Im Folgenden finden sich einige interessante Artikel über die ich in letzter Zeit gestoßen bin sowie einige Anmerkungen dazu. Zur besseren Bezugnahme in den Kommentaren sind die Artikel durchnummeriert. Der jeweilige Kommentar von mir setzt voraus, dass die verlinkten Artikel gelesen wurden.
1) Twitter-Diskussion über Beleidigungen
Nachdem der Vox-Autor Will Wilkinson sich über einen Tweet lustig machte, der die Bibel zur Antwort auf alle Fragen (nicht nur philosophischer Natur, sondern wirklich aller Fragen) erklärte, entbrannte eine Diskussion darüber, ob es sich dabei um eine unzulässige Polemik gegen Christen handle. Die Diskussion - man muss im Thread ein wenig herumscrollen - involviert unter anderem Wilkinson selbst (der klar progressiv ist), Matthew Yglesias von Vox (dito), Lyman Stone vom Federalist (konservativ), Brendan B. Dougherty von der New York Times (dito) und Damon Linker von der Week (Mitte-Rechts). Sie ist ein faszinierender Mikrokosmos des Grabens zwischen den beiden Seiten. Ygelesias' Beobachtung, dass die Konservativen zwar beständig die progressiven Forderungen nach "safe spaces" lächerlich machen und unter dem Banner ihres political-correctness-Kreuzzugs angreifen, gleichzeitig aber safe spaces für sich selbst fordern, ist right on the nose, wie der Amerikaner sagen würde. Geht es gegen irgendwelche Minderheiten, müssen die es halt hinnehmen - schließlich ist ein bisschen Kritik oder Polemik ja von der Meinungsfreiheit gedeckt. Aber wehe, es geht gegen einen selbst. Dann ist es ein Unding.
2) China made solar panels cheap. Now it's doing the same thing for electrical buses.
David Roberts hat einen ausführlichen und wohl recherchierten Artikel darüber, wie die chinesische Wirtschaftspolitik auf dem Markt für erneuerbare Energien agiert. Das Grundprinzip ist dabei recht simpel: Subventionen dass es kracht. Wirtschaftlichkeit spielt für die chinesische Regierung dabei erst einmal keine Rolle; stattdessen wird ein Produkt gepusht, für das es bisher keinen beziehungsweise einen unterentwickelten Markt gibt. Auf diese Art und Weise wurden die Chinesen Marktführer in Sachen Solartechnik, wo Deutschland früher einmal führend war, und drängen gerade massiv in den Elektrobus-Markt, der bisher in keinem Land besonders weit entwickelt ist.
Die Macht des monopolistischen Technikvorsprungs erhöht dann relativ schnell die Eingangshürden für andere Hersteller (was Daimler, Bosch et al ja gerade bereits beim Elektroantrieb erfahren) und sichert die eigene Stellung ab. Wie mit dieser Herausforderung umzugehen ist bleibt dabei unklar - eine marktwirtschaftliche Demokratie hat gewisse Probleme damit, einfach eine Branche querzusubventionieren, und ist extrem anfällig gegenüber einzelnen scheiternden Unternehmen. Das hat man in den USA an Solyndra gesehen: obwohl der Solarpanelhersteller nur in einem (relativ) geringen Umfang Subventionen der Bundesregierung erhalten hat, wurde er im politischen Meinungsstreit ausgeschlachtet und blockierte Subventionen für andere, erfolgreichere Betriebe.
Das Aufreiben der Förderung Erneuerbarer Energien in Deutschland, das zu deren schleichenden Bedeutungsverlust seit dem Ende von Rot-Grün geführt hat, ist ein Alleinstellungsmerkmal funktionierender Demokratien, in denen Lobbys und andere Interessengruppen auch gegen das explizite Interesse der jeweiligen Regierung Macht ausüben können. In China ist dies auf diese Art nicht vorstellbar, was in diesem Fall zu Vorteilen führt (und zu potenziell katastrophalen Fehlinvestitionen, wenn sich die Führungsspitze täuscht, was mittelfristig unausweichlich ist).
