Dienstag, 12. März 2024

Frührrentner Mitch McConnell packt mit irritierender Psychologie den Zwang zum freien Wort an - Vermischtes 12.03.2024

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Die irritierende Psychologie der Protestwähler

Der Artikel behandelt das Phänomen der Protestwahl, insbesondere die Entscheidung einiger Bürger, aus Enttäuschung und Wut die AfD zu wählen, in der Hoffnung, etablierte Parteien zur Verbesserung ihrer Arbeit zu bewegen. Der Autor, ein Psychoanalytiker, reflektiert über die Unzulänglichkeit von Vorwürfen als Mittel zur Problemlösung und argumentiert, dass diese Haltung die Probleme eher verstärkt. Er zieht Parallelen zwischen persönlichen Beziehungen und politischen Einstellungen, indem er aufzeigt, wie Vorwürfe in beiden Kontexten kontraproduktiv wirken. Die Neigung, aus Frustration und Enttäuschung heraus Protestwahlen zu tätigen, wird als Ausdruck einer tieferen menschlichen Tendenz verstanden, Unzufriedenheit direkt und impulsiv zu äußern, ähnlich wie ein Baby, das schreit, wenn es unzufrieden ist. Der Artikel hinterfragt diese Haltung kritisch und deutet an, dass ein konstruktiverer Ansatz zur Verbesserung der politischen Landschaft notwendig ist, anstatt durch Protestwahl und Vorwürfe eine negative Dynamik zu fördern. (Wolfgang Schmidbauer, Welt)

Ich bin nicht hundertprozentig überzeugt, ob ich die Paarpsychologie-Allegorie teilen möchte, aber Protestwahl ist ein zutiefst irrationaler Vorgang. Das steckt ja im Konzept bereits drin. Bei einer Wahl wähle ich etwas, in dem Fall meine Repräsentant*innen und mittelbar meine Regierung für die nächste Legislatur. Das ist ein zutiefst gewichtiger Vorgang mit schwerwiegenden Konsequenzen. Begehe ich den als Protest, macht das keinen Sinn. Das ist wie Protestessen. Oder Protestschlafen. Oder Protestspielen. Oder was auch immer. Ich kann das schon machen, aber jedes Mal zweckentfremde ich den eigentlichen Vorgang, um jemandem eines auszuwischen. Dabei kann ich mir unter Umständen selbst schaden. Mein Sohn ist da sehr gut drin, der bestraft mich etwa, indem er aus Protest seine Hausaufgaben nicht macht oder das Mittagessen verweigert. Rational? Nein, aber den Protest zum Ausdruck gebracht. Er hat die Entschuldigung, gerade in die Frühpubertät einzutreten. Welche haben Protestwählende?

2) Die Freiheit des Wortes umfasst auch die Freiheit des dummen Wortes

Der Artikel setzt sich mit der Debatte um Antisemitismus und Israelkritik innerhalb des deutschen Kulturbetriebs auseinander, insbesondere im Kontext der Berlinale. Der Autor argumentiert, dass es nicht gerechtfertigt sei, aus einzelnen pro-palästinensischen Äußerungen von Künstlern auf der Berlinale auf ein generelles Problem des deutschen Kulturbetriebs mit Israelhass und Antisemitismus zu schließen. Solche Schlussfolgerungen seien oft politisch motiviert oder beruhten auf einer überzogenen Selbstkritik, die in Deutschland historisch gewachsen sei. Der Text betont, dass die internationalen Akteure, die in der Debatte eine Rolle spielen, zeigen, dass die Diskussion um Antisemitismus und Israelkritik nicht ein spezifisch deutsches Phänomen ist, sondern eine internationale Dimension hat. Zudem kritisiert der Autor die Tendenz innerhalb Deutschlands, nicht mehr in der Lage zu sein, andere Meinungen zu tolerieren und eine Diskussion zu führen, ohne sofort nach Einschränkungen zu rufen. Dies wird als das eigentliche deutsche Problem identifiziert: eine abnehmende Fähigkeit, mit unterschiedlichen Ansichten umzugehen und die Meinungsfreiheit zu wahren, selbst wenn es um kontroverse oder unpopuläre Ansichten geht. Der Artikel schließt mit dem Hinweis, dass es wichtig ist, sich der Diskussion zu stellen und unterschiedliche Perspektiven auszuhalten, anstatt sich in Abschottung und Zensur zu flüchten. (Denis Yücel, Welt)

