Montag, 22. Januar 2018

Wer hat nun gewonnen?

Der Shutdown ist vorbei. Die US-Regierung wird weiter finanziert, zumindest die nächsten drei Wochen. Viel Lärm um nichts also? Wer hat denn nun gewonnen? Nach rund 60 Stunden endete heute der Shutdown, als fast 80 Senatoren für eine Aufhebung des filibuster stimmten. Bis zum 8. Febuar ist die Regierung nun wieder finanziert. Im Gegenzug wurde CHIP, ein Programm zur Gesundheitsversicherung für neun Millionen arme amerikanische Kinder, für die nächsten sechs Jahre finanziert und Mitch McConnell versprach hoch und heilig, eine Abstimmung über DACA zuzulassen (die die Republicans natürlich gewinnen oder schlimmestenfalls durch Trump vetoen können). Das Netz ist voll von widersprüchlichen Einschätzungen. Progressive Aktivisten sind entsetzt über den Verrat ihrer Partei, wie es progressive Aktivisten immer sind, Parteigänger der Democrats und Republicans erklären den jeweiligen Sieg ihrer Partei, und auch die Meinungen der Experten sind gespalten. Ich will kurz beide Narrative erläutern, ehe ich meine eigene Einschätzung darlege.

Was für einen Erfolg der Democrats spricht
Beobachter, die von einem leichten Vorteil der Democrats ausgehen (niemand außer direkten Parteigängern erklärt das zu einem gewaltigen Sieg) streichen vor allem heraus, dass die Partei mit CHIP ein Thema vom Tisch nehmen konnte, das die Republicans später als Waffe eingesetzt haben könnten. Sie haben zudem praktisch keinen Grund preisgegeben, weil in drei Wochen erneut über einen Haushalt abgestimmt werden muss - wo die Democrats dasselbe Spiel wiederholen können und einen sauberen Kampf nur um DACA führen können.

Was für einen Erfolg der Republicans spricht
Beobachter, die von einem Vorteil für die Republicans ausgehen, sehen vor allem die offensichtliche Niederlage der Democrats bei DACA. Der Deal den sie mit McConnell geschlossen haben enthält keinerlei Zugeständnisse außer dem Versprechen auf eine Abstimmung; ein solches Versprechen hat er aber bereits einmal abgegeben und gebrochen. Generell ist McConnells Wort keinen müden Kreuzer wert. Auf der anderen Seite stehen die Democrats als schwach da, haben ihre Basis verraten und erlauben es den Republicans, sie als Beschützer undokumentierter Einwanderer darzustellen, weil der nächste Shut-Down-Fight nur noch zum Thema DACA sein wird.

Meine Meinung
Ich tue mich schwer damit, das Ganze ordentlich einzuschätzen. Zum einen kenne ich mich zwar gut in der US-Politik aus, aber so gut, dass ich die parlamentarischen Winkelzüge des US-Senats mit seinem arkanen Regelwerk durchschauen könnte auch wieder nicht. Und was wir hier sehen ist klassische politics, wie der Wähler sie hasst: ein Schaulaufen und Positionieren der Parteien, die das Wohl und Wehe der Bürger für winzige Vorteile aufs Spiel setzen. Ich sehe daher die Gesundheit der Demokratie insgesamt als einen kleinen Verlierer des Shutdowns, weil er in das populäre zynische Narrativ läuft, dass "die da oben" eh nur alle lügen und auf den eigenen Vorteil aus sind. Dieser negative Effekt für das System insgesamt ist natürlich bei jeder parteilichen Auseinandersetzung dabei, und seine Delegitimierung durch den Wähler gehört zu den Grundparadoxien der Demokratie. Trotzdem ist es kein gutes Zeichen, dass die Demokratieverächter aller Orten sich wieder einmal bestätigt sehen können.

Auf der anderen Seite ist der Shutdown absurderweise ziemlich bedeutungslos, wenn man das Große Ganze(tm) betrachtet, was für jemanden, der gerade 26.000 Zeichen in einem Riesenartikel darüber geschrieben hat, vielleicht eine erstaunliche Erkenntnis ist. Aber ich sagte in meinem Artikel bereits dass der Shutdown für mich eher als Symptom denn als Ereignis selbst relevant ist und habe in den Kommentaren bezweifelt, dass er auf die kommenden Wahlen einen signifikanten Effekt haben wird. Dasselbe galt auch für die letzten beiden Shutdowns. Obwohl sowohl 1995 als auch 2013 die Republicans den Shutdown inszenierten und die Democrats, genauso wie jetzt, den public relations war überragend gewannen, spielte dies bei den jeweils folgenden Wahlen keine Rolle. Shutdowns sind aufgeregte, spannende Ereignisse nur für political junkies wie mich, den Durchschnittswähler interessieren sie kaum, so er überhaupt von ihnen Wind bekommt (dieser Shutdown spielte sich fast ausschließlich am Wochenende ab; wer keine Nachrichten sah wird ihn nicht gespürt haben).

