles andere als zutreffend.

Carson betrat die politische Bühne relativ spät. Zum ersten Mal geriet er 2013 in das Scheinwerferlicht einer bundesweiten Aufmerksamkeit, als er beim National Prayer Breakfast in Anwesenheit Obamas eine harsche Kritik der "political correctness" abgab und sich mit stark sozialkonservativen Positionen in die Herzen der republikanischen Partei sprach. Seine starke Religiosität (er ist Mitglied der Seventh-Day-Adventists, einer religiösen Splittergruppe, die eine sehr wörtliche Auslegung der Bibel praktiziert), seine erzkonservativen Ansichten (etwa die Feindschaft zur Homoehe) und seine konservativen innenpolitischen Positionen (etwa die Ablehnung von Obamacare oder der Legalisierung von Cannabis) haben ihn zu einem glaubwürdigen Vertreter von republikanischen value voters gemacht (mehr dazu siehe hier). Entsprechend wurden nach seiner Rede auch schon Stimmen laut, die seine Kandidatur für die Präsidentschaft forderten. Sein Rücktritt von allen medizinischen Funktionen erlaubte es ihm, sich künftig auf seine politische Karriere zu konzentrieren, die er mit seinen Büchern "One Nation" und "A More Perfect Union" unterfütterte.

Während seine Positionen auf dem Gebiet der sozialkonservativen Positionen relativ klar sind, sind sie besonders auf dem ökonomisch-fiskalischen Feld sowie in der Außenpolitik deutlich nebulöser. Carson sprach sich etwa für eine Flat-Tax und gegen ein progressives Steuersystem aus, während er auf außenpolitischem Gebiet hauptsächlich die übliche Unterstützung von Israel und Gegnerschaft zum Iran ausgibt, ohne allzu konkret zu werden. Unklar war lange Zeit auch seine Position zum Waffenbesitz: während er vor seiner Kandidatur noch Aussagen machte, die sich als Befürwortung von Waffenregulierung deuten ließen, hat er seither erklärt, sich nur unklar ausgedrückt zu haben: Während die vielen Opfer von Schusswaffen schrecklich seinen, sei es nicht so schrecklich wie die Bevölkerung wehrlos gegenüber möglichen Tyrannen zu lassen. Damit befindet sich Carson auch auf diesem Gebiet inzwischen klar im republikanischen Mainstream.

Bevor ich mich einer tiefergehenden Analyse von Carsons Positionen, Stil und Erfolg zuwende, möchte ich einen Disclaimer voranstellen. Ich empfinde Ben Carson als den mit Abstand moralisch abstoßendsten Kandidaten der republikanischen primaries, noch vor Trump. Ich hoffe die Gründe hierfür im Folgenden deutlich zu machen, möchte aber nicht versuchen die Illusion aufzubauen, ihn mit demselben Abstand betrachten zu können wie etwa Marco Rubio.

Eine erste Auffälligkeit bei Carson, die noch weit über Trumps offensives Ignorieren politischer Gegebenheiten hinausgeht, ist seine völlige Realitätsferne und offensichtliche Unwissenheit auf vielen Gebieten. Für einen Präsidentschaftskandidaten sind Carsons Wissenslücken wahrlich alarmierend. So ist ihm offensichtlich nicht klar, wie der Mechanismus des debt ceiling funktioniert, was jedem halbwegs informierten Zeitungsleser spätestens seit, nun, 2013 bekannt sein müsste. Gefragt, wie seine Haushaltspolitik aussehen würde, war als einzige konkrete Aussage zu entlocken, dass er alle Budgets unterschiedlos um 3% bis 4% kürzen würde. Warum das völlig irrsinnig ist, hat Jordan Weissman hier erklärt. Auch die Funktionsweise der Geldpolitik oder die grundlegende Problematik von wirtschaftlicher Ungleichheit entgehen ihm völlig. Der Steuersatz seiner Flat-Tax (10%) beruht nicht auf irgendwelchen ökonomischen Überlegungen oder Berechnungen, sondern stammt aus der Bibel. Das ist kaum weiter als Herman Cain 2012, dessen 9-9-9-Steuertarif 2012 wohl direkt aus dem Computerspiel SimCity übernommen wurde.

Natürlich stellen auch andere Kandidaten unmögliche Pläne auf, ob man Jeb Bushs 4%-Wachstums-Plan oder Rubios unbezahlbare Steuerkürzungen hernimmt. Aber bei diesen Kandidaten (und ja, auch bei Trump) hat man wenigstens das Gefühl, dass sie aus politischer Berechnung handeln und wissen, dass es in der Realität des Weißen Hauses anders aussehen wird. Carson weiß aber eindeutig nicht, wovon er spricht. Das macht ihn unter den Kandidaten einzigartig.

Die Probleme mit Carson enden aber nicht hier. Denn seine leise und teils schlicht undeutliche Art zu sprechen, ohne besondere Höhen und Tiefen, erweckt den Eindruck eines fast schon gleichmütig-heiteren Kandidaten, der ähnlich Bernie Sanders auf Seiten der Democrats für einen positiven Wahlkampf ohne den tiefen Griff in die Schmutzkiste auskommt. Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein, auch wenn es eine schöne Geschichte ist. Carsons Wortwahl steht der von Trump in nichts nach und ist vielleicht sogar noch schlimmer. So bezeichnete er Obamacare als "die schlimmste Katastrophe für die Amerikaner seit der Sklaverei", erklärte das System der progressiven Besteuerung zum "Sozialismus", benutzt völlig inflationär Hitler- und Nazivergleiche (unter anderem für political correctness, die er mit der SA-Hetze von 1933 gleichsetzt), warnt vor der Erklärung des Ausnahmezustands durch Obama wenn die Republicans die Wahl 2016 verlieren, geht davon aus dass die biblische Apokalypse bald bevorsteht und vieles mehr. Auch seine angebliche Bescheidenheit ist schlichtweg eine Erfindung der Spin-Doktoren. Betrachtet man etwa dieses Interview mit Fox-News oder seine vielzitierten Kommentare zum Massaker in Oregon erkennt man schnell, wie ungeheuer eingebildet Carson ist und wie wenig Gespür er dafür hat, wie seine Worte außerhalb der Filterblase ankommen.

Und genau das ist das Problem. Bisher findet Ben Carson ausschließlich innerhalb der Filterblase statt, quasi in einer Echokammer der republikanischen Radikalen (etwas, das mit Abstrichen auch für Bernie Sanders auf der Linken gilt). Würden seine Äußerungen mit derselben Rigorosität analysiert, geprüft und bewertet werden wie dies bei ernsthaften Kandidaten - Hillary Clinton, Jeb Bush, Marco Rubio et al - der Fall ist, seine Kandidatur wäre dead in the water. Stattdessen aber profitiert Carson davon, eine gute Projektionsfläche abzugeben. Einerseits kontrastiert er schön mit den anderen Kandidaten und kann sich das Mäntelchen des Outsiders umhängen, der, frei von der Korrumpierung des politischen Prozesses, ohne Rücksicht auf political correctness sprechen kann. Dafür besteht offensichtlich großer Bedarf. Gleichzeitig macht es eine Wahl Carsons aber unvorstellbar. Selbst in den primaries dürfte sein Appeal beschränkt sein, denn hinter der ruhigen Fassade steht effektiv ein Extremist mit toxischen und teils menschenverachtenden Positionen.