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Yücel auf Kommentare wie den seines Herausgebers Ulf Poschardt anspielt. Ich fühle mich in meiner These sehr bestärkt, dass Cancel Culture a) schon immer existierte und b) völlig normal ist. Was Ulf Poschardt in der verlinkten Kolumne fordert, würde er, beträfe es einen Rechtsradikalen, mit Verve bekämpfen, assistiert von Anna Schneider (die natürlich eine eigene Kolumne hat, in der sie das Canceln der Berlinale fordert). Es liegt eben immer im Auge der Betrachtenden. Entweder ist radikalen und/oder dummen Scheiß zu sagen ein Grundrecht, das in praktisch allen Fällen unbedingt verteidigt werden muss, oder halt nicht. Aber nicht mal Voltaire und Luxemburg haben das so gehalten, egal wie oft man sie fehlzitiert, und kein anderer Mensch wird es jemals tun. Der Anspruch ist zu hoch und nicht einzuhalten. Man kann ihn natürlich als Ideal formulieren, sollte man vielleicht sogar, aber die Vorstellung, er wäre umsetzbar (wie Yücel mit der Kritik an dem "inzwischen haben wir verlernt..." leider auch insinuiert) ist falsch. Es war zu allen Zeiten so, und es wird zu allen Zeiten so sein. Wir müssen auf die Selbstreinigungskräfte und interne Kritik vertrauen, um die Auswüchse in Zaum zu halten.

3) Wenn Asylbewerber mit anpacken, ist das keine Zwangsarbeit

Im Saale-Orla-Kreis in Thüringen hat der Landrat Christian Herrgott (CDU) eine Arbeitspflicht für Asylbewerber eingeführt, die auf dem Asylbewerber-Leistungsgesetz basiert. Diese Maßnahme erlaubt es, Asylbewerber zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten, allerdings mit strengen Arbeitsschutzvorgaben und unter bestimmten Bedingungen: Eine Arbeitszeit von mehr als 20 Stunden pro Woche ist nicht vorgesehen, und bestimmte Gruppen wie Rentner, Schulpflichtige, Kranke und teils Erziehungspflichtige sind ausgenommen. Die Idee dahinter ist nicht nur, die Integrationschancen durch Arbeit zu verbessern, sondern auch, Asylbewerbern die Möglichkeit zu geben, aktiv zur Gesellschaft beizutragen. Bei Nichtteilnahme drohen finanzielle Kürzungen. Der Landrat sieht darin einen Anreiz für die Asylbewerber, sich am Arbeitsmarkt zu orientieren und möglicherweise eine Ausbildung zu beginnen. Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen im Kreis übersteigt das Angebot, was für Asylbewerber eine Chance darstellen könnte. Die Maßnahme zielt auch darauf ab, die Akzeptanz von Asylbewerbern in der Gesellschaft zu erhöhen, indem gezeigt wird, dass sie bereit sind, einen Beitrag zu leisten. Der Artikel deutet an, dass solche Initiativen die Migrationspolitik realistischer gestalten und möglicherweise das Wählerverhalten beeinflussen könnten. (Jan-Alexander Casper, Welt)

Ich halte die aktuelle Aufregung im progressiven Lager diesbezüglich (vor allem den Vorwurf der "Sklavenarbeit") auch für total überzogen. Wie schon bei der Bezahlkarte steigert sich das progressive Lager da gerade in eine regelrechte Hysterie, die in meinen Augen völlig überzogen ist (dasselbe wie mit den Versuchen, im Rahmen der Pro-Demokratie-Demos die Union auszuschließen und mit der AfD gleichzusetzen; völliger Irrsinn und grundfalsch). Aber der Fall zeigt auch eine größere, demokratietheoretische Dimension:

