Mittwoch, 21. Dezember 2022

Rezension: Devon Price - Laziness Does Not Exist: A Defense of the Exhausted, Exploited, and Overworked

 

Devon Price - Laziness Does Not Exist: A Defense of the Exhausted, Exploited, and Overworked (Hörbuch)

Workaholics werden in populären Darstellungen gerne ikonisiert. Aaron Sorkin hat im Endeffekt ein ganzes Genre aus der Glorifizierung der Aufgabe jeden Privatlebens und der Monumentalisierung des Arbeitsstresses gemacht, und jüngst hat die TV-Serie "The Bear" viel Lob erhalten, deren Arbeitsethik nicht ganz unproblematisch ist, um es einmal milde auszudrücken. Gesund ist diese Art der Arbeitshaltung nicht immer. Leider werden Menschen, die diesem Ideal nicht nacheifern, allzu häufig angegriffen und bekommen Faulheit (oder doch wenigstens mangelnden Einsatz) vorgeworfen. Der Psychologe Devon Price hat mit "Laziness does not exist" nun die These aufgestellt, dass diese häufige Kritik nicht nur unberechtigt, sondern sogar schädlich ist.

Im ersten Kapitel erklärt Price, was er mit "The Laziness Lie" meint. Er spricht hier von der "Millenial obsession with productivity". Nichts würde demzufolge gesellschaftlich so hoch geschätzt wie Performance im Job, möglichst viele Stunden zu arbeiten und vollen Einsatz zu zeigen. Hier erkennt man bereits, dass er aus einer sehr amerikanischen Perspektive schreibt; gerade die groteske Überbewertung von Anwesenheitszeiten bei der Arbeit (man möchte nicht einmal von "Arbeitszeit" sprechen) ist eine amerikanische Obsession. Ich bin mir sehr unsicher, inwieweit ich die Einschätzung dieser Fixierung als "Millenial"-Phänomen teilen würde; Price selbst spannt einen viel größeren Rahmen, indem er auf die puritanischen Wurzeln der kapitalistischen Arbeitsethik verweist: “This form of Christianity taught that suffering was morally righteous and that slaves would be rewarded in Heaven for being docile, agreeable, and, most important, diligent." Da ist sicher etwas dran, wenngleich das in den breiten Pinselstrichen, in denen Price malt, natürlich sehr angreifbar bleibt und mit zahlreichen Qualifikationen versehen werden muss.

Das zweite Kapitel, "Rethinking Laziness", versucht sich an einer Neubelegung des Begriffs "laziness". Hier unternimmt Price ein Würdigung von Freizeit und Erholung. Auch das klingt in europäischen Ohren eher merkwürdig. Tatsächlich ist es wohl kaum gesund, pro Jahr nur ein paar Tage Urlaub zu nehmen und sonst 60-70 Stunden die Woche zu arbeiten. Da kann ja nichts Sinnvolles bei rumkommen. Wo Price sicherlich auch richtig lag ist, wenn er kritisierte, dass zahlreiche Vorwürfe der "laziness" (die mit "Faulheit" nur unzureichend übersetzt werden kann) in Wirklichkeit gesundes Verhalten delegitimieren - etwa Zeit mit Hobbies oder Freunden zu verbringen. Ich habe aber ein großes Problem mit dem Versuch, "laziness" als positiv umzudeuten und als generellen Mythos darzustellen; dazu aber mehr im nächsten Kapitel. Wesentlich fundierter nämlich ist seine Kritik an den verschiedenen Maßstäben von "laziness" bei Rasse und Gender. Schwarzen etwa wird, ebenso wie in abgeschwächter Form Frauen, viel eher "laziness" vorgeworfen als weißen cis-Männern.

Im dritten Kapitel "You deserve to work less" fordert Price, die Ansprüche an die Arbeitsperformance herunterzuschrauben und sich nicht selbst aufzugeben. Man solle sich nicht schuldig fühlen, weil man "zu wenig arbeitet", sondern stattdessen klare Grenzen setzen. Erneut, wir sprechen hier von amerikanischen Zuständen, also ein deutliches (und unbezahltes) Erbringen von mehr Stunden. Ich zögere erneut, "mehr arbeiten" zu schreiben, weil der Zusatznutzen dieser Stunden so rapide abnimmt, ein Thema, das Price leider kaum anspricht.

Was er allerdings komplett unterschlägt ist, dass es ja durchaus Leute gibt, die nicht ständig 120% Leistung erbringen. Böse Zungen würden gar behaupten, das sei die Mehrheit. Es gibt sogar solche Menschen, die weniger als die erforderliche Leistung erbringen. Price macht zwar durchaus immer wieder am Rande deutlich, effektiv von Workaholics zu sprechen, vermengt diese Grenzen dann aber immer wieder und nimmt kein einziges Mal Bezug dazu, dass man kaum eine generelle Aufforderung für mehr "laziness" aussprechen kann. Genau dieser Eindruck wird aber konstant erweckt.