Nach Voranstellung dieses Caveats gleich die Qualifizierung: natürlich steigt die Gefahr, dass die Wähler den Shutdown spüren und nach einem Verantwortlichen suchen, je länger die Chose dauert. Auf den Parteien lastet daher ein relativ großer Druck, das Ganze zu beenden, und das Argus-Auge der politischen Presse, die ohnehin jede Auseinandersetzung (wie wir hier auch) als Sieg-oder-Niederlage-Narrativ verkaufen will (muss), schläft ja auch niemals. Das erklärt, warum die Beteiligten das Ganze trotzdem als eine Situation mit hohem Einsatz und hohem Druck sehen. Was also kam nun heraus?

1) Zuerst einmal konnten die Democrats erreichen, dass CHIP - das die Republicans genauso wie DACA als Unterpfand in den Verhandlungen hielten - aufgeben mussten. Egal, wie man den Erfolg für die Parteipolitik bewertet (dazu gleich mehr), dass neun Millionen Kinder weiterhin eine Krankenversicherung haben ist ein klarer Sieg der Guten, und die Finanzierung steht zudem für sechs Jahre. Im Gegenzug bekamen die Republicans...drei Wochen ohne Shutdown.

Nun weisen viele Kritiker des Deals nicht zu Unrecht darauf hin, dass die Democrats mit dem Ziel in die Verhandlungen gegangen waren, DACA zu retten - und davon ist nichts zu sehen. Besonders die progressiven Aktivisten fühlen sich verraten. Zudem sind die Republicans ja auch ganz froh darüber, dass das CHIP-Thema ausgestanden ist. Man hat Geiseln schließlich, um sie gegen etwas zu tauschen. Und da das Ziel DACA nicht erreicht wurde, können die Republicans nun den Sieg erklären und sich über die Totalkapitulation der Democrats lustig machen. Beide Seiten sind zudem davon überzeugt, dass das Lösen der CHIP-Situation ihnen hilft, weil es den nächsten Streit auf DACA konzentriert. Und damit sind wir bei

2) DACA. Hier wird die Situation sehr unübersichtlich. Denn beide Seiten sind der Überzeugung, dass der aktuelle Deal ihnen helfen wird. Beide können aber nicht recht haben. Der aktuelle Stand ist, dass McConnell eine Abstimmung im Senat zulassen wird. Was auch immer das Ergebnis davon sein wird (wahrscheinlich eine Abstimmung), der Ball würde dann ins Repräsentantenhaus und von dort ins Weiße Haus gespielt werden. Auf diesem Wege wird keine Reform zustandekommen. Zudem erwarten viele Beobachter, dass McConnell sein Wort brechen und diese Abstimmung nicht ansetzen wird, was wiederum als Sieg mal für die eine, mal für die andere Seite gewertet wird.

Dieses Netzwerk ist schwierig zu entwirren und hängt effektiv davon ab, ob man davon ausgeht, dass ein Kampf um die Rechte der Dreamers für die Democrats ein Gewinnerthema ist. Und ich muss offen gestehen, ich habe keine Ahnung, ob das der Fall ist. Fakt ist, dass grundsätzlich beide Seiten an einem Kompromiss interessiert sind und die Frage auf der policy-Ebene ist, was die Republicans aus einem Deal herausholen könnten. In der letzten Zeit fiel öfter die Idee, dass die Democrats Trumps dämliche Mauer finanzieren und eine Verschärfung der Einwanderungsregeln mittragen könnten, wenn dafür DACA gesetzlichen Status erhält. Diese Frage besitzt eine gewisse Dringlichkeit, schon alleine, weil die Abschiebebehörde ICE sich unter Trump rapide zu einer gewalttätigen Schläger-Behörde gewandelt hat und mittlerweile gezielt DACA-Aktivisten interniert, misshandelt und abschiebt.

