Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Years of austerity are now writ large on the UK state
No one wants this. We know that, essentially, every child that the state successfully moves from the care of the local authority to that of a family has better life chances and, cynically, costs the state a lot less in the long run. Why has it happened? Well, in part because we’ve had a prolonged period in which the government was trying to cut spending but didn’t really have a particularly sophisticated plan to shrink the state. There’s not a big overarching intellectual theory that you can apply to what the Conservatives have or haven’t stopped funding since 2010. Instead, there is an electoral theory of cutting state spending, which is why so many of the cuts have ended up falling on local government. Now there are broadly two schools of thought in the Tory party on this. First, best embodied by Kemi Badenoch, who ran for the Conservative leadership before ultimately backing Rishi Sunak, is the problem that the UK state is still doing things it shouldn’t be doing. But instead of stepping back from whole areas it is just doing an awful lot of things incredibly badly. Second, best embodied by Jeremy Hunt, who ran for the Conservative leadership before ultimately backing Rishi Sunak, is that there are really good electoral reasons why the Conservative party does these things and that the party needs to prioritise getting the big-ticket items of health and education functioning as well as possible if it is going to survive and thrive. (Stephen Bush, Financial Times)
Ich denke, Stephen ist hier auf dem richtigen Dampfer. Mir scheint, dass diese Theorie auch mit erklären hilft, warum so viele Liberale so enttäuscht mit liberale Regierungszeiten sind. Wenn ich an die Debatten hier im Blog bezüglich Austerität denke, wird ja gerne betont, dass wir die eigentlich nie hatten, dass die geistig-moralische Wende nie stattfand und Thatcher und Reagan ja eigentlich auch nie wirklich so radikal kürzten wie das gerne behauptet wird. Und all das ist ja wahr! Vielleicht liegt ein Grund mit darin, dass eben auch neoliberale Radikale, wenn sie an die Macht kommen, den Gesetzen politischer Schwerkraft unterworfen sind. Und dann machen sie die Dinge, die einfach sind, weil keine Interessengruppen sich wehren, statt die Dinge, die sie eigentlich machen wollten und die aus ihrer Sicht zumindest deutlich sinnvoller wären. Aus dem gleichen Grund haben wir ja gerade auch einen grünen Wirtschafsminister, der fleißig in Erdgasinfrastruktur investiert statt in Erneuerbare.
Bücker: Die Aufgaben, die neben der Erwerbsarbeit wichtig sind, umfassen viel Zeit. Und diese Zeit kann absehbar nicht professionalisiert aufgefangen werden. 65 Prozent der Kleinkinder unter drei gehen nicht in die Kita und werden überwiegend von Müttern und Großeltern betreut. Ähnlich sieht es bei der Pflege der Angehörigen aus. Viele, die keine Erfahrung damit haben, denken, dass die Mehrheit der pflegebedürftigen alten Menschen in Seniorenheimen lebt. Aber die überwiegende Mehrheit wird häuslich gepflegt – von Angehörigen. Auch diese Care-Arbeit wird häufiger von Frauen übernommen. Privat und unbezahlt.
BI: Sie haben angedeutet, das könne theoretisch professionell aufgefangen werden.
Bücker: Aber es dauert sehr lange, diese Strukturen zu schaffen. Dafür müsste das professionelle Care-System massiv ausgebaut werden. Aber absehbar haben wir die Fachkräfte nicht, nicht in der Kinderbetreuung, den Ganztagsschulen und auch nicht in der Pflege. Wenn es gut läuft, dann könnten wir in 20 bis 25 Jahren mit dem Care-System so weit sein, dass alle Eltern, die wollen, in Vollzeit arbeiten können. Und das wird in der politischen Debatte und in Wirtschaftsmedien nicht ausreichend diskutiert: Die Vollzeit-Erwerbsquote von Frauen in den nächsten fünf Jahren auf das Niveau der Männer zu bringen, ist unrealistisch, solange im Care-Bereich nicht ein Wunder passiert. [...]
BI: In Familien ist die Arbeitszeit der Frau auch häufiger die „Verfügungsmasse“. Das Kind ist krank – die Frau bleibt zu Hause.