Ben Carson ist ein Wolf im Schafspelz, oder besser eine Natter. Weil er für so viele seiner giftigen Ideen so lange einen Freischein in den Medien bekommen hat, sind diese Ideen tief in die republikanischen primaries eingesunken. Die Nation debattiert nun ernsthaft, ob die Überlebenschancen im Falle eines Massakers besser sind, wenn man à la Carson den Schützen direkt angreift, und ob dies als Sicherheitspolitik ausreicht. In sämtlichen Medien wurden Argumente vorgebracht, ob der Holocaust erst dadurch möglich gemacht wurde, dass die Juden keine Feuerwaffen hatten. Nicht nur wird damit verhindert, dass über ernsthafte Lösungen gesprochen wird. Irgendetwas von dem Irrsinn bleibt immer auch hängen. Der unvermeidliche Niedergang Carsons in den Umfragen kann daher gar nicht schnell genug kommen. Noch mehr als Trump verkörpert er alles, was faul ist im demokratischen Prozess der USA, was an giftigen und ekligen ideologischen Unterströmungen durch die Gesellschaft läuft.

Montag, 12. Oktober 2015

Gottvertrauen in die Verwaltung

Helmut Kohls Kanzlerschaft 1989 war alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Verspottet von der Hauptstadtpresse, durch diverse Pannen und Peinlichkeiten gerutscht, waren die Umfragewerte der CDU damals furchtbar, der Machtverlust im Bundesrat drohte. Zudem war die Partei von einem inneren Machtkampf um die Nominierung des Generalsekretärs gespalten. In dieser Situation hatte Lothar Späth, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kohl zu ersetzen versucht und war gescheitert. Nicht gerade eine Situation, in der man noch Großes von Kohl erwartete. Acht Wochen später fiel die Mauer, und Kohl, den man immer als Provinzpolitiker verspottet hatte, erwies sich als großer Stratege. Es ist wohl nicht übertrieben, die deutsche Einheit in ihrer Form ihm zuzuschreiben und seine Entschlossenheit zu bewundern. Der Mantel der Geschichte wehte, und Kohl warf ihn sich mit einer Entschlossenheit um, die viele seiner Zeitgenossen völlig verblüfft zurückließ. Es ist nicht bekannt, ob Merkel sich ähnlich fühlte, als sie die deutschen Grenzen effektiv öffnete und das Mantra "Wir schaffen das" in die deutsche Politlandschaft warf. Vergleichbar sind beide Ereignisse aber nicht nur wegen ihrer potenziell epochalen Wirkung.

Kohls aggressive Schritte zur Einheit, besonders die schnelle Wirtschafts- und Währungsunion (Sommer 1990) mit dem Umtauschkurs 1:1 für D-Mark und Ostmark, der nicht nur nach Ansicht von Oskar Lafontaine wirtschaftlich völlig unhaltbar war, riefen damals große Befürchtungen hervor. War man gerade dabei Verpflichtungen zu übernehmen, die nicht nur Ostdeutschland, sondern auch Westdeutschland in einen Strudel der Rezession reißen würde? Jedem halbwegs vernünftigen Beobachter war klar, dass dieser Prozess lange dauern würde, egal, ob Kohl "blühende Landschaften" innerhalb von drei Jahren und ohne Kosten für die Westdeutschen versprach. Die Parallelen zu den Flüchtlingen, von denen wir eine große "Demographierendite" ernten werden, die deren Integrationskosten über steigendes Wirtschaftswachstum quasi selbst bezahlt, sind offenkundig. In beiden Fällen entschloss sich ein CDU-Kanzler zur radikalen Alternative, verkündete dass alles gut werde und dass man sich sowieso keine Sorgen zu machen brauche: alles wird gut, wir schaffen das, kein Problem.

In beiden Fällen wäre nicht bekannt, dass sich jener Kanzler allzuviel mit dem Micromanagment herumgeschlagen hätte, das diese Entscheidung begleitet. Unter Kohls wehendem Geschichtsmantel befand sich eine heillos überraschte und überforderte Administration, die nicht einmal ernsthaft versuchen konnte, den Ausverkauf der DDR in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken oder eine Bestandsaufnahme durchzuführen, auf deren Basis informierte Politik möglich wäre. Stattdessen wurde getan, was man konnte, um die offensichtlichsten Probleme unter Kontrolle zu bekommen - und das war damals vor allem die Verhinderung einer massiven Wirtschaftsflucht nach Westdeutschland, was - das muss man auch sagen - immerhin gelungen ist. Die Wirtschaftsflucht hat sich stattdessen über 25 Jahre gestreckt, was heute immerhin viele leerstehende Immobilien in Ostdeutschland für Flüchtlinge mit sich bringt.

Auch Merkels "Wir schaffen das" war nicht unbedingt in dem Sinne zu verstehen, als dass sie sich zu dem "wir" zählen würde. Die eigentliche Verwaltung der Flüchtlinge übernehmen die Bundesländer und die Kommunen, und die sind heillos überfordert. Wie bereits bei der Einheit verwaltet die Bundespolitik hauptsächlich den Ausnahmezustand - hier indem sie die D-Mark schnellstmöglich in den Osten bringt, dort, indem die Gesetze soweit gestreckt werden dass Erstaufnahmelager sechs statt drei Monate Flüchtlinge in Turnhallen lagern lassen dürfen. Die schmutzige Umsetzung im Räderwerk des Staatsgetriebes bleibt den nachgeordneten Verwaltungsapparaten überlassen.

Man kann dies positiv als eine Art Gottvertrauen der Kanzler in die deutsche Bürokratie interpretieren. Schon in Preußen konnte man sich schließlich darauf verlassen, dass Stempel und Formulare letztlich alles regeln werden. Wahrscheinlicher allerdings ist es, dass es sich nur um solide politische Instinkte handelt. Der Kanzler der Einheit und die Kanzlerin der Flüchtlinge (mangels eines besseren Wortes) schwebten gleichsam über dem Chaos, das ihre Entscheidungen wie Dominoeffekte in die unteren Verwaltungsebenen gebracht hatten.

Das soll auch gar nicht übermäßig schnippisch oder negativ klingen. Niemand hätte diese Herausforderungen einfach leisten können, und ob die Alternativen, die aus der Rückschau dann immer viel besser, vernünftiger und sowieso vorhersehbarer aussahen wirklich gangbar gewesen wären weiß letztlich niemand. Zuversichtlich kann man lediglich konstatieren, dass sowohl Merkel als auch Kohl weniger aus Motiven der policy denn aus Begriffen der politics handelten: nicht konkrete Maßnahmen und zu erwartende Vor- und Nachteile bestimmten ihre Überlegungen, sondern politische Kalkulationen. Für Kohl stand die Frage im Vordergrund, wie groß das Zeitfenster war, innerhalb dessen er die Einheit verwirklichen konnte und wie lange die DDR-Bürger "drüben" bleiben würden, wenn die Grenze erst einmal offen war. Für Merkel muss die Frage deutlich gewesen sein, wie sie die deutsche Grenze überhaupt gegen den Zusammenbruch des Dublin-II-Systems hätte schützen wollen, und ob es noch eine realistische Möglichkeit gab, die Masseneinwanderung zu verhindern. Beide haben ihre Entscheidungen getroffen. Danach konnten sie sich nur noch auf die Verwaltungen verlassen. In beiden Fällen steht eine Evaluation noch aus.