Ich erinnere mich an total viele clevere Takes von "ach, ein Landrat ist eh nicht wichtig, kann auch von der AfD sein" - an diesem Beispiel sieht man, was Landrät*innen tun können und welchen Gestaltungsspielraum sie haben. Stellt euch mal solche Macht über Menschen in Händen von Leuten wie der AfD vor. Aber grundsätzlich: Der Mann hat nie versprochen, etwas anderes zu sein als ein konservativer Hardliner. Er wurde von allen Demokrat*innen gewählt, weil er ein Demokrat ist, nicht, weil er moderate Politik machen würde. Das ist auch Demokratie - wenn eine klare Mehrheit für rechte Positionen besteht, werden diese gewählt. Und das ist hier der Fall, ob es mir gefällt oder nicht. Das ist natürlich für uns Progressive extrem ungenehm. But let's not kid ourselves: so schaut es aus, wenn alle demokratischen Kräfte zusammenstehen. Das bedeutet auch, dass man voll und ganz an die CDU die Erwartung richten kann, ggf. mit zugehaltener Nase jemand linkes zu wählen. Und dann halt damit zu leben, dass diese Person linke Politik macht. Das ist nur extrem unwahrscheinlich, weil nirgendwo linksextremistische und linke Kandidat*innen in Stichwahlen stehen. Aber nehmen wir an, es geht um jemand von BSW oder Grünen. Es muss von der CDU dann erwartet werden, grün zu wählen. Ich halte es für wichtiger, diese Anspruchhaltung aus dem Fall Herrgott abzuleiten als nutzlos das Ergebnis einer demokratischen Wahl zu kritisieren.

4) Später in Rente gehen – aber bitte freiwillig

In Deutschland verschärft sich der Fachkräftemangel, da die Babyboomer-Generation in den nächsten zehn Jahren das Rentenalter erreicht. Trotz eines Allzeithochs von 46 Millionen Erwerbstätigen sinkt die Arbeitszeit pro Kopf, was in verschiedenen Bereichen zu spürbaren Engpässen führt. Der Artikel betont die Notwendigkeit, ältere Arbeitnehmer durch finanzielle Anreize zu motivieren, länger im Berufsleben zu bleiben. Ein Vorschlag von Wirtschaftsminister Robert Habeck, der jedoch von der SPD abgelehnt wurde, sieht vor, die Sozialbeiträge der Arbeitgeber an die Rentner als Lohn auszuzahlen, was ein Gehaltsplus von über 9000 Euro im Jahr bedeuten könnte. Die CDU schlägt eine "Aktivrente" vor, die es erlaubt, bis zu 24.000 Euro jährlich steuerfrei zu verdienen. Solche Maßnahmen sollen dazu beitragen, den Erfahrungsschatz der Babyboomer länger zu nutzen und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Die gegenwärtige Praxis des frühen Ruhestands, besonders durch die "Rente mit 63", wird kritisch betrachtet. Es wird argumentiert, dass die Gesellschaft das Potenzial älterer Arbeitnehmer noch nicht voll ausschöpft und dass durch geeignete Anreize ein Kulturwandel hin zu einem späteren Berufsausstieg erreicht werden könnte, ähnlich wie in skandinavischen Ländern, den USA oder Japan. (Dorotea Siems, Welt)

Ich habe das Thema bei der Rente schon öfter angesprochen: ich bin absolut für ein flexibles Eintrittsalter, aber halt flexibel im Sinne von "ich kann wenn ich will länger arbeiten" - einfach, weil eine feste Regelaltersgrenze Unsinn ist. Manche Berufe erlauben eine Weiterarbeiten einfach nicht, andere tun es problemlos. Manche können gesundheitlich nicht mehr, andere problemlos. Ich habe keine Ahnung, wie tragfähig der "Erfahrungsschatz der Babyboomer" tatsächlich ist; die Praxis der Unternehmen, Leute ab 50 nicht mehr für einstellungswürdig zu erachten, spricht irgendwie dagegen, dass der überragend groß ist (und by the way auch gegen eine höhere Regelaltersgrenze). Aber vielleicht täusche ich mich da. Gibt es da so was wie verlässliche Daten aus der Industrie? Als letzter Gedanke: was ich nicht mehr hören kann, nicht nur beim Thema Rente, ist dieses "lasst es uns machen wie Land X, die sind viel besser". Erstens ist das Gras auf der anderen Seite immer grüner und zweitens sind die Umstände fast nie vergleichbar.

