Montag, 31. Mai 2021

Die verdrängte Dekade, Teil 5: Eurosklerose, die zweite

 

Teil 0 mit einleitenden Bemerkungen, Teil 1 mit einer Betrachtung der außenpolitischen Rolle der USA, Teil 2 mit einer Analyse der Finanzkrise 2007/2008, Teil 3 mit einer Beschreibung der Rückkehr der Realpolitik und Teil 4 mit der Analyse der europäischen Politik gingen diesem Artikel voraus.

Im Sommer 2009 war die deutsche Position, wonach die Krise ein angelsächsisches Phänomen wäre und Deutschland im Speziellen und Europa im Allgemeinen nichts anginge, endgültig unhaltbar geworden. Es ist unklar, ob Merkel und Steinbrück das je wirklich geglaubt haben oder ob sie nur der Überzeugung war, es sei etwas, das sich politisch gut verkaufen lassen. Grundsätzlich spielt das auch keine Rolle. Die Wirkung der deutschen Ignoranz war dieselbe: Während das Ausland die Deutschen bestürmte, sie mögen doch ihre Verweigerungshaltung aufgeben, die Realitäten anerkennen und etwas gegen die drohende Implosion des europäischen Teils des transatlantischen Finanzsystems unternehmen, steckte sich Berlin die Finger in die Ohren und tat nichts.

Dies ging so weit, dass der britische Premierminister Gordon Brown verzweifelt versuchte, Peer Steinbrück zu erreichen und sogar persönlich (!) im Willy-Brandt-Haus und im Ministerium anrief. Steinbrück ließ sich am Telefon verleugnen. Man könnte diese Episode als eine Groteske abtun, wenn sie nicht so emblematisch für das Geschehen einerseits und so konsequenzenreich andererseits wäre. Die deutsche Politik weigerte sich beharrlich, sich den Realitäten zu stellen, und sie weigerte sich auch, irgendetwas gegen das drohende Debakel zu unternehmen.

Was die Lage änderte war die Pleite der Hypo, diverser Landesbanken und der KfW. Sie alle waren - selbstverständlich, möchte man hinzufügen - mit dem transatlantischen Bankensystem verknüpft und deswegen entgegen aller anderslautender Aussagen aus Kanzleramt und Finanzministerium sowohl Beteiligte als auch Opfer der weltweiten Verwerfungen. Diese Welle kam in Deutschland nur etwas später an als in vielen anderen Staaten (auch eine auffallende Parallele zur Corona-Pandemie, wo deutsche Selbstgefälligkeit die ersten Reaktionen regierte).

Das Duo Merkel-Steinbrück, das sich bislang jeglicher Aktion verweigert hatte, geriet nun in Panik. Ohne Absprache mit den europäischen Nachbarn, den Mitgliedern der Euro-Gruppe oder sonst irgendwem traten sie vor die Presse und verkündeten eine Garantie der deutschen Spareinlagen. Innenpolitisch war das ein durchaus sinnvoller Zug, um einen Bankrun zu verhindern. Außenpolitisch war das Signal verheerend. Denn Deutschland machte damit unmissverständlich klar, dass es keinerlei Verantwortung für den Euroraum als Ganzes sah und sich nicht mit anderen Ländern abzusprechen gedachte.

Dieses Stricken mit der heißen Nadel war allerdings nicht in der gesamten deutschen Politik verbreitet. Es war vielmehr ein typisches Feature des Merkel'schen Regierungsstils. Als 2009 die SPD krachend die Bundestagswahlen verlor und eine mit 14,9% ausgestattete FDP triumphal in die Regierung einzog, wurde Wolfgang Schäuble Finanzminister. Er sollte in dieser Rolle in den kommenden vier Jahren gewaltigen Einfluss haben, und anders als Angela Merkel hatte er einen sehr langfristigen Plan - einen Plan, der in bestimmten Teilen der bürgerlichen Intellektuellen schon seit Jahrzehnten gehegt wurde und für den Schäuble nun Morgenluft witterte.

Es ist faszinierend, dass Schäuble insofern mit Sarkozy und der traditionellen französischen Außenpolitik auf einer Linie lag, als dass er zur Lösung der Krise eine stärkere europäische Integration befürwortete. In der Ausgestaltung dieser verstärkten Integration unterschieden sich seine Vorstellungen wenig überraschend deutlich von den französischen Ideen, aber er hatte einen starken Präzedenzfall vor Augen: Schäuble war nicht nur Zeuge, sondern ein zentraler Akteur in den Maastricht-Verhandlungen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gewesen, in denen die Deutschen die Zustimmung zur gemeinsamen Währung gegen die Übernahme der Bundesbankpolitik in die neue EZB tauschten, wozu auch die stringenten Haushaltsrichtlinien - 60% Maximalverschuldung, 3% Neuverschuldung - gehörten, die in der Griechenlandkrise problematisch werden würden, wie wir bald sehen werden.

Ein alternatives Europa, in dem Deutschland entlang dieser Linien - einer Entmachtung der Politik zugunsten dem harschen Urteil der internationalen Finanzmärkte - eine tiefere europäische Integration durchsetzte ist mit Sicherheit eines, das in der Eurokrise eine lange Leidensphase der Austerität durchgemacht hätte, wesentlich härter, als es in der tatsächlichen Krise der Fall war. Aber Schäubles Vorschlag ging nirgendwohin.

Der Grund dafür lag in Angela Merkel. Sie zeigte hier ihre Grundlinie, von der sie die gesamte Eurokrise nicht abrücken würde und die letztlich einen Großteil ihrer Kanzlerschaft bestimmt hatte: nur keine großen Änderungen. Merkel hatte gerade erst den schwierigen Lissabon-Vertragsprozess zur Verabschiedung des Vertrags in allen 27 Mitgliedsstaaten zu Ende gebracht. Das letzte, was sie wollte, war, das komplexe Vertragswerk erneut aufzuschnüren und Revisionen des Vertrags zu verhandeln. Ihre Maßgabe war, dass die Krise im bestehenden System gelöst werden müsste. Es kam also nicht zur Verschärfung der Regeln, wie Schäuble sie wünschte, oder zur Änderung der Richtung, wie sie etwa Sarkozy forderte. Stattdessen schallte aus Berlin ein entschlossenes "Weiter so".

Es zeigte sich hier ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der deutschen Krisenpolitik, die effektiv die europäische werden sollte, und der angelsächsischen. Wo es London und Washington darum ging, möglicht schnell die Krise abzufedern und zur Tagesordnung zurückzukehren - die Rezession v-förmig zu gestalten und einen raschen Aufschwung herzustellen - hatte die deutsche Politik einen wesentlich größeren Bezugsrahmen. Akteure wie Wolfgang Schäuble oder Jens Weidmann, die effektiv die Große Koalition zumindest im Finanzbereich im schwarz-gelben Kabinett fortführten, dachten im Horizont eines Jahrzehnts. Für sie war die Krise nicht ein kurzfristiger Einbruch ins business as usual, sondern ein Symptom tiefgreifender Ungleichgewichte in Europa, die es auszumerzen galt.

Die Analyse war im Endeffekt dieselbe, wie sie bereits die europäischen Regierungen zur Weltwirtschaftskrise umgetrieben hatte. Die europäischen Lohnstückkosten waren zu hoch, europäische Produkte auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. Im deutschen Narrativ hatte man selbst das Problem durch die Agenda2010 und die Hartz-Reformen überwunden. Dieselben Kürzungen musste Europa nun auf breiter Ebene durchführen; die gesamte EU sollte Deutschland nachmachen und auf Export in die restliche Weltwirtschaft setzen. Es war eine typisch deutsche Politik, und für Berlin bestand hier nicht nur die Chance, sondern auch die Pflicht, den Rest Europas am deutschen Wesen genesen zu lassen.

Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, diese Politik rein als Austerität zu beschreiben. Auch andere deutsche Kriseninstrumente wurden auf ganz Europa ausgerollt, am prominentesten das Kurzarbeitergeld. Dadurch sollten scharfe Anstiege der Arbeitslosenzahlen vermieden und die direkten Krisenfolgen so abgefedert werden, dass möglichst viele Menschen in Lohn und Arbeit blieben. Die Resultate waren insgesamt überzeugend; die Arbeitslosenzahlen erreichten nie die Höhe, wie sie sie etwa in Großbritannien und den USA erreichten. Viel Elend konnte auf diese Art vermieden werden. Der starke Sozialstaat, wie er besonders in Deutschland, aber eigentlich in ganz Westeuropa etabliert war, ist geradezu die Grundlage und Voraussetzung für die deutsche Strategie. Diese europaweite Fokussierung auf Kurzarbeitergeld als Krisenbewältigung trug merkliche Früchte in der Covid-Pandemie 2020/21.

Doch galt dies genauso für die Swap-Lines nicht für alle europäischen Staaten. Denn eine gemeinsame Finanzierung oder gemeinsame Haftung gab es explizit nicht. Stattdessen bestand Deutschland darauf, dass alle Euro-Staaten sich weiterhin an den Kapitalmärkten refinanzierten. Es war die Peitsche dieser Politik: Wer von den Finanzmärkten als zu schwach gesehen wurde, konnte sich nicht refinanzieren; als einziger Ausweg blieb Austerität. Griechenland sollte bald schmerzlich erfahren, was das bedeutete.

Die korrupte christdemokratische Regierung (ND) wurde 2009 von einer nicht minder korrupten sozialdemokratischen Regierung (Pasok) abgelöst, die 2012 wiederum von der ND ersetzt wurde. Keine der beiden Volksparteien war in der Lage, die traditionellen griechischen Klientelnetzwerke zu durchbrechen, die für eine Reform notwendig gewesen wären - egal in welche Richtung. Das führte 2012 zur Implosion der Pasok - eine Entwicklung praktisch aller sozialdemokratischer Parteien in der verdrängten Dekade. Stattdessen stieg die linkspopulistische Syriza auf, die 2015 schließlich an die Regierung gelangte. Ihre harsche Kritik der Europolitik versprach einen alternativen Weg, wie er vor allem durch den auffälligen Finanzminister Yannis Varoufakis verkörpert wurde.

Die Griechen rannten dabei jedoch beständig gegen die Mauern der europäischen Realpolitik. Denn Athen war isoliert. Obwohl Spanien, Italien, Irland und Portugal sehr ähnliche Probleme hatten und Frankreich, in dem seit 2012 der sozialdemokratische Francois Hollande regierte und einen wesentlich konfrontativeren Kurs gegenüber Berlin zu fahren versuchte, der Haltung Syrizas grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstand, war gegen die deutsche Blockadehaltung nichts zu machen.

Diese Blockadehaltung genoss in Deutschland umfassende Unterstützung. Keine der vier etablierten Parteien besaß irgendwelche Sympathien gegenüber Syriza; einzig die LINKE war glühender Fan, was sie jedoch außenpolitisch nur einmal mehr ins Abseits stellte. Doch abgesehen von der Überzeugung, dass es keine Vergemeinschaftung der europäischen Schulden oder gar Wirtschaftshilfen an Athen geben sollte, gab es wenig Einigkeit, weder im Bundestag im Allgemeinen noch in der Koalition im Speziellen.