Doch es geht natürlich nicht nur um policy, sonst wäre der Kompromiss der Gang of Eight 2012 ja bereits erfolgreich gewesen. Da die Republicans in den letzten Jahren eine hier im Blog erschöpfend analysierte Radikalisierung durchmachten, sind sie nun mit einer Basis "gesegnet", die jeden Kompromiss auf diesem Gebiet als Verrat betrachtet (ganz ähnlich den aktuell Zeter und Mordio schreienden Basis-Democrats) und dazu die notwendige Finanzierung und Wirkmacht besitzt, um republikanische Amtsträger in primaries zu gefährden. Daran scheiterte ja bereits die Gang of Eight, und die Republicans sind seitdem nicht eben rationaler geworden, während die Basis der Democrats mit deutlich mehr Nachdruck als bisher liberalere Einwanderungsgesetze fordert. Der Handlungsdruck ist da, aber die Abgeordneten haben von unten einen beeindruckenden Gegendruck entwickelt, der jede Reform erschwert.

Erschwerend kommt bei all dem dazu, dass das Weiße Haus von einer so erratischen Figur wie Trump beherrscht wird. Selbst wenn Democrats und Republicans einen großen Kompromiss zum Thema Immigration schließen würden wäre unklar, ob Trump das Ding nicht am Ende torpediert, weil der Koch am Morgen seinen Lieblings-Cheeseburger versaut hat. Das erhöht das Risiko für Republicans noch einmal: erst stellen sie sich dem Zorn der Basis, und nachher war alles umsonst, und Trump inszeniert sich auf ihre Kosten als Verteidiger des Wahren Amerika(tm). Das ist nicht gerade ein geringes Risiko, und zieht noch nicht einmal in Betracht, dass ein republikanischer Abgeordneter sich auch nicht gerade auf Paul Ryan oder Mitch McConnell verlassen sollte, die beide im letzten Jahr mehrfach sang- und klanglos Projekte haben fallen und ihre Kollegen im Regen stehen lassen.

Wer hat also den Shutdown gewonnen? Schwer zu sagen im Moment. Ich tendiere dazu, den Democrats einen leichten Vorteil zu geben, allein weil sie mit CHIP etwas Substanzielles erreicht haben und weil ich den grenzenlosen Optimismus habe, dass die Wähler in der Wahl zwischen noch mehr rassistischem Hass und Xenophobie oder Integration und Gemeinschaft 2018 nach letzterer ausschlagen werden. Aber gewiss ist davon gar nichts.  Es ist eine dieser Situationen, in denen man springen muss um zu sehen, was geschieht. Die Argumente beider Seiten, warum die Konzentration auf DACA als Hauptthema der Democrats im Frühjahr 2018 ein Gewinn oder Verlust sein könnte, sind nicht von der Hand zu weisen. Es gibt Indizien, die in beide Richtungen weisen. Letztlich ist es für beide Parteien ein Sprung ins Dunkle.

Samstag, 20. Januar 2018

Der Shutdown der US-Regierung 2018, erklärt (Teil 2)

Im ersten Teil dieses Artikels haben wir die institutionellen Grundbedingungen für den Shutdown untersucht, die in der Strategie der Republicans begründet liegen, demokratische Normen außer Kraft zu setzen und über das Instrument des budget reconciliation process zwei riesige Gesetzesvorhaben umzusetzen: die Abschaffung von Obamacare und eine groß angelegte Steuersenkung für Reiche. Das erste dieser Vorhaben scheiterte im Frühjahr 2017. Die Republicans machten sich danach daran, ihren Steuerraubzug durchzuführen.

Auch bei ihrem zweiten Versuch planten die Republicans, den budget reconciliation process zu nutzen und damit ohne jede Stimme der Democrats auszukommen. Diese einseitige Kompromisslosigkeit erforderte erneut den budget reconciliation process - und ein aufkommensneutrales Gesetz. Das allerdings war ein Problem. Da die Republicans die Steuern einseitig senken wollten, war eine aufkommensneutrale Reform - die das Defizit für maximal zehn Jahre steigern darf - praktisch unmöglich. Da die Republicans dieses Problem unter George W. Bush schon einmal auf diese Art umgangen hatten, so dass die Steuersenkungen für Millionäre nach zehn Jahren automatisch ausliefen (und unter Obama auch nicht verlängert wurden), wollte Paul Ryan - Kreuzritter für möglichst niedrige Steuern und möglichst wenig Staatsaktivität - erreichen, dass die Kürzungen dieses Mal permanent sind.