Das vierte Kapitel, "Your achievements are not your worth", wendet sich gegen die zu starke Identifizierung mit der Arbeit: “We define people by their jobs—he’s an actor, she’s a mortician—categorizing them based on the labor they provide to others.” Auch hier liegt der Fokus wieder klar auf den Menschen, die sich wesentlich zu stark mit ihrer Arbeit identifizieren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich auch vor allem um ein Problem der oberen Mittelschicht handelt; Price spricht zwar natürlich grundsätzlich alle möglichen Schichten an, aber ich würde bezweifeln, dass die meisten Walmart-Kassierer*innen ihre "achievements" bei der Arbeit zu sehr zum Kern ihrer Identität machen. Das Problem ist für manche Leute natürlich vorhanden, und hier sind Prices Ratschläge, sich auch außerhalb der Arbeit ein Leben zu erhalten, sicherlich sinnvoll.

Das fünfte Kapitel, "You don't have to be an expert in everything", wendet sich gegen überzogene Anforderungen, die man sich selbst stellt. Es ist in Ordnung, einmal zu sagen, dass man etwas nicht kann. Das ist das erste Kapitel, dem ich eine generellere Anwendbarkeit und Wichtigkeit unterstellen würde. Man will ja gar nicht wissen, wie viel Bullshit in Unternehmen, Verwaltungen und Institutionen passiert, nur weil jemand nicht den Mut hatte zu sagen, dass er oder sie eine übertragene Aufgabe nicht ausfüllen kann und stattdessen etwas zusammenmurkst, das am Ende riesige Folgekosten verursacht.

In Kapitel 6, "Your relationships should not leave you exhausted", wendet sich Price von der Arbeitswelt ab und spricht über Sozialkontakte. Die Extrembeispiele von Leuten, die sich selbst und ihre berechtigten Interessen völlig hintenanstellen, um irgendwelchen Verwandten oder Freunden stets zu Diensten zu sein, sind natürlich beeindruckend, und man würde sofort sagen, dass diese Leute anfangen müssen, Prices Ratschlag zu befolgen, einfach einmal "nein" zu sagen. Seine Tipps dazu sind auch hilfreich (Nein sagen bei sehr kleinen, unwichtigen Dingen üben und eine Standardausrede ständig zu verwenden, um eine Routine zu schaffen). Aber gerade hier habe ich riesige Bauchschmerzen dabei, den Begriff "laziness" zu verwenden, gerade, weil die Beispiele so extrem sind. Und auch hier gibt es umgekehrt ja auch Leute, die viel zu wenig Beziehungsarbeit leisten.

Das siebte Kapitel, "Shrugging off society's "shoulds"", fordert, sich von den ständigen Ansprüchen der Gesellschaft zu emanzipieren und einen gesunderen Blick auf die eigenen Bedürfnisse zu haben. Auch hier: sicherlich sinnvoll, wenn man an Workaholism leidet. Spätestens hier aber war mir klar, dass dieses Buch nicht für mich ist, und für europäische Lesende sicherlich überwiegend auch nicht. Das letzte, achte Kapitel, "Compassion kills the laziness lie", ist dagegen universell gültig: Mitgefühl und Empathie sind ohnehin immer gut, und wenn man andere achtet und ernstnimmt, lösen sich die meisten dieser Probleme ohnehin.

Das ist denn auch mein größter Kritikpunkt mit dem ganzen Ding. Ich glaube, das liegt am Selbsthilfebuch als Genre: es ist ein typisch amerikanisches Genre, indem es die Verantwortung auf das Individuum legt und diesem Handlungsempfehlungen an die Hand legt. Die kollektiven, gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten werden bis auf das Feigenblatt des letzten Kapitels, in dem wir dann aber ebenfalls nur wieder individuelle, moralische Handlungsempfehlungen bekommen, weitgehend ignoriert.

Dabei sind die beschriebenen Probleme ja durchaus real. Die amerikanischen Arbeitszeiten sind beknackt hoch, die Urlaubszeiten geradezu lächerlich, das Phänomen, den Angestellten keine Krankheitstage zuzugestehen geradezu kriminell - und trotz alledem (oder vielmehr deswegen) liegt die Produktivität der US-Wirtschaft trotzdem unter der der deutschen, in der wesentlich weniger Stunden "gearbeitet" werden.

Natürlich hat Price völlig Recht, wenn er darauf verweist, dass die typischen Pausen, die sich Arbeitnehmer*innen während der Arbeit nehmen, ob sie sie nun offiziell bekommen oder nicht (Raucherpause, Kaffee kochen, Plaudern am Wasserspender, Surfen auf Facebook und und und) unvermeidbar sind und selbst bei schärfster Kontrolle letztlich durch in die Luft Starren genommen würden. Die tägliche Arbeitszeit wird nie komplett mit Arbeit gefüllt sein, sondern immer auch "Anwesenheitszeit" beinhalten. Aber das Ausmaß, in dem das gerade in den USA der Fall ist, ist dort ein gesamtgesellschaftliches Problem, das einer verqueren Arbeitszeit- und Performanceideologie folgt.

Allein, ob ein Feiern von "laziness", einem negativ belegten Begriff, dafür die richtige Lösung ist? Ich zweifle das sehr an, und angesichts den damit verbundenen Missbrauchsmöglichkeiten durch Angestellte, die tatsächlich Minderleistungen erbringen (und die gibt es genauso wie die Overperformer) halte ich das für den falschen Weg. Was es stattdessen braucht sind institutionelle Schutzmechanismen und starke sozial verankerte Normen über den zulässigen Rahmen. Aber das spielt bei Price praktisch keine Rolle.

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