Bücker: Das wird häufig mit Gehaltsunterschieden erklärt. Paare haben dann eine sehr simple Sicht auf die Wertigkeit ihrer Zeit. Wer mehr verdient, geht der höherwertigen Erwerbsarbeit nach. Wer weniger verdient, betreut das Kind. (Isabell Prophet, Business Insider)
Ich muss zugeben, dass ich mit Bückers neuem Buch (auf das sich dieses Interview bezieht) nicht viel anfangen konnte; ich habe die Lektüre schnell abgebrochen. Aber ihre Analyse ist zutreffend. Noch immer wird ein Großteil der Carearbeit von Frauen übernommen, was Hinderungsgrund Nummer 1 für den anhaltenden Gender-Pay-Gap ist. Allein, die Feststellung hilft recht wenig - die kontroversen Fragen sind ja die Ursachen und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen.
Ich bin nicht sonderlich überzeugt, dass es eine Art "natürliche" Vorliebe der Frauen für Teilzeit und Carearbeit gibt; ich halte das für ein gesellschaftliches Konstrukt, für ein Produkt von Erwartungshaltungen, die von frühester Kindheit an eingeimpft werden. But reasonable people may disagree. Aktuell gibt es keine Möglichkeit, das für die eine oder andere Interpretation zu klären.
Gleiches gilt natürlich für die daraus zu ziehenden Konsequenzen. Bücker hat sicher Recht wenn sie betont, dass an und für sich die meisten Mittelschichtenfamilien das Geld als höchsten Wert betrachten und theoretisch gesehen alle kürzer treten könnten, aber ich halte das für eine unzulässige Individualisierung. Es schiebt die Schuld auf die Familien ab und nimmt die strukturellen Faktoren aus der Verantwortung.
3) Warum die Frauen in Ostdeutschland mehr verdienen
ZEIT ONLINE: Blieb diese Einstellung nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland bestehen?
Beblo: Ja und nein. Es gab einen Bruch. Nach der Wiedervereinigung haben viele Frauen in Ostdeutschland ihre Jobs verloren.
ZEIT ONLINE: Warum gerade Frauen?
Beblo: Etliche Unternehmen waren marode und wurden nach der Wiedervereinigung geschlossen oder von Westfirmen übernommen. Und diejenigen, die als erstes entlassen wurden, waren die Frauen – auch weil man davon ausging, dass es noch einen Mann gibt, der die Familie ernähren kann. Einen "Familienvater" entlässt man ungern, da gibt es mehr Hemmungen. Ich finde, dass allein der Begriff "Familienvater" viel aussagt. Eine "Familienmutter" gibt es nicht.
ZEIT ONLINE: Wer waren die Frauen, die weiterhin arbeiteten?
Beblo: Diejenigen in besseren Positionen und mit höheren Gehältern. Mit ein Grund dafür, weshalb die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen in der ehemaligen DDR in den Neunzigerjahren kleiner geworden ist. Dies ist ein gutes Beispiel für eine paradoxe Entwicklung bei der Chancengleichheit. (Lea de Gregorio, ZEIT)
Die Erkenntnis, dass der Feminismus der 1990er und 2000er Jahre vor allem eine Mittel- und Oberschichtenveranstaltung war, ist wahrlich nicht neu; ich habe das schon 2010 formuliert (nicht, dass ich auf den Artikel und die Folgen sonderlich stolz wäre...). Es zeigt auch gleichzeitig, dass Statistiken immer täuschen können, wenn man sie nicht kritisch anschaut. Nehme ich den Boden raus, steigt der Durchschnitt - ohne dass das allzuvielen Leuten helfen würde. Das ist ja, wenn ich nicht irre, auch der Vorwurf der Mindestlohngegner*innen - dass quasi das Lohnniveau vor allem durch ersatzloses Webrechen statistisch steige. Ich halte das für falsch, aber die Möglichkeit sollte man nicht zu leichtfertig von der Hand weisen; zumindest taugen reine Durchschnittsstatistiken nicht als Beleg.