Wolfgang Schäuble, der rechte Flügel der CDU und die FDP waren dafür, Griechenland pleitegehen zu lassen. Ihre gesamte Politik war darauf fokussiert, das Land aus dem Euro hinauszudrängen. Auf eine merkwürdige Art waren Schäuble und sein Intimfeind Varoufakis in dieser Beziehung wie siamesische Zwillinge, denn auch Varoufakis legte es auf den Austritt Griechenlands aus der Eurozone an (was dann ja auch zu seinem Ausscheiden aus der Syriza-Regierung führte, die zu diesem Schritt genauso wenig bereit war wie Angela Merkel). Wo sich die deutschen Konservativen und Ordoliberalen die Umsetzung ihres langfristigen Plans erhofften, glaubte Varoufakis an die Wiedergewinnung der griechischen Souveränität.

Hierfür gab es mehrere verschiedene Ansätze.Varoufakis versuchte zuerst, Unterstützung in den USA zu gewinnen. Diese wünschten nichts sehnlicher, als dass die EU eine Art Marshallplan für Griechenland auflegte, aber das Weiße Haus gab unmissverständlich zu verstehen, dass man sich in dieser Sache nicht gegen den Verbündeten Deutschland stellen würde. Hier war keine Hilfe zu erwarten. Varoufakis versuchte es dann an anderer Stelle. Mit Tsipras' Rückendeckung versuchte er, Kredite in Russland und China zu bekommen und die Drohkulisse eines sich in die Nähe dieser Länder orientierenden Griechenlands aufzubauen. Überraschend erhielt er auch hier Abfuhren: Beijing und Moskau erklärten den Syriza-Politikern, dass sie Griechenland als in der deutschen Interessenssphäre liegend betrachteten und sich nicht einzumischen gedachten.

Für Griechenland musste diese Nachricht als ein Schock gekommen sein. Sie waren Berlin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es gab nur noch eine Möglichkeit, und Varoufakis drängte Tsipras, sie zu nutzen: sich die Waffe an den Kopf zu halten und zu drohen, abzudrücken. Die Idee war, dass die Troika nicht in der Lage sein würde, einen unilateralen Schuldenschnitt durch die griechische Regierung und unkontrollierten Austritt aus dem Euroraum zuzulassen und verhandeln müsse (eine Illusion, der sich nur ein Jahr später auch die Briten hingeben sollten). Doch gerade die Troika hatte dafür gesorgt, dass diese Drohung ein stumpfes Schwert war.

Die USA hatten Griechenland nicht vollständig aufgegeben. Die Obama-Regierung erzwang nämlich im Verbund mit Frankreich und anderen Gegnern der deutschen Politik eine Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IMF), der ein Drittel der berühmt-berüchtigten Troika bildete. Es war das erste Mal, dass der IMF in Europa aktiv wurde. Bislang hatte die Institution die Zuständigkeit gehabt, Entwicklungsländer auf den Washington Consensus zu pressen und für westliche Kapitalgeber attraktiv zu machen (mit, sagen wir, gemischtem Erfolg). Nun  wurde er benutzt, um die deutsche Politik zu konterkarieren und eine Pleite Griechenlands zu verhindern. Man sollte das nicht auf irgendeine aufgeklärte Haltung jenseits des Atlantiks schieben wollen. Das letzte, was die Obama-Regierung wollte, war eine von Europa ausgehende Welle von Bankenpleiten, die die gerade erst stabilisierten US-Banken mit sich riss - eine Haltung, die den Deutschen herzlich egal war.

Doch die Troika-Politik hatte zumindest einen Effekt gehabt: über die Jahre der christdemokratischen ND-Regierung waren tranchenweise, Notkredit für Notkredit, die griechischen Schulden aus dem privaten in den staatlichen Sektor gewandert. Als Syriza 2015 an die Macht kam, waren die toxischen griechischen Papiere weitgehend nicht mehr in den Bilanzen der großen Player wie der Deutschen Bank, die sich hier verzockt hatten, sondern in den Bilanzen der EZB. Das öffnete zwar theoretisch die Tür zu einer politischen Lösung; praktisch aber hielt die deutsche Blockadehaltung diese geschlossen. Tsipras weigerte sich, Varoufakis' Vabanquespiel zu unterstützen und akzeptierte stattdessen das Ultimatum der EU. Seither leidet Griechenland zwar weiter und ist von einer Gesundung immer noch weit entfernt - eine Krisengefahr geht von dem Land nicht mehr aus, an dem ein Exempel statuiert wurde.

Doch auch Schäuble und die FDP konnten ihre Ziele nicht umsetzen. Ihr Plan war gewesen, das Exempel Griechenlands als Brechstange zu benutzen, um den neoliberalen Traum der Entkopplung von Politik und (Finanz-)Wirtschaft umzusetzen. Doch weder war Merkel bereit gewesen, die europäische Krisenpolitik zugunsten einer größeren Einheit der Wirtschaftspolitik zu ändern, noch war sie bereit, die radikalen Wünsche der CDU-Konservativen und FDP mitzutragen.

Dies führte zu der merkwürdigen innenpolitischen Situation, dass Merkel für ihre Krisenpolitik ab 2012 im Bundestag keine eigene Mehrheit besaß. Konnte sie 2010/2011 mit nationalistischen Tönen (besonders ekelhaft im Wahlkampf Nordrhein-Westfalen, der wie kaum etwas anderes die Linien ihrer Griechenlandpolitik bestimmte) und Appellen zur Einheit noch eine "Kanzlermehrheit" erzwingen, brauchte sie im späteren Teil des Kabinetts die Stimmen der eigentlich oppositionellen SPD, um überhaupt noch Außenpolitik betreiben zu können. Da die SPD hierzu bereit war - ebenso wie weite Teile der schwarz-gelben Koalition - war es möglich, eine große Kontinuität der bisherigen deutschen Krisenpolitik zu wahren. Für die FDP wirkte sich das fatal aus. Sie musste als Regierungspartei eine ungeliebte Politik mittragen, was sie - wie wir im nächsten Teil ausführlicher betrachten werden - 2013 aus dem Bundestag fegte.

Es sei in diesem Zusammenhang übrigens erwähnt, dass ausgerechnet die britische Regierung eine dritte Reformoption für die EU - neben der französischen und Schäuble'schen - auf den Tisch legte, als Premier David Cameron 2015 einen umfassenden Reformkatalog vorschlug, der die EU deutlich in eine Richtung Freihandelszone geschoben hätte. Es war ein schlecht vorbereiteter und wenig durchdachter Versuch Camerons, innenpolitischen Rückenwind zu gewinnen, der zudem gegen Merkels Abneigung einer Grundsatzreform ohnehin keine Chance hatte. Wie Schäubles eigene Vorstellungen gehört es aber zu den faszinierenden "Was wäre wenn" der Eurokrise, sich eine Reformbewegung unter britischer Führung vorzustellen.

Die von Berlin ausgehende Stasis, die eine Neuauflage der "Eurosklerose"-Krise der 1970er und 1980er Jahre brachte, als bereits einmal die Entscheidungsmechanismen der Union gelähmt waren und erst ein deutsch-französisches Rapprochement den Durchbruch brachte (und der Zusammenbruch des Ostblocks), erstreckte sich nicht nur auf die Europolitik. Die bis heute anhaltende Handlungsunfähigkeit der Union zeigte sich auch in anderen Bereichen.

Einer davon war Libyen, das wir bereits in anderem Zusammenhang gesehen haben. Es ist augenfällig für die Schwäche der europäischen Außenpolitik, dass es hier nicht einmal den Versuch gab, eine gemeinsame Lösung zu finden. Stattdessen entschied sich Deutschland aus innenpolitischen Motiven zu der taktlosen Enthaltung im Sicherheitsrat und fiel seinen Verbündeten Großbritannien und Frankreich (und den USA) in den Rücken, ohne dass klar war, welche Strategie hier eigentlich verfolgt werden sollte - wohl, weil es keine gab.

Doch nicht nur Libyen zeigte eine Konfusion und Ziellosigkeit der europäischen Außenpolitik. Mangelnde Globalpolitik zeigt sich überall, besonders aber in Afrika und Osteuropa. So entschloss sich Deutschland zur Teilnahme an einer Mission in Mali, die keinerlei sinnvoll erreichbare strategischen Ziele besaß. Im Resultat sitzen Bundeswehrsoldaten heute noch in Mali in ihren Camps, während um sie herum mittlerweile zwei Putsche stattgefunden haben und die eigentliche raison d'etre der Ausbildung der malischen Streitkräfte seit mittlerweile fast zwei Jahren ausgesetzt ist.

Ein noch viel größerer Sumpf stellt das Engagement in Afghanistan dar, wo die Missionsparameter 2004 - direkt zu Beginn der  verdrängten Dekade - von der Bekämpfung der Taliban aufs Nation Building verschoben wurden, ohne klare Ziele oder auch nur annähernd angemessene Mittel. Die EU-Mächte begaben sich ziellos in unendliche Konflikte, die irgendwelchen äußeren Einflüssen entsprangen - Attacken auf transatlantische Verbündete hier, politische Interessenverteidigung in Frankreichs ehemaligen Kolonien dort.

Am augenscheinlichsten aber war das Versagen der EU in der Ukraine. In ihrer Selbstwahrnehmung und Außendarstellung betont die EU gerne, dass sie keine Geopolitik betreibe. Das ist allerdings nicht korrekt. Ihre Geopolitik ist nur furchtbar unkoordiniert und undurchdacht. Nirgendwo wurde das so deutlich wie in dem halsstarrigen Bestreben, die Ukraine in ein Assoziierungsabkommen zu bewegen.

Es war von Anfang an völlig klar, dass das Land keine Aufnahmeperspektive besaß. Die proklamierte Unvereinbarkeit mit der Mitgliedschaft in Russlands "Eurasischer Wirtschaftsunion" hatte so nicht wirklich eine realpolitische Grundlage. Andererseits hatte aber anscheinend auch niemand in Brüssel - oder einer der anderen Hauptstädte - einen Gedanken darüber verschwendet, was geschehen würde, wenn man diese Entscheidung erzwang.

Man sieht diese strategische Ziellosigkeit bereits in der geradezu grausamen Unbedarftheit, mit der die Ukraine behandelt wurde. In der Finanzkrise war das Land, abgeschnitten von Finanzströmen und nicht unbedingt ob seiner krisen- und weltmarktstauglichen Wirtschaft gerühmt, bereits schwer gebeutelt worden. In den 2010er Jahren warben nun Russland und die EU um die Ukraine, die sich schließlich nach dem Euromaidan für die EU entschied.

Doch ähnlich wie in Griechenland sollte es ein rüdes Erwachen geben. Bis heute weigern sich die EU-Länder, die Ukraine mit Waffen zu beliefern (man darf sicher sein, dass Russland gegenüber der Unterstützung der Separatisten keine solchen Skrupel hat). Aber auch im weniger der öffentlichen Debatte unterworfenen Finanzbereich zeigte sich die EU knausrig. Das Versprechen von Hilfen und ökonomischer Integration, dass die ukrainischen Führungspersönlichkeiten ihrem Volk gemacht hatten und auf das man illusionäre Hoffnungen gelegt hatte, zerstieb mit dem ersten konkreten Hilfsplan der EU.