Freitag, 9. Oktober 2015

Representative House of Cards

Das kam überraschend. Oder, wie die Amerikaner sagen würden: Well, that escalated quickly. Steven McCarthy, der noch vor Wochenfrist - auch hier im Blog - als der wahrscheinlichste Nachfolger von John Boehner galt, hat seine Kandidatur hingeschmissen. Noch vorgestern war sein einziger Konkurrent bei den Republicans Jason Chaffetz, einen Kandidaten aus dem radikalen Dunstkreis, der kein Interview ohne eine mittelschwere Blamage geben konnte. Um im Idiom zu bleiben: What the hell just happened? Der Witz ist: so genau weiß das keiner. Die Geschehnisse in dem Kartenhaus, das die republikanische Fraktion im House of Represenatives gerade ist, dürften aber in jedem Falle für Heiterkeit im Weißen Haus sorgen. Natürlich gibt es genügend Spekulationen, die hier nicht vorenthalten werden sollen.

Zuerst ein wenig Hintergründe zur Wahl: Ähnlich wie in den meisten parlamentarischen Systemen müssen im House of Represenatives die Mehrheit aller Abgeordneten den Speaker bestimmen, nicht nur die der Mehrheitspartei (im Senat ist das, natürlich, anders. Hier reicht die Mehrheit der Mehrheitsfraktion, denn warum sollten auch beide Häuser den gleichen Regeln folgen, das ist was für Europäer). Das bedeutet dass McCarthy nicht nur die Hälfte der Republicans braucht, sondern 218 der 247 Abgeordneten seiner Partei. Auf Stimmen der Democrats braucht er schließlich nicht zu hoffen. Gerüchten zufolge brachte er aber nur irgendetwas zwischen 170 und 200 Abgeordnete hinter seine Kandidatur. Besonders die mittlerweile im so genannten Freedom Caucus organisierten Radikalen verweigerten sich ihm komplett. Nicht, dass sie irgendeinen eigenen Kandidaten hätten - die Macht der Radikalen bleibt weiterhin rein destruktiv.

Aber erneut - nichts Genaus weiß man nicht. Wem simple Mehrheiten zu langweilig sind, wird sicher das ebenfalls die Runde machende Gerücht interessieren, dass McCarthy eine uneheliche Affäre mit der Abgeordneten Reene Ellmers (ebenfalls Republican, aus North Carolina) hätte. Die Medien berichten darüber betont nicht, was Anlass zu allerlei detaillierten Artikeln mit Spekulationen gibt, warum man denn nicht über die Affäre berichtet, von der niemand weiß, ob sie wahr ist, weswegen niemand darüber berichtet. Bewiesen ist auch hier natürlich gar nichts, aber der Unterton der Berichte deutet stark darauf hin, dass die Affäre ein offenes Geheimnis war. Ob sie Grund für McCarthys Rücktritt ist - who knows?

So oder so sind die Republicans im House of Represenatives jetzt ohne neuen Speaker-Kandidaten, aber nicht ohne Speaker. Denn John Boehner ist zwar mit Wirkung für den 30. Oktober zurückgetreten und hatte die Wahl seines Nachfolgers für den 29. Oktober anberaumt, aber der Termin ist jetzt mangels Kandidaten passé. Boehner aber, nicht gerade ein Waisenknabe auf dem politischen Feld, hatte in seinem Rücktritt eine Klausel untergebracht, dass er Speaker bleibe, bis ein neuer gewählt ist. Wenn er dieses Chaos vorhergesehen hat, um selbst den Posten behalten zu können und vorher seine innerparteilichen Gegner völlig zu blamieren könnte dies ein gewaltiger politischer Coup sein. Chapeau, wenn das so aufgeht. Und wenn nicht wird Boehner natürlich niemals einen solchen Plan gehabt haben. Hatte er ihn? Schwer zu sagen, wie so vieles.

Die Spekulationsmaschine läuft jetzt natürlich heiß, und das lustige Ratespiel (verbunden mit cleveren Ratschlägen, wer denn ein guter Speaker wäre) wird dadurch noch erst richtig spannend, dass der Speaker technisch gesehen nicht Mitglied des House sein muss. Das ist zwar seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr relevant gewesen, gibt aber Material für mindestens drei oder vier Artikel. Ezra Klein von Vox, der sonst eigentlich nicht durch Einschalten des Bullshit-Ventilators auffällt, schlägt etwa Mitt Romney vor. Auch einige der Präsidentschaftskandidaten wären möglich. Ich wäre ja für Trump. Der würde sicher einen echt classy Hammer mitbringen, nicht dieses alte Ding das Boehner immer benutzte, und der Kongress würde ihn zahlen, you bet. Der wahre Andrang entsteht gerade aber vor Paul Ryans Tür.

Ryan ist aktuell der Vorsitzende des Ways and Means Comittee, in seiner Funktion etwa vergleichbar mit unserem Haushaltsausschuss aber wegen der Gewaltenteilung in den USA ungleich mächtiger. Ryan ist in dieser Position sehr zufrieden, denn von hier aus hat er seine Finger an den Schalthebeln der Macht ohne selbst im Scheinwerferlicht zu stehen. Er ist einer der wenn nicht sogar der einflussreichste Republican, ohne dessen Plazet wenig möglich erscheint, zumindest wenn man Bundesgelder braucht. Nur, Ryan ist dort ziemlich zufrieden. Warum habe ich hier beschrieben. Bisher weigert er sich noch standhaft, den Job zu machen, aber vielleicht lässt er sich doch erweichen. Er hat sich auch 2012 als Vizepräsidentschaftskandidat von Mitt Romney aufstellen lassen, ohne dass klar wäre wie das in seine größere Strategie passt, was auch Matthew Yglesias heillos verwirrt:
Yglesias' Verwirrung entspricht dabei dem kompletten Chaos des politischen Washington. Fragt sich, wem das Ganze nützt. Vordergründig natürlich den Democrats. Sollten die Republicans im House sich wirklich völlig ins Abseits schießen (was möglich, aber eher unwahrscheinlich ist) steigen ihre Chancen, doch wieder eine Mehrheit zu bekommen, leicht an. Zudem dürften die Beliebtheitswerte der Republican Party, die ohnehin nur knapp über dem Niveau von Fußpilz liegen, weiter absinken. Auf der anderen Seite nützt das Chaos natürlich John Boehner. So oder so sieht seine Amtszeit bereits jetzt besser aus als noch vor einer Woche, und wenn er den Job eigentlich behalten will läuft es gerade gut für ihn. Auch Paul Ryan profitiert, weil - ob er Speaker wird oder nicht - sein politischer Wert bestätigt wird. Und natürlich gewinnen wir Beobachter des ganzen Prozesses. Holt das Popcorn raus, Freunde.