Trotzdem ist es ein gutes Zeichen, dass China sich bewusst darüber ist - anders als etwa die EU oder die USA aktuell - dass der Klimawandel einerseits eine akute Bedrohung ist und aktiv bekämpft werden muss und andererseits auch eine gewaltige Wachstumschance mit vielen Jobs darstellt.
3) Die Methode Spitzer
Ich bin, gelinde gesagt, kein Fan von Martin Spitzer. Ich halte ihn für einen Quacksalber, der auf maximale Polemik setzt um seine eigene Marke zu verkaufen. Er dürfte die Einzelperson in Deutschland sein, die dem Verhältnis unserer Gesellschaft zu den neuen Medien und der Digitalisierung generell am meisten Schaden zugefügt hat. Stöckers Artikel auf SpOn, in dem er Spitzers Methoden ausführlich zerlegt, ist daher hoch willkommen und der Lektüre anempfohlen.
Ich erinnere mich noch, dass ich 2012/2013 seinerzeit im Referendariat eine angeregte Diskussion mit einem älteren (und sehr geschätzten) Kollegen zum Thema hatte. Ich hatte, weil ich ihm kein Unrecht tun wollte, Spitzers Buch "Digitale Demenz" komplett gelesen und kommentiert. Wir sind bei dem Thema nicht zusammengekommen, aber ich empfand Spitzers Argumentation schon damals als sehr wenig überzeugend und seine beständige Nutzung seines Expertenstatus mit der Holzlatte als nur nervig.
4) Ist YouTube der große Radikalisierer weil es zu neutral ist?
Eine neue Studie hat untersucht, mit welchem Mechanismus YouTube zu der allgemeinen Polarisierung beiträgt, die in der entwickelten Welt derzeit zu beobachten ist. Das Ergebnis ist etwas überraschend: Es ist YouTubes (und damit Googles) weltanschauliche Neutralität, die paradoxerweise dafür verantwortlich ist. Der Grund dafür ist eigentlich einleuchtend. In seiner Weigerung, anders als die klassischen Medien (man denke Tagesschau oder die großen Tageszeitungen) übt YouTube keine Gatekeeper-Funktion aus. Das heißt, es steuert nicht, welche Inhalte die Zuschauer zu sehen bekommen (während selbst der tumbste Mitarbeiter der Tagesshow offensichtlichen Bullshit aus den Nachrichten heraushalten kann).
Das heißt aber unintuitiv nicht, dass es keinerlei Auswahlfunktion ausübt; diese wird allerdings den Algorithmen überlassen. Die Konsequenz ist die viel lamentierte Filterblase: Schaue ich mir ein AfD-kritisches Video, schlägt der Algoritmus von YouTube mir weitere AfD-kritische Videos vor und geht, stets kundenorientiert, in die Richtung, die mir den besten und meisten Stoff verspricht - praktisch immer die radikalste und polemischste Version. Ob sich dieses Problem durch cleverere Algoritmen mittelfristig lösen wird weiß ich nicht, ich habe dazu zu wenig Verständnis für Informatik. Mir scheint allerdings nicht machbar, dass YouTube tatsächlich händisch editioriale Funktionen ausübt, und auch nicht sonderlich wünschenswert.
Abseits dieser spannenden Ergebnisse sollte noch einmal hervorgehoben werden, dass die Neuen Medien NICHT die treibende Kraft hinter der Polarisierung sind, auch wenn sie dafür beständig als Kronzeugen herhalten. Sie sind mitverantwortlich und pushen einen großen Teil dieser Entwicklung, aber ohne die aktive Mithilfe der klassischen Medien hätten sie niemals den Einfluss, um die ganze Gesellschaf so zu polarisieren wie wir das gerade beobachten können.