Die angebotenen Kredite für die Ukraine bewegten sich im niedrigen einstelligen Milliardenbereich und umfassten nicht einmal ein Zehntel der Summe, die das Land brauchte. Es war zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel, und es kam wie üblich mit einer Reihe drakonischer Reformforderungen - Forderungen, die die kleptokratische Elite des Landes nicht berührten - die ihre Milliarden längst außer Landes geschafft hatte, in sichere Finanzhäfen in der EU - aber dafür die Bevölkerung, die nun offiziell von der EU geforderte Einschnitte in ihren ohnehin geringen Lebensstandard ertragen sollte und sich dazu das den Griechen bestens vertraute Lied anhören durfte, dass sie über ihre Verhältnisse gelebt hätten und wettbewerbsfähig werden müssten. Was in Griechenland zumindest noch debattierfähig war, war angesichts des Zustands der Ukraine geradezu lächerlich.

Natürlich gibt es keine Verpflichtung der EU, Stützkredite - die ohnehin nie zurückbezahlt werden, was allen Beteiligten klar ist - an ein Land zu vergeben, das von einer kleptokratischen Elite heruntergewirtschaftet und in einem Bürgerkrieg mit starker russischer Beteiligung gefangen ist. Nur sollte man solche Entscheidungen vielleicht treffen, bevor man aggressiv mit exakt solchen Krediten wirbt und versucht, die von Russland als seinen Hinterhof betrachtete osteuropäische Peripherie in die EU zu locken.

Es ist diese strategische Ziellosigkeit, gepaart mit den starken Beharrungskräften, die die EU in der verdrängten Dekade auszeichnet. Am Ende waren sie alle unzufrieden. Die Konservativen und Liberalen beklagten die Reformen wie den ESM, die Deutschland widerstrebend durch Sachzwänge aufoktroyiert worden waren, während für die solcherart beglückten Empfängernationen das ganze liberale europäische System als blanker Hohn erscheinen musste. Die Folge war eine Entwicklung, die zu Beginn der verdrängten Dekade wohl noch niemand auf dem Radar hatte. Anstatt einer Bedrohung durch die lang befürchtete Revolution von links kam der Aufstand von rechts.

Sonntag, 30. Mai 2021

Bücherliste Mai 2021

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: Globalisten, Feuersteins, Helden, Modernisierung, Vorahnungen, Frauenwahlrecht

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: USA, Sowjetunion

BÜCHER

Quinn Slobodian - Globalisten (Quinn Slobodian - Globalists)

"Neoliberalismus" ist ein Begriff, der durch die politischen Grabenkämpfe der 2000er Jahre praktisch zur Bedeutungslosigkeit geronnen ist. Das fiecht Quinn Slobodian nicht an, der mit diesem Werk eine Ideengeschichte des Neoliberalismus von den 1920er Jahren bis zu jener Epoche vorlegt, in der der beinahe totale Sieg der Theorie die Welt eroberte. Zwar treffen wir dabei sämtliche prominente Charaktere dieser Denkrichtung - vorrangig Hayek, Mises, Röppke, aber auch viele andere - der Fokus allerdings liegt auf den Ideen selbst, die von ihnen vertreten werden und wie ihre Genese im Spiegel der zeitgeschichtlichen Ereignisse vom Fall des Habsburger Reiches über die Republik zum Aufstieg und Fall der totalitären Systeme bis in den Kalten Krieg verlief.

Slobodians Kernthese ist bereits im Titel vertreten: die Neoliberalen sind Globalisten, sie denken in globalen Maßstäben. Das ist eine interessante Herangehensweise, besonders wenn man bedenkt, wie sehr der Internationalismus sonst mit dem Sozialismus verknüpft wird. Es wird allerdings schnell klar, wie unterschiedlich die globalen Konzeptionen hier gedacht werden.

In insgesamt acht Kapiteln arbeitet sich Slobodian durch die verschiedenen Stadien der neoliberalen Theorien. Es beginnt in einer Welt der Mauern, in der die Neoliberalen entsetzt auf die Errichtung von Schutzzöllen reagieren, mit denen viele Länder in den 1920er Jahren ihre Wirtschaft abzuschirmen versuchen. Sie setzen dem ein radikales Gegenkonzept entgegen: die Trennung von dominum und imperium, von der wirtschaftlichen und politischen Sphäre. Sie sind für eine Abschaffung jeglicher Grenzen für Kapital und Wirtschaften.

Die folgende Welt der Zahlen beschreibt den Versuch der Neoliberalen, möglichst umfassendes statistisches Material zu den Volkswirtschaften dieser Welt zu sammeln - damals praktisch ein Novum. In den Folgejahren gelingt es ihnen, das größte und umfassende Statistikwerk der Welt anzulegen, nur um sich dann radikal davon abzuwenden, als vor allem unter dem Einfluss Hayeks die Erkenntnis dominant wird, dass die Wirtschaft zu komplex ist, um in ihrer Gesamtheit gefasst zu werden.

Die Neoliberalen wenden sich von den Zahlen hin zu den Sozialwissenschaften und konstruieren eine Welt der Föderationen, in der sie sich für supranationale Staatenbünde und eine Weltregierung aussprechen. Das mag auf den ersten Blick überraschen - kennt man solche Utopien doch eher aus der linken Richtung - aber die Utopie der Neoliberalen ist in sich in höchstem Maße konsistent und sieht einen starken Staat in der Rolle, die Wirtschaft klar getrennt von der Politik zu halten. Hayek stellt sich eine undemokratische, im Geheimen agierende Weltregierung vor, während die Nationalstaaten nur von Marionettenregierungen geführt werden, die der Täuschung der Massen dienen. Für die Neoliberalen waren der Völkerbund und die Internationale Handelskammer die Keimzelle einer solchen Weltregierung.

Während des Zweiten Weltkriegs folgte der andere entscheidende Baustein dieser neoliberalen Weltordnung, eine Welt der Rechte. Hayek im Besonderen postulierte ein "Menschenrecht auf Kapitalflucht", das weltweit gegen nationalstaatliche Interessen durchgesetzt werden sollte und diese alle übertraf. Der Zeitgeist war damals gegen ihn; inzwischen sind diese Utopien weitgehend verwirklicht. Doch das Ende des Zweiten Weltkriegs und die folgende Dekolonisierung forderten die Neoliberalen auf ganz andere Weise heraus, denn sie mussten nun die Welt der Rassen ordnen. Sie waren gegen die Dekolonisierung, einerseits weil sie ihren föderativen Ideen entgegenstand, andererseits weil die neuen Staaten Demokratien wurden, die sich industrialisieren wollten, während die Neoliberalen ihnen die Rolle als untergeordnete Rohstofflieferanten zuwiesen. Es ist kein schönes Bild.

Die Welt der Verfassungen, die sich daran anschließt, beschreibt den Umgang der Neoliberalen mit der EWG. Einerseits war gerade Röppke ein Anhänger der französischen Versuche, ihr Kolonialreich mit dem damals viel diskutierten "Eurafrika"-Konzept in die Moderne zu retten, andererseits waren die planwirtschaftlichen Aspekte, ganz besonders bei der Agrarpolitik, allen Neoliberalen natürlich ein Dorn im Auge.

Mark Russel - The Flintstones (Vol. 1, Vol. 2)

Ich habe ja eigentlich überhaupt keinen Bezug zu den Feuersteins. Ich mochte die Serie als Kind nie, finde den Realfilm ziemlich beknackt und habe die anderen Comics auch nie gelesen. Ich war daher etwas überrascht, eine warme Empfehlung für diesen Comic zu bekommen, der in zwei abgeschlossenen Bänden verfügbar ist, habe mich aber entschieden, der Empfehlung nachzugehen.

Um es kurz zu machen: ich habe es nicht bereut. Die beiden Flintstones-Comics unterliegen im Endeffekt der zentralen Idee, dass in der Generation der Hauptcharaktere - Fred, Barney, etc. - die Zivilisation erfunden wurde. Die Steinzeitmenschen erleben also alles zum ersten Mal und probieren es aus, teilweise ohne zu verstehen, was sie da eigentlich tun.

Der tiefgehende Teil sind die Reflexionen, die die Charaktere über die Natur der Zivilisation anstellen. Ob Fred und Barney als Veteranen des Krieges gegen die "Baumleute", deren Land erobert wurde um ihrer Kleinstadt Bedrock Platz zu machen, PTSD haben oder ob an der Schule die Kinder versuchen, sich dem Mobbing zu entziehen, indem sie sich mit dem Mobber verbünden und ihn zum Schulpräsidenten wählen (AUF WEN KÖNNTE SICH DAS NUR BEZIEHEN FRAGE ICH MICH?), ob die Cro-Magnon-Menschen nicht verstehen, warum jemand den ganzen Tag arbeiten sollte, nur um dann Mist zu kaufen, den er nicht braucht ("Was sollen wir mit Geld anfangen?" - "Dinge kaufen, die andere Leute herzustellen gehasst haben", beantwortet Fred die Frage).

Auch gesellschaftliche Entwicklungen werden mit bissigem Humor auf die Schippe genommen, etwa der Versuch, eine eigene Religion zu gründen - bei der man sich durch mehrere Iterationen einer monotheistischen Gottheit annähert - oder bei Protesten gegen die Einführung der monogamen Ehe ("Unnatürlich!"), die von den Priestern gefördert wird, bis zum ersten Mal ein homosexuelles Paar getraut werden will.

Wer auch nur ein bisschen etwas mit Comics anfangen will, sollte sich die Flintstones anschauen. Man dürfte überrascht sein, und teilweise bleibt einem das Lachen geradezu im Hals stecken.

Stephen Fry - Heroes (Stephen Fry - Helden)

Dieses Buch ist der direkte Nachfolger des von mir im August 2020 besprochenen "Mythos". Stephen Fry erzählt hier in seiner unnachahmlichen Art (das von ihm gelesene Hörbuch sei hier wärmstens empfohlen) die Sagen des griechischen Heldenzeitalters von Perseus bis Theseus. Diese Periode der griechischen Sagenzeit war voll von Einflüssen der Götter, aber nicht mehr ihrem direkten Eingreifen unterworfen wie das die in "Mythos" beschriebene Epoche war. Wir befinden uns also in einer vorgeschichtlichen Sagenzeit.

Es ist dabei spannend zu sehen, dass die Sagengestalten sich Stück für Stück verändern. Ihre Taten werden kleiner, ihr Einfluss geringer, ihre Übermenschlichkeit reduziert. Besonders Herakles sticht hier hervor, der mit seinen 12 Großtaten, dem anschließenden Gigantenkrieg und dann seiner Apotheose von einem Gott in Menschengestalt eigentlich kaum zu unterscheiden ist, während Helden wie Jason oder Orpheus zwar ebenfalls deutlich überdurchschnittliche Fähigkeiten besitzen, aber nicht jene Superkräfte haben, die Herakles besitzt.

Der Vergleich zu den Superheldengeschichten unserer Tage drängt sich geradezu auf. Wo Herakles noch ein Superman oder Thor ist, ist Orpheus eher ein Batman oder Hawkeye. Sicherlich mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten und Ausrüstung ausgestattet, aber grundsätzlich menschlich. Überhaupt ist die Rolle, die die antiken Sagenhelden einnehmen, und die, die die Superhelden unserer Tage haben, mehr als einen beiläufigen Vergleich wert.

Was allerdings ebenfalls, wie auch vorher schon bei "Mythos", auffallend ist, ist die Moral der Geschichten. Sie wird von Fry weiterhin in ihrer Originalversion erzählt (Frys humanistische Bildung schlägt hier deutlich durch), was es teilweise schwer erträglich macht, nach welchen sozialen Normen diese Leute vorgehen. Das ist sicherlich interessant, kann aber auch zu profunder Entfremdung vom Stoff führen. Das ist ein Schema, das man aus den "fake histories" von George R. R. Martin auch gut kennt.

