Bernie Sanders ist bereits seit langer Zeit in der Politik aktiv. Seine Wurzeln liegen in Brooklyn, aber seine Politik ist deutlich ländlicher. Seit den 1970er Jahren begann er in der Lokalpolitik seiner Wahlheimat Vermont mitzumischen, wurde Bürgermeister, dann Repräsentant, dann Senator. Bemerkenswert ist vor allem, dass er dies alles als Independent, unter dem Label "Sozialist" tat - nicht gerade ein Wort, das übermäßig viel Sympathie im Land der Brave and Free genießt. Sanders' erster Ausflug in die Präsidentschaftspolitik fand 2011 statt, als er kurz mit dem Gedanken flirtete, Präsident Obama in den primaries der Democrats herauszufordern (in denen er keinen Gegner hatte). Seine Argumentation, dass es einer Alternative bedürfe, fand aber wenig Anklang, und so ließ er den Gedanken schnell wieder fallen und attackierte die Regierung im Senat von links.
Genauso wie Elizabeth Warren ist auch Sanders ein one-issue-candidate, also ein Kandidat, der sich vorrangig über ein Leib-und-Magen-Thema definiert. Was bei Warren Verbraucherschutz und Wallstreet-Regulierung sind, ist bei Sanders die Ungleichheit. Seine Positionen sind seit den späten 1970er Jahren ziemlich konstant: er fordert höhere Steuern für die Reichen, eine Umverteilung von oben nach unten, eine gesetzliche Krankenversicherung und andere Maßnahmen, die auf eine Reform des amerikanischen Wohlfahrtsstaats nach europäischem Vorbild hinauslaufen. Nicht umsonst nennt Sanders als großes Vorbild gerne Dänemark (auch wenn Dänemark selbst den Vergleich dankend ablehnt). Hier in Europa würde er mit seinen Positionen kaum groß auffallen; vieles von dem, was er will, ist hier längst verwirklichter politischer Mainstream. In der SPD würde er sich problemlos zurechtfinden.
In den USA jedoch ist Sanders ein Außenseiter mit geradezu radikalen Positionen. Umso überraschender sind seine seit Herbst kontinuierlich steigenden Umfragewerte. War das Clinton-Team am Anfang noch herablassend-großzügig gegenüber seiner Kandidatur, werden inzwischen schwere Geschütze ausgepackt (etwa die Betonung seines nicht gerade liberalen Umgangs mit dem Waffenthema oder der Versuch, seine gesetzliche Krankenversicherung als Angriff auf Obamacare darzustellen). Seine Attraktivität dürfte sich dabei im Wesentlichen aus derselben Quelle speisen wie Trumps: eine breite Unzufriedenheit mit dem Status Quo in Washington. Das bedeutet nicht, dass Trumps und Sanders' Wähler identisch sind oder dass ihre Positionen Ähnlichkeiten aufweisen. Interessant ist lediglich, dass die Unzufriedenheit dieselbe ist. Die Schlüsse, die Trump/Sanders und ihre jeweiligen Anhänger daraus ziehen, könnten unterschiedlicher kaum sein.
Ich möchte an dieser Stelle bemerken, dass ich Sanders' Positionen fast durch die Bank zustimme. Seine Forderung, die Verantwortlichen für die Finanzkrise zur Verantwortung zu ziehen, resoniert sofort. Gleiches gilt für Steuererhöhungen für die in den USA lächerlich niedrig besteuerten Superreichen, die Einführung eines vernünftigen und all-umfassenden sozialen Netzes und vieles mehr. Ich sehe auch keine großen Probleme beim Funktionieren dieser Pläne. Die Diskussion in den USA über die Verwirklichungsmöglichkeit eines single-payer-Systems ist geradezu absurd. In Europa gibt es zahlreiche große wie kleine Staaten, die ein solches System seit Jahrzehnten fahren. Auch die Steuern sind in Europa teils deutlich höher als in den USA, ohne dass dort die Wirtschaft zusammenbräche. Ich wäre glücklich, wenn Bernie Sanders den Großteil seiner Forderungen umsetzen könnte.