Dazu jedoch war es eben nötig, dass man die Billionen an geplanten Senkungen für Reiche und Unternehmen des eigenen Stammes irgendwie zumindest nominal gegenfinanziert - was gigantische Haushaltskürzungen erfordert. Wie bereits beim Obamacare-Repeal zeigte sich, dass die Republicans keinen fertigen Plan in der Schublade hatten. So begannen sie im Sommer 2017 mit der heißen Nadel an einem zu stricken. Die internen Widersprüche in der Partei, die beim Obamacare-Debakel zutage getreten waren, zeigten sich auch dieses Mal. Sie waren allerdings bei weitem nicht so stark, denn dieses Mal ging es um die conditia sine qua non der gesamten republikanischen Existenz seit 1994: Steuersenkungen.

Da diese den ideologischen Kernbestand der Partei ausmachten, war kaum zu erwarten, dass die Unternehmung ernsthafte parteiinterne Opposition bekommen würde. Tatsächlich erwies sich der Widerstand einzelner Abgeordneter wie Susan Collins oder Marco Rubio auch schnell als reines Schaulaufen, das nach einem Nachrichtenzyklus ausgestanden war. Die interne Politik der Republicans war daher nicht das größte Hindernis. Das CBO dagegen umso mehr.

Um dieses Problem zu umgehen, verfielen die Republicans auf die brillante Idee, der Behörde den jeweiligen Gesetzesentwurf einfach nicht rechtzeitig zur Verfügung zu stellen, um eine Analyse erstellen zu können. Die republikanischen Abgeordneten würden daher über eine wahre Black Box abstimmen: es war völlig unklar, was in dem Gesetzwerk konkret stehen würde. Die CBO wuchs über sich selbst hinaus und veröffentlichte in Rekordzeit Analysen (die tapferen Analysten schoben wohl mehrere Nachtschichten), was die Republicans durch das Ändern der Entwürfe in letzter Sekunde konterten.

Der finale Entwurf des Gesetzes bedurfte dann eines finalen Tricks, um formal den gesetzlichen Ansprüchen zu genügen: die Steuersenkungen für die Mittelschicht würden in zehn Jahren auslaufen, während die für Millionäre und von den Republicans gepamperten Unternehmen permanent waren. Zudem hoben die Republicans das Kernstück Obamacares auf: das individual mandate, das Krankenversicherung für jeden verpflichtend macht. Rechnerisch entstehen durch die wegfallenden Subventionszahlungen an arme Krankenversicherungsnehmer daher Ausgabenkürzungen, so dass das Gesetz mit Hängen und Würgen akzeptabel war. Auf dem Pfad der Zerstörung blieben nur einige weitere demokratische Normen zurück, was die Republicans aber bekanntlich wenig stört.

Es lohnt sich an dieser Stelle kurz zu verweilen, denn der Steuerraubzug ist auf den ersten Blick ein merkwürdiges Gesetz. Von Beginn der Verhandlungen an war es selbst bei Anhängern der GOP ungeheuer unbeliebt: In der gesamten Gesellschaft erreichte das Gesetz gerade einmal 18% Zustimmung, was es zu einem der unpopulärsten Gesetze aller Zeiten machte. Selbst das ungeliebte Obamacare-Gesetzwerk rutschte nie unter 40% Zustimmung und liegt aktuell stabil bei über 50%. Angesichts der dieses Jahr anstehenden Midterm-Elections ist das Gesetz daher ein massiver Mühlstein um den Hals des republikanischen Abgeordneten.

Die Senatoren und Repräsentaten waren auch erstaunlich offen darüber, weshalb sie das Gesetz dennoch durchpeitschten: ihre Geldgeber verlangten es. Aber das ist nicht der einzige Grund. Wie erwähnt waren Steuersenkungen diesen Ausmaßes die raison d'être der Partei. Es war ihr ultimatives Ziel. Darin sind sie vergleichbar mit den Democrats 2009. Es war auch damals offensichtlich, dass Obamacare für die Midterms eine gewaltige Belastung darstellen würde. Verabschiedet wurde es trotzdem, weil die Democrats seit Jahrzehnten die Krankenversicherung für alle einführen wollten. Es war es ihnen wert. Die Reichen reicher zu machen war es den Republicans wert.