Dienstag, 6. Oktober 2015

Die Kandidaten 2016: Marco Rubio

Praktisch jeder, der für das Amt des Präsidenten kandidiert, muss sich Vergleiche gefallen lassen. Donald Trump wird mit den großen Populisten der Vergangenheit von Wallace bis Goldwater verglichen, Jeb Bush mit seinem Bruder, Hillary Clinton mit ihrem Mann und Bernie Sanders mit praktisch jedem sozialdemokratischen Land Europas. Der Vergleich, der sich für Marco Rubio geradezu aufdrängt ist der mit Obama. Er ist 10 Jahre jünger und wäre damit annähernd gleich alt, wenn er das Weiße Haus gewänne. Wie Obama wäre er erst seit kurzer Zeit im Kongress. Er ist charismatisch, kann gute Reden halten, besticht durch Interview-dichtes Faktenwissen und steht fest auf dem Boden der Parteiideologie. Wo Obama Mitte-links steht, steht Rubio Mitte-rechts. Für beide ist der größte Konkurrent in den primaries ein elder statesman, die gleichzeitig ein enger Verwandter des vorletzten Präsidenten ist. Wenn es nach Rubio ginge, würde er nun auch von einer starken Wählerkoalition bejubelt und durch die primaries an die Spitze getragen, wo er gegen einen erfahrenen, aber alten Gegner mit einer Botschaft von hope and change gewänne. Aber wiederholt sich Geschichte tatsächlich derart passend? Oder ist Marco Rubio das Leichtgewicht, das man Obama immer vorgeworfen hatte zu sein?

Rubio befand sich schon einmal auf der Überholspur. 1999 in das House of Represenatives in Florida gewählt, machte er dort schnell Karriere. Ironischerweise war einer seiner größten Förderer damals Jeb Bush, dem er heute als größter Konkurrent gegenübersteht. In Florida machte sich Rubio einen Namen, indem er eine große Reise unternahm und mit Wählern im ganzen Land in Kontakt kam. Die Resultate veröffentlichte er in einem Buch mit dem etwas drögen Namen "100 Innovative Ideas for Florida's Future". Den politischen Ritterschlag aber erhielt er, als er eines der größten Steuerkürzungsprogramme in der Geschichte des Sunshine State durch die Legislatur boxte und daraufhin von Grover Norquist als der "am meisten für Steuerkürzungen eintretende Politiker des Landes" ernannt wurde (zur Bedeutung von Norquist siehe hier).

2009 fühlte Rubio, der sich damit klar im ideologisch strammen Spektrum seiner Partei platziert hatte, stark genug, sich um einen der beiden Senatssitze Floridas zu bewerben und gegen den früheren Gouverneur Charlie Crist anzutreten. Rubio machte seine Gegnerschaft zu Obamas stimulus, mit dem dieser damals die durch die Finanzkrise darniederliegende Wirtschaft zu beleben gedachte (und damit Erfolg hatte), zum Herzstück seines Wahlkampfs. Crist hatte dem Gesetz zugestimmt und es sich damit bei der republikanischen Basis verscherzt. Auch hier ist eine deutliche Parallele zu Obama zu erkennen, der im Vorwahlkampf gegen Hillary Clinton seine eigene Unerfahrenheit auf der Bundesebene mit seiner ideologischen Reinheit kontrastieren konnte - in seinem Falle der Widerstand zum von Clinton unterstützten Irakkrieg.

Rubio gehörte damit zu der Welle an Tea-Party-Radikalen, die 2010 in den Kongress geschwemmt wurden, ohne aber jemals zu ihnen zu gehören. Zwar zeigte er sich in Fragen der Finanzpolitik und besonders bei der Außenpolitik als klarer Hardliner, gleichzeitig aber zeigte er auch Flexibilität und Kompromissbereitschaft. So wandte sich Rubio sowohl gegen den Sequester, bei dem die Haushaltsposten der Regierung durch die Bank pauschal gekürzt wurden, als auch gegen den Government Shutdown (siehe hier). In beiden Fällen erklärte er seine Gegnerschaft aber in Begriffen der Rechten: der Sequester beschnitt auch das Militärbudget, was er nicht hinnehmen konnte, und der Shutdown betraf zu sehr das small business, dem sich die Republicans zumindest rhetorisch immer verschreiben. Dieser erfolgreiche Eiertanz brachte ihm die Aufmerksamkeit der Parteielite und der Medien ein und katapultierte ihn direkt an die Spitze nationaler Politik, so dass er 2012 sogar als Vizepräsidentschaftskandidat für Mitt Romney gehandelt wurde.

2013 jedoch kam der republikanische Ikarus der Sonne endgültig zu nahe. Als Mitglied einer überparteilichen Gruppe von Senatoren, der Gang of Eight, versuchte er, eine Reform der Immigrationsgesetzgebung zu schaffen. Wäre dies gelungen, es hätte ihn endgültig zu einem Präsidentschaftskandidaten der ersten Garnitur gemacht, der das Versprechen Obamas, die ideologische Spaltung Amerikas zu überwinden, hätte Wirklichkeit werden lassen können. Doch hier verschätzte er sich genauso wie Obama in der Grundlage eben dieser Spaltung. Die Gegnerschaft der republikanischen Radikalen zu jedwedem Kompromiss, egal welcher Natur, versetzte dem Projekt den Todesstoß. Rubio geriet innerparteilich heftig in die Kritik, ihm wurde Verrat an den Idealen der Partei und Bewegung vorgeworfen.

Rubio ließ daraufhin das Immigrationsthema erst einmal fallen und wandte sich wieder dem Schutz von Waffenbesitzern und Kleinunternehmern zu, der deutlich weniger Profil aufwies und hoffte, dass Gras über die Sache wachsen würde - eine Rechnung, die bislang aufzugehen scheint und bei der Rubio natürlich hilft, dass sein größter Konkurrent Jeb Bush ihm on the record in allen wesentlichen Punkten zustimmt und sein anderer großer Gegner, Donald Trump, eine ideale Reibefläche bildet.

Trotzdem ging Rubio nicht gerade mit den größten Vorteilen ins Rennen (wie hier beschrieben). Rubio ist nicht überragend gut vernetzt und hat keine relevanten Verbündeten in den republikanischen Gouverneuren. Zwar hat er viele Verbündete in Florida, aber dasselbe trifft auch auf Jeb Bush zu, dessen Verbindungen zwar älter und nicht mehr ganz so stark wie Rubios sind, der dafür aber den besseren Zugang zu den reichen Spendern in Florida hat. Die gegenwärtige Schwäche Bushs jedoch lässt diese Nachteile geringer erscheinen als es noch vor drei Monaten aussah. Tatsächlich ist Rubio aktuell zusammen mit Bush der aussichtsreichste Kandidat.

Einen guten Teil dieses Aufwinds verdankt Rubio dem überraschenden Einbruch von Scott Walker. Er und Walker hatten um dasselbe Segment der republikanischen Wählerschaft gebuhlt - Social Conservatives, small businnes, an niedrigen Steuern und möglichst wenig Staatsintervention interessiert. Walkers Exit gab Rubio die Chance, dessen Spender und Unterstützernetzwerke aufzusaugen - und Walker hatte massiv in Iowa investiert. Obwohl Rubio nicht die komplette Infrastruktur Walkers übernehmen konnte, ist er doch der mit Abstand größte Gewinner seines Untergangs.