4) One Worrying Sign for Democrats in the Midterm Results
DeWine and Kemp have several things in common. But one of the most conspicuous is that both stumbled into public conflicts with Donald Trump as a result of their refusal to back his denial of the 2020 election results. After Kemp certified his state’s vote count, Trump cast him as one of the MAGA movement’s great betrayers, and recruited a primary challenger to oust the GOP incumbent. DeWine, meanwhile, went on CNN shortly after the 2020 race was called and said that Biden had “clearly” won, and that Trump should begin preparing for a peaceful transition. In response, Trump attempted (though ultimately failed) to find a credible primary challenger to back against DeWine. In 2022, Republican candidates with strong ties to Donald Trump — and, more specifically, his attempts at election subversion — tended to dramatically underperform other GOP candidates. Given that pattern, it seems plausible that Kemp and DeWine owed some of their success to the aura of “moderation” they secured merely by being (1) objects of Trump’s ire, and (2) opponents of coups. (Eric Levitz, New York Magazine)
Ich hab das im letzten Vermischten schon bezüglich Ron deSantis angesprochen. Die Gefahr ist groß, dass sich die Extremisten normalisieren, indem sie sich von Trump distanzieren, ansonsten aber business as usual betreiben. Angesichts dessen, dass die Sorge um die Demokratie ein wesentlich größerer Grund für die Erfolge der Democrats bei den Midterms waren als zuerst angenommen, würde eine solche Normalisierung eine sehr negative Dynamik für die Partei bedeuten. Schon Bidens Wahl 2020 hat viel von der Identifizierung der GOP mit Trump gelebt. Und wenn man die obigen Zahlen ansieht, erkennt man eine winning strategy der GOP - sofern sie ihren lunatic caucus unter Kontrolle bringt.
5) Gestrandet mit Anna Schneider
Es muss schön sein, zu den Anna Schneiders dieser Welt zu gehören, zu den mündigen Bürgern, die ihre Freiheit im Sinne Sartres heroisch begreifen. Alle anderen sind für sie Hasenherzen. Wenn jemand sich etwas nimmt, was auch ein anderer will, mag das dessen Freiheit begrenzen. Es darf nur nicht das Ziel sein. Böse klingt das, aber ist ein wenig Verderbtheit nicht viel spannender als das Schwimmen mit dem Strom der Achtsamen? Vor zwei Wochen ist bei dtv Anna Schneiders erstes Buch erschienen. Es heißt „Freiheit beginnt beim Ich“ und legt nahe, dass die Autorin nicht bloß die Marke Springer vertritt, sondern es mit dem Radikalindividualismus ernst meint. Es stehen viele Sätze darin, an denen man nichts aussetzen kann, „Freiheit ist Freiheit“ zum Beispiel oder „Ohne Freiheit ist alles nichts“. Auch Kant hat seinen Auftritt. Eine der Kernaussagen ist, dass die Freiheit seit der Pandemie umgedeutet wurde, von der individuellen zur kollektiven. [...] Warum kann der Begriff der Freiheit so leicht und folgenlos vereinnahmt werden? Er ist so fluide wie die Sache, die er bezeichnet. Wir definieren Freiheit so, wie wir unseren Alltag erleben, und abstrahieren dabei nach Belieben von dem einen oder dem anderen der beiden Elemente, die man aus dem Begriff nicht streichen kann. Da ist zum einen die Abwesenheit von Zwängen. Und zum anderen eine legitimierte übergeordnete Gewalt, die das Recht des Einzelnen auf Freiheit durchsetzt und schützt. Wegen ihrer Ambivalenz kann die Freiheit das Gegenteil dessen bewirken, was sie schaffen soll: Furcht, Isolation und Ohnmacht. Ein Liberalismus, der diese Ambivalenz anerkennt, ist im Kern sozial. Und das Kernlose, was Schneider für Springer als Liberalismus verkauft, ist beunruhigend. (Elena Witzeck, FAZ)
Anna Schneiders Erfolgsrezept ist recht simpel: Genauso wie Ulf Poschardt ist sie ein professioneller Troll. Sie haut die maximale Version jeder möglichen These raus und bürstet alles auf Krawall. Das garantiert ihr Aufmerksamkeit. Dahinter ist allerdings recht wenig. Wie Witzeck ja in geradezu sadomachistischer Gründlichkeit herausarbeitet, hat Schneider praktisch keine intellektuelle Substanz. Dasselbe gilt, wie erwähnt, aber auch für ihren Boss Ulf Poschardt. Begnadete Polemiker sind sie dagegen beide. Und die Gefahr ist in beiden Fällen, dass sie durch das Geschäftsmodell Krawall, das eine ständige Steigerung und Grenzdehnung erfordert, irgendwann überziehen - man denke nur an Rainer Meyer. Die Endstation dieser Entwicklung ist beinahe unausweilich Tichys Einblick oder ein YouTube-Kanal à la Reichelt.