Besonders krass ist das, erneut, am Beispiel Herakles' zu beobachten, der ständig in Wutanfällen Leute umbringt (darunter auch die eigene Frau und Kinder), was dann aber mehr oder weniger als ein Charaktermerkmal abgetan wird. Was reizen die auch ständig Herakles! Er muss dann zwar Buße tun, aber diese Buße wird regelmäßig gewährt, und der Held wird am Ende klar belohnt. Das ist für zeitgenössische Ohren schon reichlich merkwürdig, genau wie die Streitsüchtigkeit dieser "Helden" generell.

Hedwig Richter - Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich

Diese Arbeit ist die letzte in einer Reihe, mit denen Hedwig Richter praktisch im Alleingang einen neuen Historiker*innenstreit über die Interpretation des Kaiserreichs auslöste, der äußerst fruchtbar und bis heute tobt und durch ihre Veröffentlichung von "Demokratie - Eine deutsche Affäre" (ja, definitiv auf dem To-Do-Stapel) neue Nahrung erhielt. Der Essay enttäuscht die Erwartungen nicht.

In jeweils knappen, gut lesbaren Kapiteln von nur sehr wenigen Seiten gibt Richter Abrisse über Phänomen von - wir ahnen es - Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, die ihre grundlegende These stützen, dass das deutsche Kaiserreich eine wesentlich modernere, progressivere Ära war, als das die Pickelhaubenromantik allenthalben vermuten ließe.

Den zentralen Roten Faden bildet dabei die These, dass der alles verändernde Faktor die Massenpolitisierung ist. Erst durch die Ermächtigung der Masse werden Ideen wie Demokratie, Rechtsstaat, Gerechtigkeit etc. überhaupt erst denkbar. So zeigt Richter etwa auf, dass von den sozialen Reformen des Kaiserreichs bis hin zu der Frage des Frauenwahlrechts alles denkbar und forderbar wurde, weil plötzlich die breite Mehrheit der Bevölkerung sich als gleich begriff und politisierte - in einem Ausmaß zudem, das unserer Zeit fast unvorstellbar scheint.

Diese Masseninklusion aber habe auch ihre dunklen Seiten. So sieht Richter in der Schaffung dieser demokratisierten Masse eine Notwendigkeit von Exklusion: das allgemeine Männerwahlrecht bedingt die Entrechtung der Frau, das Begreifen als gleichberechtigte Deutsche die Abgrenzung nach außen, das Emanzipieren der breiten Masse die Exklusion von solchen, die man nicht als dem Volk zugehörig betrachtet, ob Polen oder Juden. Diese Janusköpfigkeit begleitet die gesamte Epoche, und sie schafft einen faszinierenden Anhaltspunkt, mit dem Interessierte sich unbedingt beschäftigen sollten.

Als eine Nebenbemerkung: Suhrkamps Preispolitik ist völlig unverständlich. Das gedruckte Buch kostet 16 Euro, das e-Book 15.99 Euro. Was soll denn der Blödsinn?!

Michael Lewis - Premonotion

Nach seinem beeindruckenden Werk "Erhöhtes Risiko" (The Fifth Risk), das ich hier besprochen habe, beschäftigt sich Michael Lewis nun mit dem Ernstfall, der leider Gottes eingetreten ist. Die Prämisse ist folgende: In einem Ranking 2015 wurden die USA als die Nation aufgeführt, die am besten auf eine Pandemie vorbereitet ist (gefolgt von Großbritannien). Das hat sich so, höflich ausgedrückt, nicht bewahrheitet. Michael Lewis macht sich auf den Weg, die Frage nach dem "Warum" zu beantworten.

In bewährter Manier folgt er dabei Persönlichkeiten aus den betroffenen Institutionen; hier wenig überraschend aus den amerikanischen Gesundheitsbehörden. Von Beginn an auffällig finde ich, wie unglaublich heruntergekommen diese Institutionen sind. Das Zerstörungswerk von 40 Jahren ideologiegetriebener Staatsfeindlichkeit offenbart sich hier in all seiner Pracht und ist sicherlich für einen Gutteil der fast halben Million amerikanischen Todesopfer verantwortlich.

Hedwig Richter/Kerstin Wolf - Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa

Die Einführung des Frauenwahlrechts wird oftmals mit dem Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht, dass die Frauen es sich durch ihre Arbeit an der "Heimatfront" quasi "verdient" hätten. Wie die Herausgeberinnen dieses Aufsatzbandes, Hedwig Richter und Kerstin Wolf, gleich zu Beginn herausstellen, ist es verblüffend, wie eine so offensichtlich falsche These sich so lange halten konnte. Denn wenn das so war, warum wurde das Wahlrecht für Frauen dann in Großbritannien oder Frankreich so viel später eingeführt als in Deutschland?

Stattdessen führen die Herausgeberinnen die Einführung auf eine lange Reformentwicklung innerhalb vieler Länder zurück, einen internationalen Trend. Sie weisen die beliebten Narrative zurück, denen zufolge es etwa radikale Suffragetten waren, die die Einführung erzwangen (die werden ziemlich klar als gescheitert eingestuft) und fragen stattdessen, ob nicht eine "Demokratisierung der Demokratie" stattfand, das Frauenwahlrecht also mithin nicht im Kontext der Massendemokratisierung gesehen werden müsse.

Zur Beantwortung dieser Frage (ja, muss es) werden Aufsätze in drei Kategorien eingeteilt: Raum, Körper und Sprechen. Anhand dieser Kategorien wird gezeigt, wie die Frauen sich ihren Platz in der Gesellschaft erkämpften und wie Konflikte innerhalb der Frauenbewegung über den richtigen Ansatz ausgefochten wurden. Es wird offensichtlich, dass erst die Öffnung des Wahlrechts gegenüber allen Männern und seine Verrechtlichung und Entrückung aus dem "männlichen", gewalttätig konnotierten Raum den Frauen den Rahmen gab, innerhalb dessen sie es überhaupt erst einfordern konnten.

Für alle, die sich für Demokratiegeschichte interessieren, ist dieser Band mehr als empfehlenswert. Die Rekontextualisierung des Frauenwahlrechts als ein komplementärer Bestandteil der Demokratisie, als ihre Demokratisierung, und die Analyse anhand der Kategorien öffnen ganz eigene Perspektiven auf die Thematik.

ZEITSCHRIFTEN

Aus Politik und Zeitgeschichte - USA

Dieses mit 38 Seiten ungewöhnlich kurze APuZ-Heft kann man geradezu als Begleitheft für diesen Blog lesen. Wer regelmäßig meine Analysen zu den USA liest, wird hier nur wenig Neues finden. Polarisierung? Check. Gefährdung der Demokratie durch die Republicans? Check. Neue Eindämmungspolitik gegenüber China? Check. Teilweiser, aber nicht vollständiger Wandel der Außenpolitik unter Biden? Check. Die Trump-Präsidentschaft als ziemliche Katastrophe für die USA? Check.

Wer mir bisher nicht geglaubt hat, findet hier von diversen Politikwissenschaftler*innen Analysen vor, die im Großen und Ganzen dasselbe sagen. Interessant sind auch einige zusätzliche Daten und Fakten, besonders bei der Handelspolitik. Insgesamt aber fühle ich mich ziemlich bestätigt, und das ist ja auch mal was.

Aus Politik und Zeitgeschichte - Sowjetunion

Beinahe komplementär zum USA-Heft ist die aktuellste Ausgabe der APuZ zur Sowjetunion. Besonders hervorzuheben ist, dass die Beiträge den aktuellen Stand der Forschung zu diversen Themen wiedergeben, was angesichts der mangelnden Prominenz des Themas mehr als willkommen ist.

So zeigt ein Beitrag zum Ende des Stalinismus deutlich den Wandel in der Politik unter Chruschtschow und Breschnew - die Sowjetunion wurde weit weniger tödlich. Gleichzeitig aber blieb die Erinnerung an Stalin trotz aller Destalinisierung lebendig. In verstärktem Maße gilt das für die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg", der allerdings von Stalin als alleinige Leistung beansprucht wurde, was bis heute nachwirkt.

Gerade die von Putin ja auch massiv betriebene Sowjet-Nostalgie hat daher lange und tiefe Wurzeln. Gerne ignoriert wird dabei, wie gewalttätig der sowjetische Staat vor allem in der Stalinzeit war. Trotz Archipel Gulag ist das Ausmaß des kommunistischen Massenmords weithin nicht wirklich bekannt. Auch der Antisemitismus des Stalin-Regimes verdient mehr Aufmerksamkeit.

Spannend fand ich zuletzt auch, dass wie Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg die barbarischen Verbrechen der Wehrmacht einerseits und die KZs andererseits zur Mobilisierung ihrer Soldat*innen nutzte, um diese zum Kampf gegen Deutschland zu motivieren. Bereits 1944 wurden Informationen über die befreiten KZs veröffentlicht, die im Ausland häufig als Gräuelpropaganda abgetan wurden. Gleichzeitig verstanden es die Sowjets, sich als Befreier zu inszenieren.

Donnerstag, 27. Mai 2021

Grundschulkinder wählen in Teilzeit Regierungsversagen auf dem Fahrradweg - Vermischtes 27.05.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Government should fail more

We all benefit when we're willing to invest in these moonshots. One winning breakthrough, whether it's the Starship rocket, DeepMind's protein folding analysis that could spring forward our understanding of biology, or the mRNA vaccine platform curbing COVID-19, pays dividends that far outweigh the failures. An mRNA vaccine for malaria has already shown promising test results — a potential solution to a disease that kills more than 400,000 people globally per year. [...] It's nearly impossible for politicians today to take chances and revise as they learn. Partisan obstruction forces meaningful laws to be passed in unwieldy omnibuses, often with contrived budgeting to take advantage of the reconciliation path around Senate filibusters. Instead of seeing policies launched, tested, and repealed, politicians work to pass laws without legislating, delegating to rule-making bodies and regulatory agencies that don't face the same bottlenecks or scrutiny as Congress. Meanwhile, any misstep or edge case for policy is sure to dominate partisan news coverage — problems are "newsy" while things running smoothly are not. Politicians who watched media breathlessly cover the rare cases of vaccinated people getting COVID know their own setbacks will be covered mercilessly. The price of success is failure. Even when I favor a policy or party, I don't expect them to get things right 100 percent of the time. I want to see obstructionist disarmament, so that citizens get to experience the policies they voted for and judge politicians accordingly. I want to see politicians point to both their successes and their failures and be able to learn from both. I'd rather see 10 plausible ideas tried and nine discarded than endless gridlock and excuses. Implementing policy isn't as thrilling as watching a rocket launch, but both are moments of uncertain promise. Our politics will be healthier if we admit the risk alongside the benefit. (Leah Lebresco Seargeant, The Week)

Ich habe hier im Blog schon öfter in diese Richtung diskutiert. Ich würde mir wünschen, dass es da auf der einen Seite mehr Mut gibt, neue Dinge auszuprobieren. Auf der anderen Seite gehört da dann aber auch eine offene Fehlerkultur, von allen Seiten. Denn produktives Scheitern geht nur dann, wenn man es eingesteht und aus dem Scheitern dann auch lernt. Das betrifft vier Seiten: Einmal die Bürokratie selbst, die nicht die eigenen Fehler vertuschen darf. Dann die Politik, die eine gewisse Verantwortung in der Instrumentalisierung dieser Fehler bewahren muss. Dann die Medien, die entsprechend sachlich berichten. Und zuletzt die Wählenden, die in der Lage sind, das zu bewerten. Im Endeffekt ist das ein neues Verhalten, das gelernt werden muss. Wenn man sich anschaut, wie wenige Unternehmen dazu in der Lage sind, und in diesen Mix Dynamiken demokratischer Verantwortlichkeit einbezieht wird deutlich, wie groß diese Herausforderung ist.