Ein zweiter Aspekt ist die Schwäche seiner Gegner durch Trump. Es kann als gesichert gelten, dass Trump keinesfalls die Nominierung der Republicans gewinnen wird. Solange er aber im Rennen bleibt - und derzeit ist kein Ende abzusehen - wird Rubios Konkurrenz von Rechts, Ted Cruz, marginalisiert. Gleichzeitig lassen die hohen Umfragewerte von Trump, Fiorina und Carson den anderen Kandidaten so wenig Raum, dass Jeb Bush mit seinen Werten unter 10% deutlich schwächer aussah, als es zu erwarten war. Da Rubio keinen Frontrunner-Status hatte, waren die niedrigen Werte (etwa gleichauf mit Bush) relativ unproblematisch. Tatsächlich schienen seine moderaten Gewinne (rund 3,5%) seit Walkers Ausscheiden gegenüber Bushs gleichzeitiger Stagnation ein gewaltiger Erfolg.

Der letzte Aspekt, der ihn in die Topriege beförderte obwohl er von den Umfragen her deutlich schlechter dasteht, ist seine Performance in den beiden TV-Debatten. Rubio konnte zwar keine eigenen Akzente setzen, vermied aber gleichzeitig einen Eindruck von Schwäche und gab sich keine Blöße, anders als etwa Bush, dessen bestenfalls mittelmäßige Performance seinen Frontrunner-Status ebenfalls unterminierte. Auch in Interviews zeigt sich Rubio beständig seriös und gebrieft genug, um in der Sprache des jeweiligen Themas reden zu können. Dieser Tweet drückt das recht prägnant aus:

Natürlich ist es noch zu früh, um endgültige Aussagen über Rubio machen zu können. Seine Sicherheit in der Diskussion von Politiken kann gespielt sein, denn bisher hat noch niemand versucht, ihm wirklich auf den Zahn zu fühlen. Die entsprechenden Redewendungen lernt ein guter Schauspieler im Zweifel auswändig, das hat selbst Sarah Palin geschafft. Das verrückte am Vorwahlprozess bislang ist, dass Rubio der einzige Kandidat ist, der das tut. Sobald der Wettbewerb ernster wird werden die verbliebenen Kandidaten hier aber aufholen und Rubio sich in der ernsten Debatte beweisen müssen. Denn dass Hillary Clinton auf diesem Feld keine Probleme hat, dürfte jedem klar sein.

Interessant ist jedenfalls, dass Rubio die Interviews seit etwa der zweiten Debatte benutzt, um sich ein klares, vom Rest des Bewerberfelds abgehobenes Profil zu verschaffen. Anstatt einfach nur Parolen abzuspulen, redet er bereits so, als befände er sich im direkten Kampf gegen Clinton. Das ist umso bemerkenswerter, als dass dies eigentlich von Bush zu erwarten gewesen wäre. Schafft es Rubio, sich in den kommenden Wochen einen Ruf als der wonk unter den republikanischen Kandidaten zu erarbeiten - quasi ein kubanischer Paul Ryan - dann wäre eine seiner größten offenen Flanken, seine relative Unerfahrenheit, bereits geschlossen - auch im Hinblick auf den Kampf gegen Clinton.

Rubio muss nun noch noch seine Position solange verteidigen, bis andere Kandidaten, die sie ihm theoretisch streitig machen könnten - Chris Christie und John Kasich, vor allem - sie ihm streitig machen könnten. Gelingt ihm das, kann er weiterhin gelassen der Selbstdemontage von Trump, Carson und Fiorina zusehen und sich auf den Showdown mit Bush vorbereiten. Aber einen so eleganten Weg zur Nominierung hatte Bush sich ja auch einmal zurechtgelegt.

Sonntag, 4. Oktober 2015

Zwei Seelen schlagen, ach, in meiner Brust: Die Republican Party

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält in derber Hassenslust
sich an den Trump mit klammernden Organen;
die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
zum Steuertraum der reichen Liberalen.
- Frei nach Goethes Faust

Die republikanische Partei ist, wie jede andere Partei auch, kein monolithischer Block. In ihr vereinigen sich verschiedene Strömungen, die teilweise gegeneinander stehen, teilweise auch in sich widersprüchlich sind. Vor 2012 konnten die Partei-Funktionäre darauf bauen, dass diese Gruppen vor allem eines einte: der unbedingte Willen, keinen Democrat die Wahl gewinnen zu lassen. Entsprechend trat die Basis in der Phase der primaries, in der ein aussichtsreicher Kandidat feststand, stets zurück ins Glied. Es ist ein Vorgang, der bei vielen konservativen Parteien zu beobachten ist - die CDU ist ja auch legendär loyal gegenüber ihren Kanzlern, wenn es um die Wahl geht. Führungsstreit und aufreibende ideologische Grabenkämpfe sind eigentlich eher eine traditionell linkere Angelegenheit. Doch seit den Wahlen 2008 und dem Aufstieg der Tea Party 2010 haben sich diese Rollen in den USA praktisch vertauscht. Das hat durchschlagende Konsequenzen für die Republicans.

Was für die CDU der deutsche Süden ist für die Republicans der amerikanische: betrachtet man Karten der letzten Wahlergebnisse, so sieht man die Ostküste, die Westküste und den Nordosten im Blau der Democrats, den Süden und den Mittleren Westen im Rot der Republicans eingefärbt. Staaten wie Georgia, Alabama und Texas sind seit Jahrzehnten eine sichere Bank der Republicans, während sie in New York, Massachusetts und Oregon nicht einmal ernsthafte Versuche zu unternehmen brauchen. Die Gründe hierfür sind kultureller und historischer Natur.


Als die Partei in den 1850er Jahren gegründet wurde, beerbte sie die zersplitterten Whigs. Die Parteiplattform bestand aus Schutzzöllen zum Aufbau der heimischen Wirtschaft, Infrastrukturmaßnahmen im Inneren mit dem gleichen Ziel und der Abschaffung der Sklaverei. Ihre Gegner waren die Democrats, die für die Sklaverei waren, den Staat so klein wie möglich und das Land agrikulturell geprägt halten wollten. Nach dem Ende der Reconstruction-Ära, die auf den Bürgerkrieg folgte, konzentrierten sich beide Parteien weitgehend auf die Wirtschaftsförderung und ließen die Gesellschaft ihre eigenen Konflikte lösen, sofern es nicht gerade einen Streik mit Soldaten zu brechen galt. Im 20. Jahrhundert allerdings begann ein schleichender Prozess, in dessen Verlauf die Democrats eine Parteiplattform der starken Staatseingriffe aufnahmen, während die Republicans eine laissez-faire-Haltung zur Wirtschaft zu eigen machten. Unter Roosevelt bildete sich die klassische heutige demokratische Partei heraus, die gleichwohl noch starke (und rassistische) Zentren im Süden hatte, während die Republicans eher eine nördliche Partei waren. Als die Democrats ihre Wandlung zur progressiven Partei in den 1960er Jahren endgültig machten und damit den rassistisch geprägten Süden verloren (und den Norden gewannen), stießen die Republicans in die entstehende Lücke und vollzogen einen scharfen Rechtsschwenk, der ihnen unter Richard Nixon großen Erfolg brachte und unter Reagan konsolidiert wurde.