6) So begründen AfD-Politiker ihre Parteiaustritte
Es könnte natürlich stimmen, was die Leute sagen. Dass sie immer geradeaus waren und die anderen krumm. Wären da nicht Austrittserklärungen, in denen die Missstände schon vor Jahren angeprangert wurden und demnach bekannt waren. Wer Missstände kennt und sie öffentlich leugnet, ist selbst krumm. Als gemäßigte AfD-Politiker zum ersten Mal die Extremismusgefahr erkannten, nahmen es ihnen viele ab. Als immer neue Generationen von „Gemäßigten“ alle Jahre wieder die gleiche Entdeckung machten, wurde es unglaubwürdig. Steffi Brönner, die frühere stellvertretende AfD-Vorsitzende von Thüringen, ist ein Beispiel. Sie trat 2017 von ihrem Amt zurück und prophezeite, dass bald ein Parteiausschlussverfahren gegen sie laufen werde, weil sie gegen die Extremisten gekämpft hatte. „Sollte es so kommen, kann dann auch niemals mehr ein Mitglied eines Tages sagen, es wäre ihm nicht bewusst gewesen, in welche Richtung sich die Partei ‚verschoben‘ hat“, schrieb sie. Es kam so, 2018. Trotzdem zeigen sich AfD-Mitglieder bis heute überrascht von der Radikalisierung. „Die Partei entwickelt sich beständig weiter nach rechts“, berichtete der Abgeordnete Emden vier Jahre nach Brönner. Das hatte er offenbar nicht gewusst – und trat empört aus. [... ] So können AfD-Politiker, die im nächsten oder übernächsten Jahr austreten wollen, auf einen ganzen Kanon an Austrittsliteratur zurückgreifen. Folgen sie den Traditionen ihrer Vorgänger, lautet ihre Erklärung wie folgt: „Die AfD ist zwar ein verkommener Haufen, es gibt in dieser Mafia aber viele Mitglieder, die völlig seriös sind. Ich verlasse die Partei nach einem verlorenen Kampf um Posten, aber das ist nur ein zeitlicher Zufall. Der Austritt hat inhaltliche Gründe. Ich kann das Verhalten meiner Parteifreunde, die ich trotz ihrer Fehler lange verteidigt habe, einfach nicht mehr mittragen. Die Partei war vor sieben, vor vier oder vor zwei Jahren noch seriös, nun nicht mehr. Das lässt mir keine Wahl, denn ich bleibe mir stets treu.“ (Justus Bender, FAZ)
Eine nicht uninteressante Analyse, die Bender da hinlegt. Nur, was sich daraus genau ergibt, lässt er offen. Natürlich ist es nervig, dass diese Leute sich inszenieren, als ob sie irgendwie integer seien (und nicht jahrelang problemlos in einer proto-faschistischen Partei unterwegs waren), aber auf der anderen Seite sollten wir das glaube ich einfach schlucken (egal wie bitter es schmeckt) und alle Abweichler*innen aus der AfD, so irgendmöglich, willkommen heißen und wieder integrieren. Da hat im Übrigen auch die CDU eine wichtige gesellschaftliche Funktion, weil deren rechter Flügel der einzige realistische demokratische Hafen ist, den diese Leute anlaufen können. Siehe auch Fundstück 6 oder diesen guten Artikel.