2) Democrats are fiddling while Republicans prepare to burn down Rome

Yet many Democrats are bizarrely blasé about the dire threat both their party and their country is facing. Senate moderates Krysten Sinema of Arizona and Joe Manchin of West Virginia have thus far refused to abolish or reform the Senate filibuster, which will be a necessity for passing any voting rights protections that would allow for fair elections. Many others are queasy about the tax hikes packaged with Biden's infrastructure and welfare plans, which are vital for protecting Democrats' majority but harmful to their donor class. These moderates' timidity and corruption might well spell the end of the American republic. [...] It simply beggars belief to think these Democrats are earnestly concerned that modestly hiking taxes on corporations and ultra-wealthy heirs, or axing the filibuster, will doom their re-election campaigns. The only thing that could possibly explain why so many Democrats are dead-set on repealing Trump's cap on state and local tax deductions, 56 percent of the benefits of which will flow to the top one percent, is corruption. They are listening to rich donors and lobbyists, and/or keeping one eye on their future career prospects. Voting to raise taxes will infuriate the wealthy and well-connected, and cushy post-office buckraking careers doing consulting or speeches will not be forthcoming for lawmakers who do not toe the oligarch line. (Ryan Cooper, The Week)

Das Problem ist weniger "many Democrats" als vielmehr zwei von ihnen: Joe Manchin und Kyrsten Sinema. Auch wenn es aus irgendeinem Grund schwer zu verstehen scheint, keine noch so große Entschlossenheit seitens "der Democrats", Joe Biden oder sonstwem spielt auch nur die geringste Rolle. Im Senat braucht es 50 Stimmen, um irgendetwas durchzubringen. Das bedeutet, dass alles, was nicht Manchins oder Sinemas Zustimmung findet, nicht passieren wird. Simple as that.

Aber diese Erkenntnis dringt einfach nicht durch. Es ist dieselbe kirre machende Logik wie unter Obama. Getreu der Green-Lantern-Theorie wurde stets so getan, als müsse Obama nur irgendetwas tun, irgendetwas sagen, um Mitch McConnell zur Zusammenarbeit bewegen. Das war immer Quatsch. Und es ist auch für Joe Biden oder "the Democrats" Quatsch. Nichts was die tun, kann Manchin oder Sinema kratzen. Vor allem Manchin nicht. Der Mann vertritt West Virginia. Er kandidiert nicht noch einmal. Er kann tun und lassen, was er will. Kein noch so großes Bewusstsein für die Gefahr durch die GOP seitens der Partei wird da irgendetwas dran ändern.

3) Normalize part-time work for parents

But I don't think all of this sufficiently explains why there's such a universal rejection of the double part-time household. Some significant part of it, I suspect, is how difficult this arrangement is to achieve in our economy as it's currently structured. Working part-time means many jobs (and the promotions and careers to which they contribute) become wholly unavailable to you. This is especially true of professional-managerial and other white-collar work. Unless you own a business, you have to commit fulltime. There aren't really part-time executives or web developers or mortgage officers. Stereotypical working-class jobs like factory and trade work also tend to be fulltime. Low-paying service jobs are an obvious exception here, and some health-care workers and first responders have condensed shifts that approximate a part-time schedule, but 40 hours spread over five days is the standard deal. [...] Without these impediments — if more jobs could be done part-time, and if we somehow decoupled benefits from employment — would the double part-time household be more popular? I think it would. Given a real, financially viable option, lots of moms and dads might choose to work less and hang out with their children more, particularly in the pre-school years. That's not about gender roles; it's about parents liking rest and their kids. (Bonnie Kristan, The Week)

Der Kult der Vollzeitstelle und Dauerpräsenz im Betrieb ist tatsächlich ein großes Problem, was die Möglichkeiten und Chancen der Eltern angeht. Weil, oft mit stolzgeschwellter Brust, jede Position mit höherer Verantwortung dadurch gerechtfertigt wird, dass man länger anwesend ist als der Rest der jeweiligen Abteilung - auch, wenn dem weder Arbeit noch Produktivität gegenüberstehen - reproduzieren sich diese Verhaltensmuster permanent. Anwesenheit ist ein so deutlich sichtbarer, so leicht vergleichbarer und objektivierbarer Marker, dass die Versuchung, ihn zur Messung zu nutzen, unwiderstehlich ist. Das ist dumm und bringt die Wirtschaft wie auch den Öffentlichen Dienst um zahlreiche Talente und potenzielle Gewinne, aber Menschen sind Gewohnheitstiere, und einmal erworbene toxische Verhaltensweisen sind schwer abzutrainieren.

4) „Die Straße war mal für Kinder“ (Interview mit Dirk Schneidemesser)

taz: Herr Schneidemesser, Sie sagen, Sprache hält die Mobilitätswende auf. Wieso?

Dirk Schneidemesser: Die Sprache spiegelt die Einstellung zum öffentlichen Raum und zum Auto wider. Wir haben seit fast einem Jahrhundert über die Sprache die Daseinsberechtigung des Autos verinnerlicht und tief in uns verankert. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Straße ein Ort, wo Kinder gespielt haben, wo man seinen Nachbarn begegnet ist, wo man auch Handel getrieben hat. Es gab Verkehr, aber das war eine von vielen Aktivitäten. Heutzutage haben wir die Vorstellung, die Straße ist da für einen einzigen Zweck, und das ist sogar verankert in unserer Gesetzgebung: den motorisierten Verkehr.

Die Straße ist also ausschließlich fürs Auto da?

Genau. Wenn man in die Geschichtsbücher schaut, ist es dazu durch eine konzertierte Aktion von Menschen gekommen, die meinten, das Auto ist die Zukunft, wir müssen unser Land, unseren öffentlichen Raum nach den Bedürfnissen des Autos ausrichten. Daraus folgte die Überzeugung: Wir müssen in Kauf nehmen, dass Menschen verletzt oder gar getötet werden. Die müssen wir von der Straße weghalten, damit der Autoverkehr nicht gestört wird. Nehmen wir das Beispiel Spielplatz: Ein Spielplatz ist im Grunde genommen ein Ort, wo wir Kinder hinschicken können, damit wir sie nicht an der Leine haben müssen, wo sie ungefährdet sind, spielen können. Spielplätze haben wir, weil die Straße unsicher wurde für Kinder. [...]

Wie blockiert die Sprache die Verkehrswende?

Wir reden zum Beispiel von einer gesperrten Straße, wenn ganz vielfältige Aktivitäten dort passieren. Unser Institut, das IASS Potsdam, hat im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Bezirks­amt in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg einen Prototyp für eine temporäre Spielstraße entwickelt. Das ist eine für einen Tag pro Woche autofreie Straße. In Coronazeiten brauchen die Menschen mehr Raum, wenn sie nicht in die überfüllten Parks gehen sollen. Diese Straßen wurden oft beschrieben als „gesperrte Straße“. Da haben wir ganz schön gezuckt. Denn genau das Gegenteil ist der Fall: Wir haben die Straße geöffnet, damit die Menschen dort Sport machen, sich auf der Straße aufhalten, etwas essen können. (Anja Krüger, taz)

Zum Thema siehe auch dieses Interview mit der Ökonomin Claudia Kemfert. Die Gesellschaften der Industrieländer wurden über rund ein Jahrhundert darauf trainiert, ihre Bedürfnisse komplett um den Individualverkehr per Verbrennermotor herum zu orientieren. Das war nicht immer so, aber die Industrie hat sich, auch dank massiver Lobbyingkampagnen, seinerzeit durchgesetzt, und spätestens seit der Entstehung von "Suburbia" in den 1950er und 1960er Jahren hat sich das über drei Generationen ins Bewusstsein gefräßt, ist die gesamte Infrastruktur nur noch auf die Bedürfnisse des Autos zugerichtet.

Hier muss zwangsläufig ein Umdenken stattfinden. Das wird dort beginnen, wo auch das letzte begann: in den Städten, weil hier der Umstieg am leichtesten ist. Die Aushöhlung der Infrastruktur auf dem flachen Land hat dort ja eine völlige Abhängigkeit vom Auto geschaffen, die mittelfristig kaum zu überwinden ist. Diese Entwicklung wird genauso wie die erlernte Abhängigkeit vom Auto Jahrzehnte dauern. Aber irgendwann muss man mal damit anfangen.

5) Warum sollten Grundschüler wählen dürfen, Herr Kurz?

Ich bin kein besonderer Fan dieser Idee. Ich sehe zwar völlig die Argumente der Repräsentation der jungen Menschen. Aber mir scheinen die Nachteile eines solchen Systems wesentlich stärker zu sein als die Vorteile. Und ja, sicher gibt es die einen oder anderen jungen Teenager, die sich für Politik und Wahlen interessieren, aber sie sind eine absolute Minderheit. Wir können darüber reden, das Wahlalter auf 16 zu senken - ich habe da weder in die eine noch in die andere Richtung eine besonders starke Meinung - aber angesichts der Wahlbeteiligung der Demographie "18-24Jährige" mache ich mir keine großen Hoffnungen, dass sich da großartig etwas tut. Wir haben seit Willy Brandt die Wahl ab 18, ohne dass in den mittlerweile fast fünf Jahrzehnten seither eine große Partizipationswelle dieser vorher Entmündigten stattgefunden hätte. Ich sehe das auch nicht mit einer weiteren Absenkung des Wahlalters kommen. Aber überzeugt mich gerne vom Gegenteil.

6) Conservatives Excommunicated the Last Republican President Who Lost

One of the rationalizations Republicans have made for their party’s refusal to disavow Donald Trump’s authoritarianism is that asking a party to renounce a former president is categorically unreasonable. “He’s an ex-president. You can’t just excommunicate him,” pleads Representative Dan Crenshaw. “People in their parties would also have thrown out people openly critical of Obama and Bush,” says Republican pollster Patrick Ruffini. Parties don’t just disown their former presidents, right? Actually, it has happened. The Republican Party excommunicated George H.W. Bush after his 1992 defeat. That episode was a seminal moment in the formation of the party’s modern identity, and the contrast between its gleeful abandonment of the 41st president and continued fealty to the 45th one reveals a great deal. [...] When a Republican president had actually violated a core tenet of conservative belief, his fellow partisans knew what to do about it. They shunned him, turned his name into a synonym for “loser,” and forced even his children to denounce him. The difference is that Bush had committed a truly unforgivable sin: agreeing to increase the top tax rate by three percentage points. Trump won’t be purged because he committed what is, in the eyes of the conservative movement, a more forgivable sin: fomenting the violent overthrow of the government in order to seize an unelected second term. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Wir haben dieselbe Dynamik übrigens auch bei Dubbyah und Ford. Und Bush Jr. hat nicht mal verloren, er war seiner Partei nur nicht mehr rechtsradikal genug. Aber jedes Mal wurden die Verlierer in ihrer Partei exkommuniziert. Dass das mit Trump jetzt nicht geschieht hat vor allem damit zu tun, dass der Personenkult der GOP es unmöglich macht. Wer primaries gewinnen will, muss sich voll zum Trumpismus bekennen. Da spielen Kleinigkeiten wie der Erhalt der Demokratie keine große Rolle.