Der amerikanische Süden ist generell ärmer und ländlicher als der Norden. Gleichzeitig spielen die örtlichen Gemeinschaften und die Religion eine wesentlich größere Rolle als im Norden, der in dieser Hinsicht Europa wesentlich ähnlicher ist. Die (weißen) Südstaatler wollen vor allem einen Schutz ihrer Werte, etwa ein Verbot der Homo-Ehe, und eine Abwehr von ökonomischen Gefahren. Da die Südstaaten generell strukturschwächer sind als der Norden sind diese Bedrohungen vor allem im Lohndumping zu suchen, was die Menschen instinktiv gegen Einwanderer und Schwarze einnimmt, mit denen sie im Niedriglohnsegment am stärksten konkurrieren. Gleichzeitig wollen sie im Alter abgesichert sein, weswegen sie Medicaid und Medicare unterstützen. Diese Maßnahmen werden häufig nicht mit dem Sozialstaat identifiziert. Der "welfare state" ist viel mehr eine Abkürzung für alles, was den Immigranten und Schwarzen dient - darunter auch Programme wie Food Stamps, auf die man bei aller relativen Armut nicht angewiesen sein will.


Diese inkohärente Gemengelage verschiedener Interessen, Wertemuster und Vorstellungen erschwert die Kommunikation und ermöglicht gleichzeitig ein elaboriertes System von Codewörtern (dog whistle). Die USA sind progressiv genug, um offen rassistische Äußerungen zu verdammen, weswegen entsprechende Forderungen und Ansagen auf einer Meta-Ebene ablaufen. Wie bereits erwähnt werden sozialstaatliche Maßnahmen meist nur auf die Minderheiten bezogen, während man seine eigenen Leistungen eher als erworbene Ansprüche sieht. Formulierungen wie Jeb Bushs "free stuff", den er niemandem geben will, zielen damit zwar offiziell auf alle Armen, werden aber einzig als gegen Schwarze gerichtet verstanden, weil diese ja nicht arbeiten wollen - anders als die weiße Unterschicht, die im Schweiße ihres Angesichts ein kleines Stück Amerika aufbaut.


Auch Andeutungen in andere Richtungen zielen auf dieses Missverhältnis, etwa wenn republikanische Politiker beständig die Bedeutung von local politics und states rights betonen. Seit den Tagen von Lincoln, aber besonders Lyndon B. Johnson, kommt die gesamte Bürgerrechtsgesetzgebung aus Washington, während die Parlamente der Einzelstaaten und die Kommunen sich gegen die rechtliche Gleichstellung stemmten. Es war der Bund, der in den 1950er Jahren mit Truppen den Zugang schwarzer Studenten an die Universitäten erzwang, während die örtliche Polizei sich an den Pogromen gegen sie beteiligte. Wenn ein Republican also fordert, Angelegenheiten Affirmative Action (Quotenregelungen) oder die Homo-Ehe den Bundesstaaten zu überlassen ist das nur eine andere, wenngleich akzeptierte, Art, sich dagegen auszusprechen.


Am entgegengesetzten Ende dieser Skala befinden sich die Business Republicans. Ihr Jahreseinkommen liegt im Schnitt mit knapp 70.000 Dollar mehr als doppelt so hoch wie das der armen, ländlichen Südstaatenbevölkerung (rund 33.000 Dollar). Ihre Hochburgen liegen vor allem in den Städten. Wall Street ist beispielsweise eines ihrer Machtzentren, aber auch andere Regionen mit starkem hochpreisigen Dienstleistungssektor sind ihnen Heimat. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie gegenüber den oben beschriebenen Social Conservatives in einer deutlichen Minderheit sind - nur rund 2-3% der Republicans gehören zu dieser Gruppe, haben jedoch wegen ihrer Verbindungen zu den Großspendern der Partei einen deutlich unverhältnismäßigen Einfluss. Im Allgemeinen sieht diese Gruppe sich als den vernünftigen Teil der Partei, von dessen Votum am Ende auch der Präsidentschaftskandidat abhängt. Die meisten der republikanischen Funktionäre gehören zu dieser Gruppe, und bis zum Aufstieg der Tea Party auch der größte Teil der Kongressabgeordneten. Auch heute noch stellen sie aber rund die Hälfte bis zwei Drittel der republikanischen Abgeordneten im Kongress und in den Bundesstaaten.


Diese Darstellung ist natürlich noch sehr vereinfacht, und wir werden anhand der einzelnen Kandidaten sehen können, welche Untergruppierungen es sonst noch gibt und wie sie zueinander stehen. Grundsätzlich hat die Partei aber zwei Schwerkraftzentren: Auf der einen Seite die Social Conservatives, die wenig für den geordneten Prozess der demokratischen Konsensfindung übrig haben, und auf der anderen Seite die Business Republicans, die vor allem an Ergebnissen interessiert sind. Die Social Conservatives wollen den Sozialstaat (für Weiße) erhalten, ihre Kultur und ihre Werte schützen und das Land gegenüber Migranten abschotten, was die für diese Gruppe mit Abstand wichtigsten Ziele sind. Die Business Republicans dagegen wollen die Steuern für Wohlhabende senken, den Wohlfahrtsstaat abbauen und mehr Migranten ins Land lassen. Auf den ersten Blick scheint es hier wenig Überschneidungen zu geben.


Es ist genau diese Dynamik, die Linke dieseits wie jenseits des Atlantik verrückt macht. Allem Anschein nach stimmt die Mehrheit der Republicans (ebenso wie die Mehrheit der konservativen Wähler hierzulande) gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen. Höhere Mindestlöhne, höhere Steuern für Reiche und ein stärkeres soziales Netz würden die Social Conservatives massiv begünstigen. Warum wählen sie also am Ende jemanden, der das genaue Gegenteil verspricht? Der Grund hierfür ist eine Fehlannahme über das Wahlverhalten. Ökonomische Interessen spielen auch eine Rolle, sind aber gegenüber kulturellen Bindungen unterrepräsentiert. Denn die Business Republicans und die Social Conservatives haben etwas gemeinsam: sie teilen dieselbe Wertebasis.


Ihre Prioritäten liegen anders, und teilweise meinen sie völlig unterschiedliche Dinge, wenn sie etwa von small government und big government reden. Für die Business Republicans ist das small government ein Staat, der sie mit Regulierungen in Ruhe lässt, die Arbeitskosten niedrig hält und sie im Zweifel Gifte in die Atmoshäre pusten lässt. Für die Social Conservatives ist small government ein Staat, der ihnen nicht vorschreibt, wer heiraten darf und wer nicht, der ihnen ihre Waffen und ihre Jagdreviere lässt und der ihre Kleinunternehmen ohne Regulierung und mit niedrigen Steuern lässt. Für beide Seiten gibt es genügend Überschneidungen, um dieselben Worte zu benutzen, und die Vertreter beider Fraktionen sind häufig zufrieden mit der Konfusion und Undeutlichkeit, die so entsteht, denn sie nützt der Partei als Ganzem. Die Democrats können noch so viel Mindestlohnerhöhungen versprechen - wenn der Preis dafür die Homo-Ehe ist, das Verbot von Sturmgewehren und ein neuer Partikelfilter im Generator, dann kommt ihr Kandidat nicht in Betracht.