Doch knapp ein Jahr, nachdem Friedrich Merz die Führung übernahm, wirkt es, als habe die Union den konservativen Tunnelblick der frühen Nullerjahre für sich wiederentdeckt. Sogar die Formulierungen sind dieselben wie damals. Das Bürgergeld der Ampel blockierte sie mit der Behauptung, Arbeit müsse sich lohnen, und bei der doppelten Staatsbürgerschaft warnt sie vor einer "Einwanderung in die Sozialsysteme". Man wartet fast auf das Revival des absoluten Tiefpunkts dieser Zeit, als sich der damalige CDU-Oppositionspolitiker Jürgen Rüttgers mit dem Plakatslogan "Kinder statt Inder" ins Abseits stellte. [...] Jüngst twitterte Friedrich Merz eine entlarvende Bestrafungsfantasie. "Ich weiß, die meisten werden im Gefängnis nicht besser", schrieb der frühere Richter über die Klimaaktivisten, die vorübergehend den Hauptstadtflughafen blockiert hatten, "aber solange sie sitzen, ist draußen Ruhe." Was für ein brutaler und gleichzeitiger hilfloser Satz von jemandem, der gern die Richtlinienkompetenz für das ganze Land hätte. Merz steht da allerdings keineswegs allein. In Teilen des bürgerlich-liberalen Lagers scheint die Dämonisierung der Letzten Generation und überhaupt des Klimaaktivismus so weit fortgeschritten, dass die Maßstäbe vollkommen verrutscht sind. Viel zu selten, wenn überhaupt, ist von Reflexion über die eigenen klimapolitischen Versäumnisse zu lesen, die zum Entstehen dieser Bewegung führten. Noch zu Zeiten von Pegida war da deutlich mehr Selbstkritik, da war es ein großes Thema bei der Union, wo und wie man die "besorgten Bürger" nicht richtig verstanden hatte. (Christian Bangel, ZEIT)
Ich bin bezüglich der Frage sehr zwiegespalten. Einerseits sind die von Bangel (richtig) dargestellten Probleme der CDU eine Folge des Versuchs, ihr "Profil zu schärfen" und AfD-Wählende zurückzugewinnen. Bisher geht das nicht großartig auf. Zwar rangiert die CDU in Umfragen unter dem absoluten Nullpunkt von 2021, aber für mich fühlt sich das ein bisschen an wie Peer Steinbrücks relativer Erfolg 2013 gegenüber Steinbrücks Ergebnis von 2009. Die nächsten Bundestagswahlen sind noch eine Weile hin, aber soweit bringt mich nichts von meiner generellen These ab, dass die CDU den Weg der SPD weitgehend nachvollzogen hat und für die absehbare Zukunft unter 30% bleiben wird.
Auf der anderen Seite könnte der Preis für diese "Profilschärfung" sehr hoch sein. Zwar ist es mit eine Aufgabe der Opposition, Krach zu machen, weswegen ich der CDU deutlich mehr goodwill gebe als viele andere (besonders meine Twittertimeline schäumt gerade über vor völlig überzogenen Extremismus-Vorwürfen), aber der Preis für diese "Profilschärfung" und die Attraktivität für einige wenige AfD-Abweichler*innen besteht leider in einer deutlichen Verschärfung des Diskurses und der Förderung von Ausgrenzung und Hass.