7) Verbundenheit auf Abruf

Bei einer Umfrage der Universität Leipzig teilten siebzig Prozent der Befragten die Ansicht, dass Israels Politik in Palästina fast oder genauso schlimm sei wie die der Nationalsozialisten. Die Staatsräson geht jedenfalls nicht so weit, derartigen Einstellungen in der Bevölkerung wirksam entgegenzutreten. So bleibt die ewige Verbundenheit zwangsläufig eine auf Abruf. [...] Auf einer vierten, medialen und kulturpolitischen Ebene dieses Konflikts in Deutschland müssen wir zugeben, dass es nicht nur in Bezug auf Israel und Juden aktuell schwierig ist, die richtigen Worte zu finden. Schnell führen sprachliche Ungenauigkeiten zum Pranger und zum Abkanzeln, zumal die Erregungsschleifen in den sozialen Medien eine aufklärerische und differenzierte Diskussion erschweren. Die gebotene Zurückhaltung, die bei diesem Thema lange herrschte, wurde spätestens mit der Ära Trump begraben. Wenn die Geschichte Israels oder das Leid der Palästinenser so routiniert wie unsensibel in einer Handvoll Sharepics abgehandelt wird, gehen meistens nicht nur die Wahrheit, sondern auch der Anstand verloren. Stattdessen verhärten sich ideologische Einstellungen: Jakob Augstein war mit seiner beschämenden Behauptung „Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin“ 2012 noch recht allein, und die Thesen von Günter Grass über Israel als Hauptgefahr für den Weltfrieden ernteten weithin Widerspruch. Inzwischen ist die Vorstellung, Israel kontrolliere die deutsche Politik, weit in den Mainstream eingewandert. Die Schnittmengen zu antisemitischen Narrativen in der Verschwörungsszene liegen auf der Hand – hier bereitet sich eine Verbindung vor, die Schaudern macht. (Meron Mendel, FAZ)

Es ist absolut ekelhaft, wie die CDU versucht, Antisemitismus als rein importiertes Problem zu betrachten. Antisemitisms ist AUCH ein Problem bestimmter Einwanderer-Communities, aber wie der jüngste Konflikt in Gaza ja gut gezeigt hat, ist er wahrlich nicht auf "libanesische Clans" oder sonstwelche Schreckgespenster beschränkt. In Deutschland ist immer noch ein tief verwurzelter Antisemitismus vorhanden, und die Tatsache, dass wir mehrere Millionen Menschen mit Migrationshintergrund haben, die ihre eigene Version Antisemitismus mitgebracht haben, macht das nicht unwahr.

8) HBO's prestige ethos was no match for the content wars

In the winter of 2018, HBO's then-CEO Richard Plepler issued what was either a noble maxim about the pursuit of great art, or foolishly romantic last words, depending on your point of view. "More is not better," he told The Wall Street Journal. "Only better is better." [...] Putting HBO and Discovery together under one roof isn't necessarily an effort for the new company to save cash. The new company is expected to spend an eye-popping $20 billion on content, surpassing the $17.3 billion Netflix spent on content in 2020. But while HBO will likely keep on doing what it does best for a while yet, a $20 billion budget also implies a throw-everything-at-the-wall-and-see-what-sticks approach that's the antithesis of HBO's traditional intentionality. HBO Max already started down this path by mixing in its premiere HBO programming with random shows and movies from the WarnerMedia library, and down the road, the merger could mean diluting HBO's catalogue of high-quality, award-winning television into something that looks more like the mediocre wasteland of Netflix's "most popular" list. (As Recode notes, "The new company can market the two services [HBO and Discovery] separately, but it will undoubtedly roll out a merged version one day"). Ultimately, going bigger means all the pieces inside start to get smaller, too. HBO went from being the crown jewel of TV, the gold standard of prestige programming, into a convenient highbrow complement to offset HGTV, the Food Network, and Animal Planet. While it might sound cynical, the new mantra of the eventual WarnerMedia-Discovery company could prove to be a winning business strategy, if not an especially artistic one: Better is not better. Only bigger is better. (Jeva Lange, The Week)

Das ist eine sehr bedauerliche Entwicklung. Die Goldene Ära des Fernsehens ist fast untrennbar mit HBO verbunden, und die Vorstellung, dass dieser Wettlauf zum größten gemeinsamen Nenner, wie er vor allem für Netflix gilt - wo wirklich fast nichts irgendwie qualitativ Wertvolles zu sehen ist und Serien wie "Dark" oder "Lupin" eher wie Unfälle wirken - nun auch auf HBO übergreift, stimmt tief traurig. Auch der Trend zu Mega-Budgets, wie ihn HBO ironischerweise selbst initiiert hat, ist mehr als irritierend. Ich verstehe immer noch nicht, wie Disney all diese Millionen in "Falcon and the Winter Soldier" versenken konnte, und ich bleibe eher skeptisch, dass Amazons Viertelmilliardeninvestment in "Herr der Ringe" die Früchte trägt, die das Franchise überhaupt erst erfolgreich gemacht haben.

9) Klimafreundlicher Konsum muss sich lohnen

WELT: Dennoch gab es Skeptiker?

Leven: Die Impfung wurde unter anderem als Eingriff in den göttlichen Heilsplan gesehen. Krankheit allgemein wurde auch als Strafe für Sünden und Prüfung der Gläubigen verstanden. Interessanter sind die schon seit dem 19. Jahrhundert existierenden sachlichen Argumente. So wurde hinterfragt, ob die Pockenimpfung überhaupt wirkte und wie lange. Immerhin musste „nachgeimpft“ werden. Und ein Argument, das schon damals diskutiert wurde: Der Staat greift in die Körper des gesunden Individuums ein. Das spielte vor allem in akademisch-bürgerlichen Kreisen eine Rolle. Es ist übrigens noch heute so. Impfgegnerschaft ist keine proletarische Bewegung. Die Impfgegner und Impfskeptiker, die man nicht miteinander verwechseln sollte, kommen heute eher aus der Öko-Szene – selten aus konservativen Kreisen. [...]

WELT: Gibt es Milieus, in denen Impfskepsis verbreiteter ist als in anderen?

Leven: Die Impfgegner sind stets eine bürgerliche Bewegung gewesen. Sie sind überdurchschnittlich gebildet, legen großen Wert auf individuelle Freiheiten und haben ein starkes Problembewusstsein für Eingriffe des Staates. Sie werden teilweise auch von Akademikern wie Juristen und Ärzten gestützt. Damit stehen sich zwei Gruppen gegenüber, die sich bezüglich Profession und Einfluss ähneln. Die Impfgegner sind aber immer in der Unterzahl geblieben, das gilt auch heute. [...]

WELT: Sogar im Dritten Reich wurden die verpflichtenden Impfungen von den Nationalsozialisten als Eingriff in die persönliche Freiheit gesehen. Trotzdem wurde die Pocken-Impfpflicht erst 1975 abgeschafft...

Leven: Eine kurze Anmerkung zum Dritten Reich vorweg: Auch als Medizinhistoriker würde man erwarten, dass sich die Impfpflicht während des NS-Regimes ausgeweitet hätte. Dem ist aber nicht so, es blieb bei der Pockenimpfung. Impfungen wurden propagiert, allerdings nie in dem Umfang, in dem man es retrospektiv erwarten würde. Das liegt unter anderem an dem großen Interesse der NS-Führung für alternative Medizin, wie zum Beispiel die Homöopathie. Es ist übrigens bis heute so, dass Anhänger der Homöopathie häufiger zu Impfskepsis neigen – ohne das hier werten oder historisch diskreditierten zu wollen. Die Weltgesundheitsorganisation versuchte, die Pocken vollständig auszurotten, das gelang in den 1970ern. Es ist bis heute übrigens die einzige Krankheit, die durch medizinische Maßnahmen ausgelöscht worden ist. Deshalb wurden die Pockenimpfungen auch bis zum Ende der Krankheit in vielen Ländern verpflichtend beibehalten. (Jonas Feldt, Welt)

Auch wenn die Zahl der Querdenker*innen glücklicherweise winzig ist, so ist es doch beachtlich, welche disparaten Strömungen sich unter dem Banner vereinen. Das ganze Who's Who der Spinner. Leute, die sonst gegen Chemtrails auf die Straße gehen, marschieren völlig problemlos auch da mit. Das ist der harte Kern dieser Bewegung, und die demonstrieren noch gegen jeden Blödsinn (auch dazu mehr im Vermischten).

Gleichzeitig ist das auch weiterhin mein größtes Problem mit den Grünen. Ich kann diese Globuli-Homöopathenfraktion auf den Tod nicht ausstehen. Die anti-wissenschaftlichen Quacksalber und ihre Fortschrittsverhinderung von der Impfgegnerschaft zu Gentechnik-Fundamentalisten....unerträglich.

Montag, 17. Mai 2021

Ein klimapolitisches Erdbeben

 

Innerhalb weniger Monate hat sich in der Bundesrepublik ein politisches Erdbeben vollzogen, das bisher noch wenig geschätzt und mit der nötigen Schwerpunktsetzung in der Debatte gewürdigt wird: Klimaschutz hat sich von dem Anliegen einer spezialisierten Themenpartei und einiger Aktivisten, als der es 2019, auf dem Höhepunkt der #FridaysForFuture-Proteste noch stand, zu einer mit Ausnahme der AfD überparteilich anerkannten Priorität der Politik entwickelt. Dieser Wandel, vergleichbar wohl nur mit dem Schwung von SPD und Grünen hinter die Reformpolitik Ende der 1990er Jahre, hat nachhaltige Wirkung.

Das hat mehrere Gründe. Einer ist sicherlich das bahnbrechende BVerfG-Urteil zur Generationengerechtigkeit, aber die Erkenntnis, dass die bisherige Klimapolitik wenn nicht krachend gescheitert, so doch zumindest völlig unzureichend ist, hat mittlerweile so breite Kreise erreicht, dass die übliche Politik kosmetischer Änderungen und weitgehender Blockadehaltung, wie sie die rot-gelb-schwarze Politik der letzten anderthalb Dekaden ausgezeichnet hat, nicht aufrechterhalten werden kann. Schlicht: In einer Demokratie muss die Politik auf eine Stimmungsänderung reagieren, und diese Stimmungsänderung haben wir.