Diese Undeutlichkeit hatte rund drei Dekaden zum Vorteil der Business Republicans gewirkt. Seit dem Aufstieg der Tea Party jedoch haben die Social Conservatives deutlich an Macht gewonnen. Sie sind die deutliche Mehrheit in der Partei und können daher, sofern sie ordentlich organisiert und diszipliniert geführt werden, jede Wahl gegen die Business Conservatives gewinnen, ganz egal, wie tief deren Wahlkampfschatullen sind. Eric Cantor, der designierte Nachfolger von John Boehner, kann davon ein Liedchen singen. Wie jeder populistischen Bewegung mangelt es den Social Conservatives meist an dieser stringenten Führung und Organisation, so dass am Ende die Business Conservatives doch den Sieg davontragen können. Doch mittlerweile wird der Preis für diese Siege immer höher, und die Siegesgewissheit, die sie einmal hatten, ist ihnen abhanden gekommen.


Gleichzeitig sind die Social Conservatives von einem tiefen Misstrauen gegenüber ihrem Partei-Establishment zerfressen, dass sie frenetisch nach ideologisch reinen Alternativen suchen lässt, die nie Kompromisse eingehen. Ob Donald Trump, Ben Carson oder Carly Fiorina, der Durst der Basis nach Figuren von außen, die einen kompletten Neuanfang, eine Art konservative Revolution versprechen, ist hoch. Revolutionäre allerdings hatten es schon immer schwer in den USA, und es ist zu erwarten, dass alle diese Figuren über kurz oder lang den Kampf verlieren werden und sich der eigentliche Wettstreit um den am wenigsten schlimmen Establishment-Kandidaten drehen wird. Vor einem halben Jahr hatte Bush alle Hoffnung, dieser Kandidat zu sein, doch heute wetzt Marco Rubio vernehmlich das Messer. Der Partei stehen so oder so noch aufregende Zeiten bevor.

Donnerstag, 1. Oktober 2015

Die Kandidaten 2016: Donald Trump

Wenn es eines gab, dessen sich vor einem halben Jahr noch alle Beobachter des US-Wahlkampfs sicher waren, dann, dass Donald Trump niemals antreten würde. Der Immobilienmogul und Entertainer hatte schließlich schon in den letzten Wahlkämpfen immer wieder mit der Idee einer Kandidatur geflirtet, ohne dass neben viel Selbstpromotion etwas dabei herausgekommen wäre. Zudem ist "The Donald" bisher nicht gerade durch substanzielle Ideen oder Politikerfahrung aufgefallen, sieht man einmal davon ab dass es ihm gelang, 2011 so viel Publicity für die absurde Idee zu erzeugen, dass Obama kein Amerikaner sei, dass dieser seine Geburtsurkunde veröffentlichte. Aber was heißt das bei Trump schon? Es brachte Quote. Um die Jahrtausendwende war er noch Democrat und ziemlich dicke mit den Clintons. Jetzt also Republican. Was hat sich geändert? Wer kann das schon sagen!

Als Trump dann im Foyer des Trump Tower seine Kandidatur bekanntgab, war die neue Interpretation, dass es letztlich ein großer Gag sei, um seine Bekanntheit zu steigern. Wenn es daran ginge, den Regularien der Kandidatur zu folgen und etwa sein Vermögen offenzulegen - ein Schritt vor dem Trump bisher immer zurückgeschreckt war, weil er seine Behauptungen von "zehn Milliarden Dollar" widerlegen könnte - würde er einen Rückzieher machen. Dann aber schoss Trump an die Spitze der Umfragen und hängte das gesamte republikanische Feld völlig ab. Rund ein Drittel der Umfragestimmen vereinigte er zu seiner besten Zeit auf sich. Nun war das nichts, was seit 2012 ein völlig unerwartetes Phänomen wäre, wo reiche Spinner ohne Substanz wie Herman Cain an die Spitze der Umfragen gelangten. Nur verschwanden diese nach zwei oder drei Interviews in einer Kaskade der Peinlichkeiten wieder von der Bildfläche.

Trump ist immer noch da. Zwei Debatten, unzählige Interviews und Features später kann er immer noch mit der gleichen Kernaussage brillieren: I'm really rich, and I'm going to make America great again. Die Begeisterung der Amerikaner für Gewinnertypen in allen Ehren, aber kann das alleine Trumps Attraktivität erklären? Keine Analyse könnte komplett sein ohne den Satz aus seiner Kandidatur: “When Mexico sends its people, they’re not sending their best. They’re not sending you. They’re not sending you. They’re sending people that have lots of problems, and they’re bringing those problems with us. They’re bringing drugs. They’re bringing crime. They’re rapists. And some, I assume, are good people.” Ein solcher Satz würde jeden anderen Kandidaten in Schimpf und Schande versenken. Trump nicht. Und das liegt an einem toxischen Cocktail, den Trump mitbringt.

Da ist zum einen das Geld. Ob Trump nun zwei, vier oder zehn Milliarden hat, er ist unabhängig von irgendwelchen externen Spendern. Der 69jährige kann, wenn er will, Jeb Bushs gewaltigen Wahlkampfkoffer von 150 Millionen Dollar aus der Portokasse stemmen. Ob die Spender, die überwiegend für mehr Immigration sind, seine Aussagen mögen kann ihm völlig egal sein.

Zum anderen braucht er auch nicht eine Sekunde darauf Wert zu legen, ob er sich für spätere Wahlen oder bei den anderen Republicans unmöglich macht. Trump versucht nicht, eine Koalition zu schaffen. Er kümmert sich nicht darum, ob er später eine Mehrheit im Kongress haben wird. Er kümmert sich nicht darum, ob er endorsements bekommt. Er kümmert sich nicht darum, ob er später die Unterstützung anderer Republicans im Wahlkampf haben wird. Als Fox die erste Debatte mit der Fangfrage begann, ob ein Kandidat nicht schwören würde, im Falle einer Niederlage keine unabhängige Kandidatur zu starten, hob Trump wie selbstverständlich die Hand. Loyalität gegenüber der Partei, um deren Nominierung er sich bewirbt, bedeutet ihm gar nichts.

Und zuletzt kennt Trump weder Grenzen noch Scham. Frauen die ihn kritisieren? Das ist die Periode. Marco Rubio? Schwitzt während der Debatte, wie eklig, so was will Präsident sein! Carly Fiorina? Man sehe sich mal nur dieses Gesicht an, wer würde schon dafür stimmen! Jeb Bush? Ist ein "low energy"-Typ. Arme? Alles Loser! Trump? Gewinner, und, natürlich, high-energy. Was normalerweise eher Hindernis als Erfolgsmerkmal sein sollte ist bei seinen Anhängern offensichtlich Ausweis seiner Qualifikation.