Ich betone dass, weil ich weiterhin der Überzeugung bin, dass Bernie Sanders aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Kandidat der Democrats wird. Ich betone das auch, weil ich nicht will, dass Sanders der Kandidat der Democrats wird. Um diese kognitive Dissonanz aufzulösen, müssen beide Faktoren erläutert werden.
Zwar führt Sanders aktuell die Umfragen in New Hampshire knapp an und liegt in einigen Umfragen zu Iowa vorne. Jedoch sind die beiden Staaten, wie im Blog bereits erklärt, alles andere als repräsentativ. Sie sind überwiegend weiß und ländlich geprägt. Zudem haben sie nur sehr wenig Einwohner und damit auch nur sehr wenig Delegierte. Selbst wenn Sanders beide Staaten gewinnt - nach Einschätzung praktisch aller Beobachter eine absolute Voraussetzung, um Clinton gefährlich werden zu können - hat das nur wenig Bedeutung für die weiteren primaries. Exemplarisch kann man dies am dritten Vorwahl-Staat, South Carolina, sehen. Der Staat ist deutlich urbaner als es New Hampshire und Iowa sind, und, was noch wesentlich bedeutender ist, deutlich schwarzer. Der Anteil der Schwarzen an den Wählern der Democrats in South Carolina liegt bei über 20%, während er in New Hampshire und Iowa unter 5% liegt. Und Sanders schneidet bei dieser Demographie konsistent so schlecht ab, dass South Carolina oft als "firewall" Clintons bezeichnet wird.
Der Grund dafür liegt in Bernie Sanders einseitiger Ausrichtung. Zwar betrifft seine Botschaft der Ungleichheit natürlich auch massiv die Lebensrealität von Schwarzen. Aber seine Tendenz, alles auf die ökonomische Ebene zu ziehen, kommt bei diesem Publikum überhaupt nicht an. Sanders hat konstant Probleme mit schwarzen Aktivisten, vor allem "Black Lives Matter", und hat mit seiner geradezu hochmütigen Antwort auf Ta-Nehisi Coates Frage nach seiner Unterstützung für Reparationen auch noch einen der wichtigsten schwarzen Intellektuellen vergrault. Dazu kommt, dass Sanders auf dem Gebiet der Waffenregulierung geradezu konservativ ist, was er als Senator eines ländlichen Kleinstaats wohl auch sein muss. Aber hier ist er reichlich entfernt von der Basis der Democrats, und Clinton erinnert die Wähler nur zu gerne daran.
Clinton genießt zudem eine ungeheure Unterstützung durch die Partei selbst, der Sanders nicht einmal angehört. Diese Unterstützung ist, wie bereits erklärt, extrem wichtig. Auf dieser Basis hatte ich schon vor Jahresfrist einen Sieg Clintons prognostiziert, und an der Einschätzung hat sich wenig geändert. Bis vor kurzem hatte Sanders im vierten Vorwahlstaat, Nevada, nicht einmal ein Büro. Er hat hier mittlerweile zwar aufgeholt, aber Clinton hat Nevada in eine wahre Bastion verwandelt. Danach kommen, vor allem in Richtung Super Tuesday, eine ganze Reihe bevölkerungsreicher Südstaaten zum Zuge - und die sind Clinton-Territorium, schon immer gewesen. Wenn der Nordosten und Kalifornien und damit die liberalen, Bernie-affinen Bastionen wählen, kann das Rennen gut und gerne schon entschieden sein.
Natürlich besteht nirgendwo ein Automatismus, und ein Fehler Clintons kann alles zum Einsturz bringen. Aber Sanders muss eine ganze Reihe von Herausforderungen mit Bravour bestehen. Scheitert er auch nur an einer Hürde, so dürfte seine Kandidatur Geschichte sein. Und das ist wahrscheinlich auch besser so.