Wirklich zementiert aber wurde sie durch das erwähnte Bundesverfassungsgerichtsurteil. Dieses einzuordnen hilft der Verfassungsblog:

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts fordert hier einen verantwortungsvollen Umgang mit der Freiheit ein. Freiheit kann nach diesen Vorgaben nicht nur im hier und jetzt gedacht werden, sondern muss immer die Implikationen ihres Gebrauchs für die Zukunft bedenken. Das Gericht kommt zu diesem Ergebnis in einem bemerkenswert diskursiven Vorgang, der zudem stets in enger Tuchfühlung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgt. Diese werden nicht blind als Vorgabe gesetzt, sondern im Hinblick auf ihre Aussagekraft kontextualisiert und in ein Spannungsfeld zu politischer Entscheidungsfreiheit gesetzt. Die Betonung der auch für die Zukunft notwendigerweise zu erhaltenden Freiheit ist zudem demokratieschonend: Je später gehandelt wird, desto drastischer müssen Maßnahmen ausfallen und desto weniger Spielraum werden zukünftige demokratische Gesetzgeber haben. Dem Beschluss wohnt bei aller Ausgewogenheit eine klare Aussage inne: Wir können uns unsere Freiheit nur so lange erlauben, wie wir die Auswirkungen ihres Gebrauchs mitbedenken. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, an deren Bedeutung aber auch im Kontext der Eindämmung der Covid-19 Pandemie anscheinend doch erinnert werden muss.

Es ist dieses Framing, das so entscheidend ist, weil es die bisherige Polarität der Klimaschutzdebatte durchbricht. Bislang kamen CDU, FDP und SPD immer damit durch, dass sie eine falsche Äquivalenz aufbauten und den Klimaschutz als einen Luxus betrachteten, den man sich leisten können müsse. Stets wurde darauf verwiesen, dass Klimaschutz Arbeitsplätze koste (eine ohnehin höchst zweifelhafte Annahme), wurde also eine Art Bonbon gesehen, das man sich in guten Zeiten leistet beziehungsweise das man sich an anderer Stelle abspart. Dieses Framing ist in den letzten Monaten fast vollständig verschwunden. Die tödliche Debatte, OB wir Klimaschutz betreiben müssen, hat endlich, nach mehr als drei Jahrzehnten, der Frage Platz gemacht, WIE wir Klimaschutz betreiben sollen.

Das ist gleich aus mehreren Gründen wichtig. Bisher war Klimaschutz ein Alleinstellungsmerkmal der Grünen, denen unbesehen Kompetenz bei diesem Thema zugesprochen wurde, weil sie die einzige wirklich dafür eintretende Partei waren. Ihre Lösungsansätze waren der Leitstern der Debatte, und weil die Grünen eine progressive Partei sind, waren diese Lösungsansätze eher im linken Spektrum der policies zu finden. Das wiederum führte zur ideologisch basierten, reflexhaften Ablehnung vor allem durch CDU und FDP, die aber keine eigenen Ideen in die Debatte einbrachten. Dass sich das nun massiv ändert, ist ein sehr gutes Zeichen.

Das Scheitern der Gipfel-Politik

Befassen wir uns aber zuerst einmal mit der Frage, warum die bisherige Klimapolitik - deren Beginn ich mit dem ersten Gipfel in Rio de Janeiro 1992 ansetzen würde - gescheitert ist. Der Wissenschaftsjournalist Lars Fischer beschreibt in Spektrum die Lage folgendermaßen:

Das zeigt nachdrücklich: Diplomatische Erfolge auf internationalen Konferenzen und rechnerische Emissionsrückgänge reichen nicht aus. Die Klimapolitik muss eben auch Auswirkungen aufs Klima haben. Und die hat sie im Moment nicht, eine Tatsache, die man mindestens ebenso dringend diskutieren sollte wie das nächste Emissionsziel.

Dass es mit dem Klimaschutz nicht so recht klappt, hat triftige Gründe. Der Klimawandel ist ein Problem der Zukunft, während die Gegenwart ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringt. Essen, Bildung und Gesundheit. Ein Dach über dem Kopf, Sicherheit und einen gewissen Komfort. Das zu ermöglichen, ist die zentrale Aufgabe staatlicher Politik. [...] Die Klimapolitik muss diese beiden Aufträge irgendwie miteinander und mit den Anforderungen internationaler Diplomatie vereinbaren. Die bisherige Strategie: Klimaschutz findet dort statt, wo er die zentralen Pfeiler des Alltags nicht einreißt. Deswegen ruht der Fokus so stark auf erneuerbaren Energien, Elektroautos und verschiedenen Strategien, Kohlendioxid einzufangen – alles Methoden, die Welt klimafreundlich umzubauen, ohne radikale Änderungen. [...]

Doch der Preis ist hoch. Die Klimapolitik eilt von Erfolg zu Erfolg, von einem hart verhandelten Emissionsziel zum nächsten Erneuerbare-Energie-Rekord, deren Auswirkungen aber bei der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre oder den schmelzenden Gletschern zur Unmessbarkeit verdünnt sind. Zwei Welten eben, nur sehr bedingt durch Ursache und Wirkung verknüpft.

Und deswegen ist es sekundär, welche Emissionsziele und andere Klimaschutzpläne beim »Leaders Summit on Climate« herauskommen. Es stellt sich vielmehr die zentrale Frage, wie man aus dieser Falle der großen Erfolge mit winzigen Effekten wieder herauskommt. Nach zwei Jahrzehnten Klimaschutz in der einen Welt und immer schneller steigenden Treibhausgaskonzentrationen in der anderen ist die entscheidende politische Aufgabe, die getrennten Welten wieder zusammenzuführen.

Damit berührt Fischer ein grundlegendes Problem. Ein Erhalt des Status Quo war (und ist in großen Teilen) das vordringliche Ziel der Klimapolitik. Die Überzeugung der Politik ist, ob zu Recht oder Unrecht (ich denke zu Recht), dass die Bevölkerung zwar Klimaschutzmaßnahmen wünscht und es eine Mehrheit für solche gibt, nicht aber für einen tiefgreifenden Wandel des Alltags. Deswegen bleiben Gruppen wie Extinction Rebellion, die "Grenzen des Wachstums"-Ideen vertreten, auch seit deren ersten Auftauchen in den frühen 1970er Jahren eine unbedeutende Minderheit. Noch ist der Veränderungsdruck bei weitem nicht hoch genug, um eine Einsicht in Notwendigkeiten von massiven Alltags- und Verhaltensänderungen mit sich zu bringen.

Dieser Stimmungswandel würde auch erst kommen, wenn es zu spät ist. So wie in der Pandemie dann eine Mehrheit für eingreifende Maßnahmen ist, wenn die Totenzahlen in die Höhe schießen, und nicht vorher, wenn man sie verhindern könnte, so ist auch beim Klimawandel damit zu rechnen, dass dann, wenn Hochwasser und Dürren Jahr um Jahr breite Landstriche verheeren, entsprechende Bereitschaft entstehen wird. Nur ist es dann natürlich zu spät. Diesem Dilemma liegt die gesamte bisherige Klimapolitik zugrunde. Wie Fischer es so schön beschreibt: man hat viel Klimapolitik betrieben, aber die erhofften Auswirkungen blieben aus.

Die Autoren James Dyke, Robert Watson und Wolfgang Knorr machen in ihrem lesenswerten Artikel die Idee von "net zero", also der Vorstellung, dass um die Mitte des 21. Jahrhunderts die Emissionen durch CO2-Entnahme aus der Luft in Summe null erreichen sollen, direkt für das Dilemma verantwortlich:

We have arrived at the painful realisation that the idea of net zero has licensed a recklessly cavalier “burn now, pay later” approach which has seen carbon emissions continue to soar. It has also hastened the destruction of the natural world by increasing deforestation today, and greatly increases the risk of further devastation in the future.

Die Versuchung für die Politik, besonders für das liberale Spektrum, war unwiderstehlich. Der Verweis auf irgendwelche zukünftigen Technologien gehörte noch zu Beginn diesen Jahres zum Standard-Argumente-Baukasten sowohl von FDP als auch CDU. Besonders Christian Lindner und Peter Altmaier verwiesen sehr gerne auf "Innovationen" unbestimmter Art, die in einer ebenso unbestimmten Zukunft das Klima retten sollten. Ich hatte diese Argumentationsweise bereits hier im Blog kritisiert, und sie fiel den Urhebern nun krachend auf die Füße. Der technische Machbarkeitswahn, so fahren die Artikelautoren fort, führte zu inkrementellen Reförmchen:

It was around that time that the first computer models linking greenhouse gas emissions to impacts on different sectors of the economy were developed. These hybrid climate-economic models are known as Integrated Assessment Models. They allowed modellers to link economic activity to the climate by, for example, exploring how changes in investments and technology could lead to changes in greenhouse gas emissions. They seemed like a miracle: you could try out policies on a computer screen before implementing them, saving humanity costly experimentation. They rapidly emerged to become key guidance for climate policy. A primacy they maintain to this day. Unfortunately, they also removed the need for deep critical thinking. Such models represent society as a web of idealised, emotionless buyers and sellers and thus ignore complex social and political realities, or even the impacts of climate change itself. Their implicit promise is that market-based approaches will always work. This meant that discussions about policies were limited to those most convenient to politicians: incremental changes to legislation and taxes.

Dadurch verschoben sich die Maßstäbe von dem, was notwendig und sinnvoll wäre, zu dem, was man zumutbar glaubte. In der Vorstellung, Klimaschutz heute sei im Endeffekt nur ein nutzloser Luxus, quasi grüne Identitätspolitik, die man sich eben leiste, weil in Zukunft irgendetwas ganz Tolles passiere, das das Problem löse, verzettelte man sich im ideenlosen Klein-Klein. Darüber ging der Blick dafür, wie groß die Herausforderung eigentlich ist, völlig verloren. Das gigantische Investitonsprogramm, das etwa Joe Biden in seinem aufsehenserregenden Bruch mit der wirtschaftlichen Orthodoxie aufgelegt hat, ist zwar weltweit unerreicht. Adam Tooze weist aber zurecht darauf hin, dass Bidens Programm alles andere als radikal ist - es ist nur weniger unzureichend als das, was alle anderen machen. Der Groschen ist immer noch nicht wirklich gefallen, inkrementelle Lösungen scheinen vielen immer noch das Gelbe vom Ei zu sein:

Ein weiteres durch die Gipfeldiplomatie bereitetes Problem ist das Vernebeln einer simplen Tatsache: je früher Maßnahmen ergriffen werden desto leichter und realistischer sind sie. Das ist das, worüber ich meinem eigenen Artikel geschrieben habe: eine realistische Klimaschutzpolitik ist gerade eine, die als unrealistisch angesehen wird. Unrealistisch aber ist es, auf inkrementelle Verbesserungen und die Zukunft zu hoffnen, denn diese Wette auf die Zukunft wird immer abenteuerlicher, je länger nichts geschieht. Wären in den 1990er Jahren entschlossene Schritte zur CO2-Reduzierung angegangen worden, wäre das Problem heute wahrscheinlich größtenteils gelöst. Stattdessen hat man 30 Jahre lang gezockt.

Dabei geholfen haben die von Dyke, Watson und Knorr erwähtnen Modelle. Je unerreichbarer das 1,5°-Ziel durch tatsächliche Emissionsreduzierungen wurde - und es ist unerreichbar! -, desto mehr wurden die mathematischen Modelle einfach durch carbon-capture-Technologie modifiziert. Das Problem ist nur: diese Technologie existiert nicht, zumindest nicht in einer sicheren und wirtschaftlichen Art. Die marktwirtschaftliche Logik macht die Dinger völlig unrentabel, und dementsprechend kümmern sich die "brillanten deutschen Ingenieure" auch darum, dass der neueste Mercedes 0,05l weniger Benzin auf 100km verbraucht, statt am eigentlichen Problem zu arbeiten. Auch darüber hatte ich bereits geschrieben: die Kräfte der Marktwirtschaft sind unsere beste, unsere einzige, Hoffnung, das Problem Klimawandel anzugehen. Aber sie sind aktuell fehlallokiert, und diese Fehlallokation wird sich nicht von selbst beheben. Es muss wirtschaftlich sein, das Klima zu schützen, besser noch: man muss die dicken Kohlen damit machen können, so wie Pfizer, Moderna und so weiter Milliarden mit dem Covid-Impfstoff verdienten. Das ist aber gerade nicht der Fall.