5) The West has shaped the world with rules. Trump is letting China shape it with roads
Die eigentliche Kernthese des Artikels ist sicherlich in ihrer krassen Kontrastierung nicht haltbar. Es ist nicht so, als ob die westliche Außenpolitik vor Trump kohärent liberale Regeln durchgesetzt und auch selbsgt eingehalten hätte. Die grundlegende Trendentwicklung, die hier beschrieben wird, ist aber spannend: denn tatsächlich übte der Westen seinen Einfluss früher über Regelwerke aus, die er zwar zu dehnen und teilweise zu ignorieren oft trüblich wenig Probleme hatte, die aber dennoch liberalen Grundsätzen gehorchten. Beispiele hierfür sind die Vereinten Nationen, sind die WTO, sind die NATO, sind die Entwicklungshilfeministerien der Länder und die vielen assoziierten Hilfsorganisationen.
China macht wenig Geheimnis daraus, dass es wenig auf solche Regelwerke gibt und eher mit puren Investments arbeitet. Konkret bedeutet das, dass chinesische Entwicklungshilfe nicht an die Einhaltung bestimmter Werte (wie die Menschenrechte der UN-Charta, die durchzusetzen es sich eigentlich verpflichtet hat) gekoppelt ist und auch das klassisch liberale Regelwerk ignoriert, konkret: Regeln für ausgeglichene Haushalte und Netto-Exporte, die - zu Recht massiv kritisiert - die westliche Entwicklungshilfe jahrzehntelang dominierten und ausgesprochen unterwältigende Ergebnisse vorzuweisen haben. Die vorläufigen Ergebnisse chinesischer, von ideologischem Ballast befreiter (und unmoralischer) Entwicklungshilfe sehen jedenfals zumindest pointiert deutlich besser aus. Anstatt zu versuchen, den Washington Konsens in Ruanda durchzusetzen, erwarten die Chinesen nur eines: Loyalität. Das bedeutet fortgesetzte Unterdrückung in diesen Ländern und wenig Aussicht auf Liberalisierung, aber die Ergebnisse sind wenigstens teilweise überzeugend. Das stürzt nicht nur das westliche Entwicklungshilfemodell, sondern das gesamte auf Regeln basierende System der internationalen Ordnung, gegen das sich Trump derzeit so öffentlichkeitswirksam wendet, in die Krise.
6) "Keep your politics out of my games!"
Das Geschichtsinstitut der Wiener Universität tut sich bereits seit einigen Jahren damit hervor, Pionierforschung zu betreiben indem es die Implementierung von Geschichte in Videospielen untersucht. Das Institut unterhält einen Blog, auf dem die besten studentischen Abschlussarbeiten veröffentlicht werden (und inzwischen auch andere Beiträge). Der oben verlinkte Beitrag weist völlig zu Recht darauf hin, dass die häufige Kritik aus der #Gamergate-affinen Szene "keep your politics out my games" in Richtung progressiver Kritiker der aktuell verbreiteten Klischees und Stereotypen keinerlei Grundlage hat. Die Spiele sind bereits politisch, nur haben sie aktuell eine Richtung, die sich mit der Gewöhnung ihrer Hauptkundschaft (junge Männer) deckt, was sich vor allem in militärisch-gewaltvollen Narrativen und männlichen, häufig emotionslosen Antihelden niederschlägt - und natürlich in einer Propagierung militärischer und generell gewalttätiger Konfliktlösun.
7) As West fears the rise of autocrats, Hungary shows what's possible
Dieser hervorragend recherchierte Hintergrundartikel der New York Times beschreibt Orbans Mechanismen zur Verwandlung der einst hoffnungsvollen ungarischen Demokratie in ein autoritäres Land, das deutlich mehr mit Russland als mit seinen westlichen Nachbarn zu tun hat. Die Entwicklung der Rechtspopulisten in Osteuropa ist ein grundsätzliches Problem für die EU, auf das diese bisher keine Antwort gefunden hat. Besonders um ungarischen Fall ist dies auffällig, weil die Mitgliedschaft von Fidesz in der EVP eine Dauerheuchelei der CDU/CSU nötig macht. Noch wesentlich tragischer ist die aktuelle Affäre der CSU mit Fidesz, in der es CSU-Granden für nötig halten, Gerhard Schröder nachzuahmen und Orban und seine Spießgesellen für lupenreine Demokraten zu erklären. Der Kotau vor den östlichen Halbdiktatoren ist wahrlich ein großkoalitionäres Projekt, und LINKE und FDP überbieten sich ja derzeit auch im Putin-verstehen. Für europäische Demokraten ist das alles wenig hoffnungsvoll.