Man kann natürlich immer fragen, wem mit Pessimismus gedient ist, und zu der einfachen Antwort kommen: dem Pessimisten allein. Zugleich drängt aber auch die Frage, ob dieser Pessimismus nicht eine freundliche Neubewertung verdient, wo der handlungsorientierte Optimismus an seine Grenzen gerät. Und das tut er ganz zweifellos. Polemisch ließe sich sagen: Der einzige Punkt, an dem Franzen irrte, ist der Zeitraum. Die Undurchführbarkeit aller konsensualen Klimaziele seit der Pariser Konferenz 2015 ist schließlich bereits drei Jahre nach Franzens Text höchst absehbar, und zwar nicht nur im katastrophalen gesellschaftlichen Klima der USA, aus dem heraus Franzen damals schrieb, sondern etwa auch in Deutschland: Wo in einer Akutkrise jeder Kubikmeter Gas wichtiger war als ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel, wo sich auch soziale Fragen nur zu leicht gegen Erfordernisse des Klimaschutzes ausspielen ließen, besteht ja eben überhaupt keine Hoffnung auf ernsthaften Klimaschutz in absehbarer Zukunft. Mit jeder hinzukommenden gesellschaftlichen Gegenkraft von rechts, links, oben und unten wird klarer: Dieser Kampf ist nicht zu gewinnen. Und wirklich jeder hat (oft tatsächlich gute) Gründe, ihn nicht zuerst in seiner Zeit und seinem Raum führen zu wollen. [...] Doch was ist die Alternative, die wir gerade erleben? Was, wenn das ständige Beschwören des Auswegs nur immer tiefer in die Ausweglosigkeit führt? Wer ein Problem immer nur mit einer vermeintlich passenden Lösung beschreibt, nährt zugleich den Glauben an sie. Er nährt auch den Glauben daran, dass sich jemand darum kümmert, in Politik, Forschung, Gesellschaft, auch Medien. Einem falschen Anschein aber gilt es grundsätzlich zu widersprechen, ganz abgesehen davon, dass auch wohlfeiler Optimismus – offensichtlich – deaktivieren kann. (Jonathan Schneider, ZEIT)
Die Unfähigkeit, etwas Substanzielles gegen den Klimawandel zu unternehmen, ist in der Tat ebenso augenfällig wie das aktive Leugnen, dass die Pariser Klimaziele de facto unerfüllbar geworden sind. Wir haben es mit einem echten Sandwich-Problem zu tun. Aber noch viel schlimmer ist, dass während auf der einen Seite fragwürdige Protestaktionen immer verbreiteter werden es in manchen Kreisen gerade en vogue wird, einfach aufzugeben. Die in Fundstück 5 bereits diskutierte Anna Schneider etwa verkündet in Talkshows und Interviews beständig, dass wir "uns anpassen" müssen.
Diese Idee der Anpassung ist kaum möglich, aber das ist nur die naturwissenschaftliche Seite der Debatte. Was ich so auffällig finde ist der Normalitarismus, den Schneider hier an den Tag legt: um in der Gegenwart keine Einschränkungen erleben zu müssen ("Freiheit") fordert sie massivste Einschränkungen in der Zukunft (die erwähnte Anpassung). Es ist eine intellektuelle Bankrotterklärung, denn wenn das Freiheit sein soll, dann weiß ich auch nicht. Erwartet Schneider (als pars pro toto) etwa, dass diese Anpassung nicht in Einschränkungen bestehen werden? Es ist einfach nur normalitaristische Verantwortungslosigkeit.
9) Tweet
Wir wollen keine #Einwanderung in die Sozialsysteme, sondern die Einladung in den #Arbeitsmarkt. Wer hart arbeitet und gut integriert ist, soll Deutscher werden können. Wer sich nicht integrieren will, hat hier keine Perspektive. Das gehört zur Wahrheit dazu. #Staatsangehörigkeit
— Christian Dürr (@christianduerr) November 28, 2022
Dieser Tweet ist symptomatisch für die ganze beknackte "Debatte" um das Einwanderungsrecht. Für sich genommen ist jeder dieser Sätze weitgehend unkontrovers. Wer will schließlich eine Einwanderung in die Sozialsysteme? Eine Einladung in den Arbeitsmarkt ist auch sinnvoll, schließlich ist ohne Erwerbsarbeit ein selbstbestimmtes Leben in Deutschland unmöglich. Dass wer hart arbeitet und gut integriert ist Deutscher werden soll, lehnen gerade auch nur CDU und AfD ab. Wer sich nicht integrieren will, hat keine Perspektive - offensichtlich. Sich mit diesen Thesen als großer Truth-Teller zu inszenieren ist ziemlich billig, weil man dafür kaum Widerspruch bekommen dürfte.
Der Widerspruch kommt durch die Kombination dieser Thesen. Da haben wir etwa die Wortwahl, die etwas merkwürdig ist. Dürr spricht von einer "Einladung in den Arbeitsmarkt", macht aber im übernächsten Satz deutlich, dass wer die Einladung ablehnt, hier keine Perspektive hat. Das ist keine Einladung, das ist eine Bedingung. Und erneut, es ist durchaus fair, die zu formulieren! Aber dann sollte man nicht Euphemismen verwenden. Mein größtes Problem aber ist die Verknüpfung von Integration und Arbeit.