Inzwischen hat sich die Lage noch weiter verschlimmert. Die Modelle aber wurden einfach angepasst. Neben der zwar existierenden, aber nicht wirtschaftlichen und massentauglichen carbon-capture-Technologie hat man einfach den Einsatz verdoppelt und carbon-removal-Technologien mit eingepreist, die das CO2 aus der Atmosphäre saugen sollen. Diese Technologien existieren überhaupt nicht; ob sie es je werden, ist völlig unklar. Sie sind aktuell genauso realistisch wie eine Kolonie auf dem Mars. Dadurch besteht aber kein Handlungsdruck - denn in den Modellen lässt sich die Klimakurve ja immer weiter abflachen. Und genau deswegen ist der bisherige Ansatz gescheitert.

Die Kehrtwende der Parteien

Und damit kommen wir zu der politischen Situation in Deutschland zurück, die sich gerade massiv verändert. Das BVerfG-Urteil war dabei nicht der Auslöser, aber so etwas wie der finale Sargnagel in der Verleugnungshaltung der Parteien (außer der AfD, selbstverständlich). Ich empfinde dieses Urteil aber nicht als Sieg, sondern als Niederlage. Einerseits weil ich "Politik durch das Verfassungsgericht" ablehne, andererseits aber auch, weil die entsprechende Einsicht viel zu spät kommt. Aber natürlich: besser spät als nie. Betrachten wir nun die Parteien selbst.

Da wären zuerst die Grünen. Sie haben das Thema als letzten überlebenden Markenkern ihrer einstigen Identität aus der Gründerzeit bewahrt und waren lange die einzige Partei, die sich überhaupt darum bemüht hat, es in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Aber selbst bei den Grünen geriet es bis zu den #FridaysForFuture-Protesten ziemlich in den Hintergrund.

Noch schlimmer: Die Partei ruhte sich auf ihren Lorbeeren aus. Weil sie die einzige Partei war, die Klimaschutz als zentrales politisches Ziel einforderte, gab es keine große Notwendigkeit, hier über das Niveau der anderen Parteien hinaus zu gehen. Seit der Aufnahme eines reichlich unbestimmten "Green New Deal" ins Parteiprogramm 2013 kamen keine neuen Impulse. Man übernahm das Bekenntnis zu einer CO2-Steuer auf einem geradezu lächerlichen Niveau und ohne große Überzeugung.

Die beste Perspektive für einen Anschub in Sachen Klimawandel bietet ironischerweise ausgerechnet die FDP. Nachdem die Partei lange Jahre als entschiedener Gegner von Klimaschutzpolitik in Erscheinung getreten war, hat sie nun eine rhetorische Kehrtwende hingelegt. Das passt auch hervorragend ins Profil.

Die FDP hat sich unter Christian Lindner neu als junge, fortschrittliche Partei erfunden. Der Fokus im Bundestagswahlkampf 2017 lag klar auf Digitalisierung und Bildung; beides Themen, die unter den beiden seit 2005 praktisch dauerregierenden "Volksparteien" nicht eben hoch im Kurs standen. Dass jenseits der Rhetorik nicht allzuviel Inhalt da war, ist ein Thema, das die FDP mit den Grünen teilt. Aber das ist auch nicht so dramatisch; diese Lücke kann im Zweifel entsprechend schnell aufgefüllt werden.

Ein Beispiel dafür ist Lindners jüngster Vorstoß für ein "Investitionspaket": Er schlägt vor, Steuererleichterungen von 600 Milliarden Euro zu gewähren, damit diese für jeden gesparten Steuer-Euro zwei Euro investieren. Letztlich handelt es sich um eine exakte Spiegelung des keynesianischen Multiplikators. Natürlich gibt es nicht die geringste Garantie, dass das passieren würde - sehr viel wahrscheinlicher ist, dass die Unternehmen das Geld einfach einstecken; bei Trumps Steuerkürzungen, dem jüngsten Beispiel dieser Politik, ist genau das passiert. Aber die Wirklichkeitsfremde des FDP-Vorschlags, der auf dem ideologischen Reflex beruht, zu jedem Thema erst mal die Steuern zu senken, ist nicht das Wichtige. Das Wichtige ist, dass die FDP überhaupt in Begriffen von Milliardeninvestitionen denkt, die durch die deutsche Wirtschaft in den Klimaschutz gelenkt werden.

Denn was die FDP zum Hoffnungsträger von Klimaschutzpolitik macht ist, dass sie die Kehrseite der Medaille der Grünen sein können. Wenn beide Seiten bereit sind, sich gegenseitig nicht als ideologische Geisterfahrer, sondern als das zu sehen, was sie sind - komplementäre Herangehensweisen an dasselbe Thema - dann haben sie die Werkzeuge an der Hand, um sowohl die Schaffenskraft der Marktwirtschaft und der "deutschen Ingenieure" zu entfesseln als auch die des deutschen Staates und der entsprechenden international verästelten Organisationen wie der EU zu mobilisieren. Und gerade dieser ganzheitliche Ansatz wäre notwendig. Aktuell bin ich bestenfalls verhalten optimistisch, dass es hier statt der Antithese zur Synthese kommt, aber das Potenzial ist unbestreitbar vorhanden.

Wesentlich problematischer ist es mit der CDU. So darf man etwaLaschets offenen Aufruf zur Klimakriminalität durchaus als emblematisch für die Mentalität dieser Partei verstehen, in der die Korruptionsskandale der jüngsten Vergangenheit einmal mehr aufgezeigt haben, was für ein Selbstbedienungsladen für viele Funktionäre der deutsche Staat zu sein scheint. Gerade Peter Altmaier, dessen ganze Regierungszeit geradezu als Sabotage ernstzunehmender Klimaschutzmaßnahmen gewertet werden muss, kann hier als Exponent stehen. In diesem Zusammenhang ist Svenja Schulzes Kritik an Peter Altmaier sehr lesenswert. Und wo wir gerade bei dieser Riege sind: Merkel bewies direkt, dass sie ihr Mojo noch besitzt, als sie nach dem BVerfG-Urteil verkündete, man müsse jetzt Klimagesetze verschärfen. Es ist typisch für sie, dass sie mit einigen wertlosen Zugeständnissen ein Thema abräumen will, bevor es ihrer Partei gefährlich werden kann. Für die CDU ist das ein guter Ansatz, politisch sehr wirkungsvoll; für das Land und die Welt eine Katastrophe. Das reiht sich daher gut in Merkels Bilanz bei diesem Thema ein.

Noch viel schlimmer ist der rechte Flügel der Partei, wie ihn Friedrich Merz verkörpert, der angesichts des BVerfG-Urteils nur ein verächtliches Lachen übrig hat. Diese Leute leisten bestenfalls Lippenbekenntnisse zu der Notwendigkeit von Klimaschutz, sind aber noch zu sehr in ihrer ideologischen Verhaftung der früheren Grabenkämpfe gefangen, in denen es um eine Frontstellung "der Wirtschaft" gegen "das Klima" ging, als ob diese zwei gleichberechtigte, gegeneinander abzuwägende Seiten wären. Dieselbe Logik haben wir im Lockdown erlebt, als denselben Leuten nicht klar war, dass es kein Abwägen gibt. Ohne Klima keine Wirtschaft. Weder ein Virus noch der Klimawandel interessieren sich für Lobby-Politik, da schafft die Realität im Zweifel Fakten. Nur ist es dann zu spät.

Ganz ohne Potenzial ist natürlich auch die CDU nicht. In Reaktion auf die "Werteunion" einerseits (die Laschet dankenswerterweise verurteilt hat, das sei hier positiv erwähnt) und die Notwendigkeit und Bedeutung des Themas andererseits hat sich in der CDU nun ein Flügel gebildt, der sich "Klimaunion" nennt und klar für weitreichende Maßnahmen und moderne Politik eintritt. Leider ist er bisher noch sehr einflusslos und kommt medial auch kaum vor. Dazu will die CDU "auch inhaltlich überzeugen", worunter der Versuch der Positionierung zwischen den "Extremen" Grüne und FDP zu verstehen ist - in Theorie Erfolg versprechend, in der Praxis schwierig umsetzbar, schon allein mit diesem ausgebrannten Personalbestand.

Noch düsterer sieht es für die SPD aus. Für die Genossen war Klimaschutz nie eine Herzensangelegenheit; immer noch ist es ihnen nicht gelungen, herauszufinden, wie sie das Thema ihrer rapide schmelzenden Wählerschaft schmackhaft machen können; ja, es bleibt unklar, ob die verbliebenen SPD-Wähler*innen eigentlich mehrheitlich für oder gegen Klimaschutz sind. Entsprechend duckt sich die Partei weitgehend weg und heuchelt Glück über das BVerfG-Urteil, als habe sie es selbst herbeigeführt und schon immer diese Forderungen aufgestellt.

Bleibt die LINKE. Diese bekennt sich natürlich rhetorisch schon seit Langem zum Kimaschutz, doch ist der Verdacht erlaubt, dass sie ihn vor allem als nettes Einfallstor betrachtet, um die Rolle des Staates im Wirtschaftsleben zu heben. Genauso wie Christian Lindner reflexartig die Unternehmenssteuern senken will, um das Klima zu retten, will die LINKE den Spitzensteuersatz heben, um dasselbe zu tun. Dahinter steht keinerlei Konzept; man verwendet lediglich ein gerade aktuelles Thema, um zu fordern, was man immer schon gefordert hat. Dass die linke Kernwählerschaft mit dem Thema nicht sonderlich viel anfangen kann, kommt noch hinzu.

Die AfD können wir völlig außen vor lassen. Wie die Republicans in den USA hat sich die Partei der Klimawandelleugnung verschrieben, nutzt sie das Thema für ihre antidemokratischen Mobilisierungskräfte. Die zerstörerische Kraft, denn diese Truppe entfaltet, ist hier nur einmal mehr zu sehen. Ob Covid, ob Klima, ob irgendetwas anderes, was die AfD will, ist Zerstörung, um auf den Trümmern dann zu herrschen. Zum Glück ist das eine Vision, die die überwältigende Mehrheit der Deutschen deutlich ablehnt.

Fazit

Letztlich bleibe ich hin- und hergerissen, was die Zukunft des Klimaschutzes angeht. Auf der einen Seite ist es positiv, dass zum ersten Mal ein klarer überparteilicher Konsens zur Notwendigkeit von Handeln vorhanden ist, und dass dieses Handeln lagerübergreifend ist. Auf der anderen Seite haben wir drei Dekaden verschleudert, die wir nie zurückbekommen werden, und zumindest die CDU ist ein sehr unsicherer und gleichzeitig der größte Kantonist, den wir in Deutschland haben. Ich stelle die These auf, dass die 2020er Jahre die entscheidenden Jahre für die Zukunft des Planeten und unserer gesamten Spezies werden. Wenn wir es in diesem Jahrzehnt nicht schaffen, das Ruder herumzureißen, sind wir erledigt.