Das ist kein Normenbruch, das ist in einer Demokratie normal. Dass nun 65% der republikanischen Wähler das Gesetz ablehnen, das ihre Repräsentanten verabschieden, ist Pech. Die Partei hat kein Geheimnis aus ihren Plänen gemacht, genausowenig wie die Democrats das 2008 taten. Wahlen haben Konsequenzen. Jeder hatte wissen können, was die Republicans tun würden, und wenn man sie aus Unwissenheit trotzdem wählt oder es in Kauf nimmt, kann man sich darüber später nicht beklagen. Dasselbe Prinzip gilt für Politik in jedem demokratischen Land. Das ist die Verantwortung der Wähler, und wer ihr nicht nachkommt, erfüllt seine eigene Pflicht im demokratischen System nicht. Aber darüber hatte ich bereits geschrieben.

Mit der erfolgreichen Verabschiedung des Steuerraubzugs war der zweite Schuss des budget reconciliation process verbraucht. Die nächsten Gesetzeswerke für den Beginn 2018 würden daher den Senat mit einer Mehrheit von 60 Stimmen passieren müssen, wöllte man den filibuster vermeiden. Nötig ist also ein Kompromiss mit wenigstens einigen Democrats (unter denen es, wie sich am eingangs dargestelten Abstimmungsergebnis zeigt, ja Optionen gibt). Und das Themenfeld eines solchen Kompromisses zeigte sich auch überdeutlich auf. Nach Steuersenkungen und Obamacare-Zerstörung war nur ein großes Feld aus dem Wahlkampf 2016 übrig (sieht man einmal von den rechten identity politics ab, aber die sind ja eher ein permanentes work in progress): die Immigrationspolitik.

Wir erinnern uns: Trump trat mit dem Versprechen an, eine Mauer zu bauen. Nur, Mauern kosten Geld, besonders wenn sie eine Grenze von mehreren tausend Kilometer Länge, teils durch Gebirge hindurch, absichern sollen. Dieses Geld stünde nicht für Steuersenkungen zur Verfügung, und das ist, wie oben dargestellt, für die Partei nie ein ernsthafter Kompromiss gewesen. Jede noch so lächerlich kleine Mauerbauerei muss daher zwangsläufig mit demokratischen Stimmen geschehen, weil der budget reconciliation process für das eigentliche republikanische Herzprojekt reserviert war.

Die Democrats waren dem auch gar nicht so abgeneigt, wie man vielleicht vermuten würde. Von Beginn an boten sie den Republicans an, wenigstens ein Teilstück der Mauer zu finanzieren, wenn im Gegenzug endlich die seit 2013 verschleppte Reform des DACA-Prozesses (Deferred Actions for Childhood Arrivals) angegangen würde.

Worum geht es hierbei? Bekanntlich sind mehrere Millionen undokumentierter Einwanderer in den USA. Für deren Erfassung und Abschiebung ist die US-Behörde ICE (Immigrations and Customs Enforcement) zuständig, die unter Trump mehr Personal und, vor allem, eine Absicherung gegenüber den Konsequenzen von Gesetzesbrüchen und Menschenrechtsverletzungen durch ihre Agenten erhalten hat. Das Maximum an Abschiebungen, das die Behörde pro Jahr vollziehen kann, liegt bei rund 100.000. Das hat zur Konsequenz, dass viele undokumentierte Einwanderer teilweise jahrzehntelang in den USA leben, bevor sie plötzlich in die Abschiebemaschinerie geraten, ein Problem, das uns in Deutschland durchaus bekannt vorkommen dürfte.

Obama ging einen Teilaspekt dieses Problems an, indem er einen Evergreen liberaler Einwanderungspolitik umsetzte. Die Idee ist, junge Menschen, die kein anderes Leben als das der USA kennen und vollständig integriert sind, aber undokumentiert sind, einen legalen Status zu geben und einen Pfad zur Staatsbürgerschaft zu öffnen. Es ging dabei konkret um Kinder von Einwanderern, die in jungem Alter nach Amerika kamen - also nicht selbst an ihrem Status Schuld sind - und eine Reihe von Kriterien erfüllen.

Konkret mussten sie vor 2007 und mit maximal 16 Jahren ins Land gekommen sein, durften keine Vorstrafen besitzen und mussten entweder die Highschool oder eine höhere Schulform besuchen oder im Militär dienen oder gedient haben. In diesem Fall konnten sie unter den Regeln von DACA eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, die zwei Jahre gültig war und nach Ablauf erneuert werden konnte. In der Zwischenzeit erlaubte dies den Applikanten, den so genannten "Dreamern", legal eine Arbeitsstelle aufzunehmen, den Führerschein zu machen und Ähnliches. ICE währenddessen konnte seine Kapazitäten auf Fälle krimineller undokumentierter Einwanderer konzentrieren.