Denn ja, alle sollten die Einladung erhalten, und im Großen und Ganzen gilt auch, dass wer nicht arbeiten WILL sich einer Integretation und damit Perspektive verschließt. Aber Dürrs Worte schließen all jene aus, die aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten können. Was ist etwa mit Leuten, die keine Arbeit finden? Aktuell ist das glücklicherweise nicht so das Problem, aber was passiert in der nächsten Rezession? Irgendwann kommt wieder eine. Was gilt mit diesen Regeln, wenn wir wieder wie in den 2000er Jahren vier Millionen Arbeitslose haben? Was ist mit Leuten, die krank sind, oder die jemanden pflegen müssen, oder Kinder betreuen? Schließlich würden wir da ja auch Deutsche nicht als unintegriert sehen.
Das alles ist natürlich eine Menge, was man einem Tweet vorwirft - vermutlich äußert sich Dürr in anderen Kontexten differenzierter. Aber die Debatte besitzt vor allem dank der CDU (siehe Fundstück 6) gerade eine große Schärfe in diesem Bereich, und man sollte sich nicht glauben, dass diese Tonlage von potenziell zuwandernden Fachkräften - die man ja unbedingt will und braucht! - nicht gehört werden würde. Es hat schon Gründe, warum Deutschland nicht sonderlich attraktiv ist, und die liegen nicht nur in der Bürokratie.
10) Das langsame Sterben der Schuldenbremse
Auf dem Debattenkonvent der SPD hat sich kürzlich eine interessante Anekdote zugetragen. Ausgerechnet ein gewisser Kevin Kühnert, sonst alles andere als ein ordnungspolitischer Gralshüter, hielt seine Jusos davon ab, die Abschaffung der Schuldenbremse zu fordern. Der SPD-Generalsekretär überzeugte seine Genossen mit einem simplen Argument: Schulden sind nicht das Problem der SPD. Die beschafft uns doch der Christian Lindner von der FDP. Und zwar durch Sonderetats abseits des regulären Haushalts. Dass ein notorischer Schuldenbremser-Verachter wie der SPD-Generalsekretär nicht mal mehr die Notwendigkeit für deren Abschaffung sieht, zeigt, wie ernst die Verfassungsregel von großen Teilen der Politik noch genommen wird: nämlich gar nicht. [...] Bundesfinanzminister Lindner brüstet sich zwar damit, die Schuldenbremse im Bund 2023 ja einzuhalten. Doch angesichts von parallel einer halben Billion Euro Schulden in Schattenhaushalten hat der FDP-Chef seine Glaubwürdigkeit als Lordsiegelbewahrer der Verfassungsregel längst verloren. [...] Richtig ist allerdings auch: Die starre Schuldenbremse deutschen Typus' hat die Tricksereien erst mitbefördert. Gut gemeint, erwies sich die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Ausprägung als zu enges Korsett, aus dem sich die Politik nun mit aller Macht herausschält, um finanziell Luft für die Bewältigung der Krise zu gewinnen. Eine Abschaffung der Schuldenbremse wäre nicht sinnvoll. Wissenschaftlich ist die bindende Wirksamkeit von Schuldenregeln lange belegt. Wer die Schuldenbremse retten will, muss sie reformieren. Und die Verschuldungsgrenzen auf das europäische Level anheben. (Martin Greive, Handelsblatt)
Ich sag es immer wieder: die Schuldenbremse ist de facto tot. Sie überlebt den Kontakt mit der Realität einfach nicht. Dass ausgerechnet Lindner derjenige ist, der sie konstant aushebeln muss, ist eine Ironie der Geschichte; vielleicht auch ein "Only Nixon can go to China"-Moment. Was mir völlig unklar ist, ist Greives geradezu hilflos-alberne Forderung, sie zu reformieren und auf europäisches Level zu heben. Als hätten wir nie den Vertrag von Maastricht gehabt! Man kann mit einem Stück Papier nicht die Realität aufhalten, ganz egal, wie nett es formuliert ist.