5) Diesem Mann sollte man nicht hinterhertrauern

Mitch McConnell, der seit 1985 im US-Senat sitzt und seit 2007 die republikanische Fraktion anführt, hat angekündigt, sich im November von seiner Führungsposition zurückzuziehen. Dieser Schritt reflektiert den politischen Wandel innerhalb der Republikanischen Partei, die zunehmend isolationistische Tendenzen aufweist und sich von McConnells außenpolitischer Linie entfernt hat, insbesondere in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine. McConnell, der für seine reaktionäre und opportunistische Politik bekannt ist, hat maßgeblich den Rechtsruck am Obersten Gerichtshof der USA vorangetrieben. Durch die Verweigerung einer Anhörung für Barack Obamas Kandidaten Merrick Garland und die Durchsetzung von drei extrem konservativen Richtern unter Donald Trump hat McConnell die juristische Landschaft Amerikas langfristig geprägt. Trotz privater Kritik an Trump unterstützte McConnell dessen Agenda und lehnte es ab, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 anzuerkennen. Sein Abtritt als Fraktionsführer deutet auf eine zunehmende Dominanz des Trumpismus in der Republikanischen Partei hin, was die politische Ausrichtung der Partei auch im Hinblick auf die kommenden Präsidentschaftswahlen beeinflussen könnte. McConnell selbst hatte einst angenommen, die Partei würde Trump verändern, doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. (Jörg Wilamasema, Welt)

Mitch McConnell ist für mich eine der wenigen Personen im Politikbetrieb, die ich mit dem Attribut "böse" belegen würde. Er ist ein böser Mensch, und ich hoffe, er wird einmal in der Hölle schmoren. Kaum jemand hat so viel für die Zerstörung der Demokratie getan und so viel Leid verursacht wie er, und was mich dazu bringt ihm anders als Leuten wie Trump oder McCarthy und Konsorten dieses Attribut zu geben ist, dass er nicht aus Impulsen, ideologischer Veranlagung oder schlicht mangelndem Denkvermögen oder Kompetenz handelt, sondern es besser weiß, hochgradig fähig ist und sich bewusst zu diesen Handlungen entschieden hat. Dem bleibt Kevin Drums berechtigte Sorge, dass Schlimmeres nachfolgen könnte, unbenommen. Wer sich mehr für McConnells Wirken interessiert, sei dieser Artikel von Jonathan Chait, in New Republic oder dieser (Mitch McConnell’s real legacy is anarchy) empfohlen, die aus den letzten Tagen sind. Ansonsten findet man hier im Archiv oder mit einer kurzen Googlesuche weitere Hinweise.

Resterampe

a) Im Fall des Landrats Herrgott lernen gerade ein paar Leute Demokratie, fürchte ich.

b) Faszinierend: es gibt immer noch untergetauchte RAF-Terrorist*innen. Ob die wohl irgendwann mal dasaßen und über ihre Lebensentscheidungen reflektiert haben? Wie kann man sein Leben so wegwerfen?

c) Enshittification des Internets, mal wieder.

d) Wen dieser ZEITMagazin-Artikel zu Palästinenser*innen interessiert, der so viel Wellen geschlagen hat: hier ohne Paywall.

e) Super Artikel zum Thema Grüne und AfD.

f) Alabama is loco. Was für ein failed state. Kein Wunder stehen die in allen Metriken so katastrophal da.

g) White rural rage isn’t about economics. Siehe dazu auch hier.

h) Auch so Schlagzeilen, die völlig irreal klingen: Habeck wirbt für Carbon Capture, und die SPD sagt, nein, wir müssen die Umwelt schützen.

i) Diesem Artikel zum Schutz des BVerfG stimme ich voll zu.

j) Er spricht von Europa, denkt aber nur an sich und Frankreich. Siehe auch: Wenn zwei sich streiten ...

k) What could Biden do to stop the fighting in Gaza? Exakt.

l) Zur Bezahlkarte.

m) An der Wirtschaftsflaute ist nicht nur die Ampel schuld.

n) Kann man Jan Fleischhauer nur Recht geben hier.

o) Bei der Gleichberechtigung ist laut diesem Artikel das Gras in Island grüner.

p) Republicans in Arizona, völlig crazy.

q) Irrationaler Grünen-Hass. Siehe auch hier.

r) Warum sind viele Autorinnen vergessen? – "Männer verstanden die Texte nicht". Nicht von der reißerischen Übersicht abschrecken lassen.

s) Wir sind schon viel zu abgestumpft gegenüber solchen Nachrichten.

t) Als Nachtrag zur Covid-Diskussion.

u) Das kann ich leiden wie Fußpilz.

v) Gute Gedanken zur Nostalgie-Welle.

w) Guter Thread zur Digitalisierung von Schulen.

x) Guter Beitrag zum Thema Gewalt gegen Grüne. Diese Leute sind völlig abgedreht. Siehe auch hier.


Fertiggestellt am 02.03.2024

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.