8) Antisemitismus als Marketing-Gag
Antisemitismus ist europaweit ein zunehmendes Problem. Die Labour-Party ist seit Corbyns Übernahme permanent wegen Antisemitsmusvorwürfen in den Schlagzeilen, in Deutschland stellt die AfD bekannte Rechtsterroristen und verlangt Listen von jüdischen Personen während junge islamische Migranten die typisch israelfeindliche Spielart aus dem Mittleren Osten mitbringen. In Osteuropa ist der Antisemitismus ebenfalls wieder virulent; rund 20% der Bevölkerung stellen in den Ländern östlich der Elbe offen antisemitische Ansichten zur Schau, von Russland gar nicht zu reden.
Diese Entwicklungen allein sind schon beunruhigend genug, und da kommt aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft auch noch der beständige Versuch, das Verhältnis zu Judentum und Holocaust zu "normalisieren". Die merkwürdigen Blüten, die dies treibt, sind die Irrungen linker "Israelkritik" (wie bei Labour) oder der Vorwurf Jakob Augsteins, mit dem Tragen der Kippa zu "provozieren" - oder eben wie im oben verlinkten Artikel eine Lesung von "Mein Kampf" zu veranstalten und Besuchern mit Hakenkreuzbinde freien Einlass zu gewähren und den anderen das Tragen des Davidsterns zu empfehlen. Habt ihr's euch noch alle?
9) This PSA about Fake News from Obama is not what it appears
Der Regisseur Jordan Peele hat neben dem Drehen von Filmen noch ein anderes Talent: er gibt eine ziemlich gute Obama-Imitation ab. Diese Fähigkeit nutzt er, um in einem Video auf die Gefahren von Fake News aufmerksam zu machen, indem Stimmkünstler wie er einfach prominenten Politikern Worte in den Mund legen. Dies ist in Ländern mit funktionierender Medienlandschaft erst einmal ein überschaubares Problem - selbst wenn FOX News die rechtsradikale Filterblase in den USA mit einem gefälschten Obama-Video schalu macht, würden die anderen US-Sender unabhängig voneinander Gegenbeweise liefern. Aber in Ländern mit einem zunehmend staatlich gesteuerten Mediensektor wie Russland oder Ungarn könnte dies ein ernstes Problem werden, weil die Regierungen dort über die Mittel verfügen, wenn sie wollen solche gefälschten Clips zu pushen und die Realität aus der Berichterstattung zu drücken. Auch in den Filterblasen der extremen Ränder in den sozialen Netzwerken können solche Fälschungen weite Kreise ziehen.
10) How James Comey is allowing history to repeat itself
James Comeys Buch wird gerade in den Medien hoch- und runtergehypt, weil es einige gezielte Indiskretionen und Polemisierungen gegen Trump nutzt (eine ähnliche Mechanik katapultierte ja auch "Fire and Blood" in die Bestsellerlisten, das Ding steht sogar bei meinem örtlichen Rewe...). Im Endeffekt aber bleibt es ein Produkt seines Autors: Comeys Buch ist vor allem über James Comey und strickt dessen Mythos als unbestechlicher Staatsdiener. Dabei gelingt es Comey geschickt, seine eigene alles andere als rühmliche Rolle im Wahlkampf 2016 nachträglich reinzuwaschen, indem er sich als ein aufrechter Kämpfer gegen Trump positioniert, und aus mir unerfindlichen Gründen fressen ihm viele Progressive dieses Narrativ aus der Hand - ich fürchte aus einer falsch verstandenen "Feind meines Feindes"-Einstellung. Wie der oben verlinkte Artikel aber korrekt zeigt, erlaubt man auf diese Art der Geschichte sich zu wiederholen, weil die völlig falschen Schlüsse aus der Affäre gezogen werden.
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