11) The Far Right Is Getting What It Asked For
Ye’s Infowars disaster is emblematic of something that seems to be happening across the far right. Although their messaging is always noxious and hateful, right-wing shock jocks and politicians like to employ thinly veiled innuendo and dog whistles to rally their audience. The game is to push the boundaries of social acceptability but leave just enough room to deny culpability when things go off the rails. Then they can blame political opponents for bias and censorship when they’re criticized or suspended by the supposedly “woke” left. But things are taking a turn, and it’s not just about Ye. Though it’s always been a sewage system for political sludge, Twitter has recently lifted its floodgates under Elon Musk’s ownership, reinstating banned accounts, suspending researchers without cause, and drastically reducing content moderation overall. The New York Times reported today that hate speech has “soared” on the platform in the weeks since Musk’s takeover. And there’s reason to suspect that things may get even worse: Musk said yesterday that he wants to foreground “view count” on every tweet, which could encourage attention-grabbing and incendiary posts even more than the platform already does. It’s a dog-catches-car moment: Republicans are getting what they asked (and tweeted) for, and finding that it makes them uncomfortable by association (in public at least). The makeshift walls have crumbled around the far right, and it’s flummoxing those who try to launder their message for a wider audience. (Charlie Warzel, The Atlantic)
Passend zu Fundstück 4 haben wir hier diese Art der Radikalisierung im Spektrum der Republicans. Das ganze Ye-Desaster ist genauso auffällig wie das Space-Karen-Getrolle von Elon Musk. So widerlich dieser ganze Dreck auch ist, die Unfähigkeit der Partei, sich davon zu distanzieren, könnte dafür sorgen, dass es ihnen nicht wirklich gelingt, von der genannten Fähigkeit zur Distanzierung wenigstens auf nationaler Ebene zu profitieren. Anders ausgedrückt: wenn ein republikanischer Präsidentschaftskandidat weiterhin mit Leuten wie Ye und Musk, Fuentes und Co verknüpft bleibt, haben die Democrats eine Chance. Und haben damit ihre messaging agenda auf dem Präsentierteller. Sie müssen sich dazu nur eine Scheibe von ihren Gegnern abschneiden: nachdem man sie jahrzehntelang als Sozialisten und Terrorismus-Versteher beschimpft hat, ist es eine gewisse Ironie der Geschichte, dass sie den Spieß nun umdrehen können.
Resterampe
a) Sehr guter Punkt bezüglich der niedrig hängenden Früchte. Haben unsere Liberalen hier dafür eine Erklärung? Würde mich interessieren.
b) Was für ein puberäter Bullshit.
c) Zum ersten Mal wählten 2022 mehr Wohlhabende Democrats als Republicans.
d) Diese Haltung finde ich auch super problematisch.
e) Echt super ekliges Verhalten.
f) Superreiche überziehen kritische Journalist*innen mit Klagen, um sie mundtot zu machen. Meinungsfreiheit und so. Gilt immer nur für die Mächtigen.
g) Eine KI gewinnt jetzt "Diplomacy". Danke für den Hinweis!
h) Gutes Interview zum Thema "Ignorance in Politics". Danke an Dokkeratops!
i) Alice Schwarzer ist so lost.
j) Deutschland verstößt mal wieder massiv gegen EU-Recht.
k) Leider ist diese Fahrrad-Auto-Satire ziemlich nahe an der Wahrheit.
l) Über ein Sechstel (!) aller (!!) Strafgerichtsprozesse befasst sich mit Fahrerflucht nach Unfällen. Nur mal wieder so zum Thema Autokultur und wo die üblichen Verdächtigen merkwürdig ruhig sind, wenn es um Vorbeugung und Strafverschärfung geht.
m) Es droht keine Lohn-Preis-Spirale, offensichtlich. Stattdessen sinken die Reallöhne dramatisch. Aber das war von Anfang an klar. Voller Erfolg der Löhne-Senk-Lobby.
n) Interessanter Artikel zu Jesus und den Jünger*innen.
o) Das Vertrauen der Schüler*innen in die Schule ist auf einem absoluten Tiefpunkt.
p) Stop taking billionaires at their word.
q) Die Erfolge der 4-Tage-Woche in Irland klingen schon recht spektakulär.
r) Did Redistricting cost Democrats the House? Überraschend komplexe Antwort.
s) Eine interessante Analyse des Grabenkriegs in der Ukraine.
t) Gute Gedanken zur Kita-Krise.
u) Zum Thema "verramschen".
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