Was sehen die 20-30%, die in Umfragen angeben, für ihn stimmen zu wollen in Trump? Ein Teil ist sicher die erwähnte Gewinner-Attitüde. Trumps Versprechen ist einfach: als Präsident wird er "so oft gewinnen, dass die Amerikaner vom Gewinnen gelangweilt sein werden". Alle Politiker, die gerade an der Macht sind, sind "Idioten" und "Loser". Trump packt damit in einfache und direkte Worte, was viele Menschen ohnehin denken.

Ein anderer Teil aber ist, dass Trump, ob durch Zufall oder Kalkül, eine Sollbruchstelle im politischen System der USA aufgedeckt hat, genauer gesagt im Gefüge der Republican Party. Die zwei widerstreitenden Machtzentren der Partei - die radikale Basis in den ländlichen Regionen und die reichen Netzwerke der Spender und Funktionäre in den Städten besonders der Küsten - haben stark unterschiedliche Ansichten auf einigen zentralen Politikfeldern. Zahllose Studien und Umfragen zeigen dies deutlich auf. Der Basis sind elaborierte Steuerpläne und Deregulierungen ziemlic gleichgültig. Der Spitze dagegen geht es kaum um Immigration und Medicare. Nur ist die Basis deutlich größer, wenngleich unartikulierter, als die Spitze. Und das bekommen frontrunner wie Jeb Bush, der unter den 10% in den Umfragen herumkrebst, gerade deutlich zu spüren. Tatsächlich sind viele Mitglieder der Basis Bernie Sanders in ihren ökonomischen Überzeugungen näher als Jeb Bush. Natürlich würden die weißen Südstaatler niemals die Democrats wählen, die für sie gottlose Verräter sind, die eine sozialistische Tyrannei errichten wollen. Aber gleichzeitig lieben sie ihre Parteielite nicht gerade, ein Gefühl, das durchaus auf Gegenseitigkeit beruhen dürfte, wie man im Rücktritt John Boehners gesehen hat.

In diese Wahrnehmungslücke stößt Donald Trump. Nicht, dass er einen Sozialstaat errichten wollte, den die Basis ohnehin nicht fordert. Die möchte gerne weiter ihre Rente gesichert sehen ohne dass die Schwarzen weiter food stamps bekommen, was sich aber nicht wirklich in echte Politik übersetzen lässt. Nur ist Trump so etwas egal. Er bietet der Basis ein Ventil für ihre unartikulierten Ressentiments. Die Spitze der Partei sind loser, die vor Obama einknicken (der selbst ein loser ist, der vor den Chinesen in die Knie geht, die er, Trump, ständig besiegt). Die Rente ist unsicher, weil zu viele illegale Einwanderer im Land sind, die den hart arbeitenden Leuten auch noch ihre Löhne wegnehmen. Dazu verlagern die amerikanischen Unternehmen Jobs nach Mexiko oder China was er, Trump, unterbinden würde, in einem persönlichen Telefongespräch mit dem CEO von General Motors. Es ist die schiere Chuzpe, die Trump so bestechend macht, die Einfachheit seiner Problembeschreibungen und Lösungen. Da stört es auch nicht, dass er bei vielen Fragen quer zur Parteiorthodoxie liegt, was normalerweise jeden Kandidaten versenken würde. Trump befriedigt tiefere Bedürfnisse als die nach ideologischer Reinheit.

Nur sind all diese Vorteile, die ihn aktuell - wo die Wahlen in Iowa noch fast ein halbes Jahr entfernt sind - zwar führen lassen, aber später ernsthafte Probleme bereiten. 20-30% ist mehr als irgendein anderer Kandidat auch nur annähernd auf die Waage bringt - jetzt, wo noch deutlich zweistellig Kandidaten aktiv sind. Wenn das Feld sich erst einmal auf drei oder vier reduziert und jeder von ihnen die aufgeben dem jeweils anderen Nicht-Trump seine Unterstützung zusichert, verliert Trump im besten Fall immer noch 70-30. Und das alles setzt voraus, dass er bis Juni 2016 durchhält, was eher unwahrscheinlich scheint, da sein Abwechslungsgehalt nicht eben groß ist.

Das Problem mit diesen absolut vernünftigen Vorhersagen ist, dass Trump eigentlich gar nicht hätte soweit kommen dürfen. Alle Theorien besagen, dass er längst hätte kollabieren müssen. Nur tut er es nicht. Und ganz ohne Präzedenzfall ist sein Aufstieg auch nicht, nur muss man dazu weiter in die Geschichte zurückgehen als das primary-System alt ist, was historische Vergleiche sehr erschwert. Der letzte wirklich (selbst für seine Partei) radikale republikanische Kandidat war Barry Goldwater 1964, der aber eine ordentliche und schlagkräftige Basis in der Partei und im Süden hatte. Davor müssen wir eigentlich ins 19. Jahrhundert zurückgehen, wo die Know-Nothing-Bewegung der American Party in den 1850er Jahren auf Basis einer Idee ähnlich Trumps reüssierte. Auch sie bauten vor allem auf radikale Immigrantenfeindlichkeit, wobei es damals freilich weniger gegen Mexikaner als gegen Iren und andere katholischstämmige Einwanderer ging. Fragte man sie nach konkreten Politikvorschlägen in diese Richtung, antworteten sie stets mit "I know nothing", woher der Name Know-Nothings kommt. Lästerzungen könnten behaupten, dass Trump auf Fragen wortreich letztlich auch keine andere Antwort gibt.

Ein letzter Erklärungsversuch des Trump-Phänomens wurde von Jamelle Bouille unternommen, der Trump mit dem republikanischen Gouverneur George Wallace verglich, der in den 1960er und 1970er Jahren mit einer Botschaft Wähler um sich scharte, die der Trumps sehr ähnlich sieht: reichlich unversteckter Rassismus und unverhohlene, simple Lösungen für das "Problem". Natürlich war Wallace trotz allen Extremismus im Gegensatz zu Trump ein Politiker, der in Amt und Würden gewählt worden war - aber der Politikansatz weist ebenso verblüffende Parallelen auf wie das Elektorat, denn sowohl Trump als auch Wallace sind nicht strikt auf die Basis der Republicans beschränkt. Eine Botschaft von protektionistischem Populismus und Ausländerhass kann zumindest auf Teile der Basis der Democrats ebenso anziehend wirken.

Zwar bleibt abschließend die Wahrscheinlichkeit einer Trump-Implosion höher als eines Durchhaltens bis zu der National Convention der Republicans im Juli und noch viel mehr seiner Nominierung. Die völlige Unberechenbarkeit Trumps, die vielleicht sogar für Trump selbst gilt, aber macht ihn zum Albtraum der Parteistrategen der Republicans, die keine Chance haben, ihn zu kontrollieren. Und wenn der Egomane am Ende doch entscheidet, eine unabhängige Kandidatur zu starten - vielleicht unter dem Vorwand irgendwelcher unfairen Behandlung durch die Partei - werden die Republicans die Wahl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verlieren, weswegen der Partei alles daran gelegen ist, Trump zu neutralisieren UND im Rennen zu halten - ein Drahtseilakt, der die Chancen des letztlichen Kandidaten in der eigentlichen Wahl deutlich beschädigen könnte. So oder so führt am Phänomen Trump so schnell kein Weg vorbei.