Denn so sehr ich mit seinen Positionen sympathisiere, eine Kandidatur Sanders' ist eine gewaltige Gefahr. Nicht, weil er sein Programm durchsetzen könnte. Wenn ihm das gelänge - Hut ab, Amerika wäre ein besserer Ort. Dummerweise wäre es für die USA eine Katastrophe, wenn ein Republican die Wahl gewinnt. Ein Sieg der GOP 2012 wäre bedauernswert gewesen, denn Mitt Romney hätte Politik für die Reichen und Obamas Erfolge zunichte gemacht. Aber die Bewerber 2016 sind geradezu extremistisch, völlig realitätsfern und höchst aggressiv. Ihre Politik wäre eine Kombination der schlechten Teile von Barry Goldwater, Richard Nixon und George W. Bush. Der nächste Präsident der Democrats hat nicht die Aufgabe, das Land zu transformieren. Er hat die Aufgabe, Obamas Errungenschaften abzusichern und Feintuniung zu betreiben. Und dafür ist Sanders' Agenda radikalen Wandels schlecht geeignet.
Denn beide Häuser des Kongresses sind gerade fest in der Hand der Republicans, und zumindest das House of Represenatives wird nur dann vor 2020 eine demokratische Mehrheit haben können, wenn Sanders die Wahlwerte Obamas von 2008 deutlich übertrifft. Und das ist eine reichlich optimistische Annahme. Abseits eines solchen Wunders erreicht Sanders genau gar nichts. Seine Pläne erfordern alle die Mitarbeit der Legislative, und seine einzige Strategie, mit einem zu über 90% Wahrscheinlichkeit republikanischen Kongress umzugehen ist die Vorstellung, dass sein Sieg eine solche Euphorie für hope and change hervorrufen würde, dass der Kongress gezwungen wäre, mit ihm zusammenzuarbeiten und alle Parteistreits beiseite zu legen. Genau das war Obamas Prämisse 2008. Wir wissen, wie gut das funktioniert hat. Und Bernie Sanders ist, bei aller Liebe, kein Obama.
Stattdessen ist Sanders eine echte Belastung für die Partei im Wahlkampf. Er hat keine Verbindungen in die Partei, weswegen der Wahlkampf zwangsläufig schlecht koordiniert sein wird. Sanders ist für die Partei unberechenbar, und das DNC wird einen Teufel tun und seine Ressourcen einfach einem Kandidaten unterstellen, der dezidiert nicht Mitglied der Partei sein will. Allein das macht Sanders zu einem wackeligen Kandidaten.
Dazu kommt aber, dass Sanders zwar seit über 40 Jahren in der Politik aktiv ist, bisher aber keine große Rolle in der Bundespolitik gespielt hat. Clinton ist nicht gerade die beliebteste Politikerin oder beste Wahlkämpferin, aber jeder kennt sie. Die ist eine berechenbare Größe, und die Rechnungen sehen gut aus. Sanders ist eine wild card. Er wurde noch nie von den Medien besonders intensiv durchleuchtet. Hunderprozentig lagern in seinem Keller noch eine Menge bisher unentdeckter Leichen wie sein Abstimmungsverhalten bei Schusswaffenregulierungen. Einige davon wird Clinton in den nächsten Wochen noch finden. Den Rest würden die Medien und der RNC besorgen, sobald Sanders seinen Status als liebenswerter Underdog verloren hat. Und dieser Tag wird kommen, so sicher wie das Amen in der Kirche, denn er kommt immer. So funktioniert Wahlkampf.
Verliert Sanders aber die Wahl, dann kontrollieren die Republicans alle drei Regierungszweige:
- eine Mehrheit im Supreme Court, die auf über eine Dekade gesichert sein wird.
- eine solide Mehrheit wenigstens im House of Representatives, wahrscheinlich auch im Senat
- das Weiße Haus
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