Es war eine typische Obama-Reform: gut durchdacht, begrenzt auf einen klaren Bereich, mit Verbesserungen für die Betroffenen und praktisch keinen Kosten für den Rest. Selbstverständlich opponierten die Republicans mit voller Kraft dagegen, so dass DACA von Obama 2012 als Executive Action verabschiedet wurde. Es handelte sich damit um eine Verwaltungsangelegenheit, kein Gesetz - und konnte vom nächsten Präsidenten einfach wieder aufgehoben werden.

Als die Republicans 2012 die Wahl verloren und Obama seine zweite Amtszeit gewann, schrieben Strategen der GOP den berühmten Obduktionsbericht, indem sie feststellten, dass die Republicans zu einer Partei der Minderheit verärgerter Weißer geworden war und dringend ihre fremdenfeindliche Politik ändern müsse, wenn sie nicht eine permanente Minderheitenposition einnehmen wolle. Konsequenterweise versuchten einige Senatoren, etwa John McCain und Marco Rubio, zusammen mit ihren demokratischen Kollegen ("Gang of Eight") eine überparteiliche Reform des Einwanderungsrechts auf die Beine zu stellen und das Thema ein für allemal zu regeln, unter anderem, indem DACA in geltendes Recht überführt würde.

Bekanntlich kam es anders. Die Extremisten in der Partei, die 2012 wieder einmal gestärkt worden waren, brachten das Projekt zu Fall. Die Partei konzentrierte sich auf die Mobilisierung der weißen Wut-Wähler und der Entrechtung der Wähler der Democrats (durch Entzug ihres Wahlrechts oder gerrymandering). Die arkanen Regelungen der verschiedenen US-Wahlrechtssysteme brachten ihnen denn auch die Präsidentschaft; eine Minderheitenpartei sind sie geblieben. Und die Dreamers hatten immer noch keine Rechtssicherheit.

Nun gäbe es an und für sich auch wenig Grund, etwas an dem bestehenden System zu ändern. ICE ist ohnehin ausgelastet, ihre Entscheidungen sind erratisch und treffen keinesfalls nur die "very bad people", die Trump anzugehen gedachte. Den rechtlichen Status der Dreamer zu verändern würde daher nur bedeuten, sie in eine Sphäre der Unsicherheit zu werfen - eine Abschiebung ist praktisch überhaupt nicht machbar, außer in den völlig willkürlichen Fällen, in denen ein Dreamer aus irgendwelchen Gründen ins weit gespannte Netz von ICE fällt. Ihnen den DACA-Schutz zu nehmen wäre daher ebenso grausam wie sinnlos.

Kein Wunder also dass Trump und die Republicans sich zu der Idee hingezogen fühlen. Letztere sehen in den Dreamern eine Geisel für die Verhandlungen mit den Democrats: "Gebt uns, was wir wollen, oder wir zerstören die Existenz von 800.000 Menschen!" Es ist ein zynisch-brutales Machtspiel, aber nichts, was man von der Partei nicht gewohnt wäre. Trump dagegen tut es vermutlich aus reiner Lust daran, Menschen weh zu tun, und aus Rache. Unfähig, Beziehungen, Geschäfte und Politik irgendwie anders als in persönlichen Begriffen zu sehen, nutzt er den DACA-Prozess, um sich an der demokratischen Senatorin Feingold zu rächen, die in erstmals (auf Betreiben Trumps!) im Fernsehen übertragenenen Verhandlungen durch ihre bloße, informierte und professionelle Existenz offenkundig machte, was für ein abgeschmackter Kretin im Weißen Haus sitzt. Dabei drohte der Präsident seiner eigenen Partei mit einem Veto!

Die Republicans hatten sich in die Falle manvöriert. Die Democrats boten einen sauberen Haushalt an, wenn DACA vor Trumps Zugriff gesichert würde. Ein solcher Deal würde mit allen demokratischen und einigen wenigen republikanischen Stimmen passieren und damit die Haushaltsverhandlungen der Obama-Ära wieder aufleben lassen, in denen nacheinander Boehner und Ryan unfähig waren, trotz einer Mehrheit im Repräsentantenhaus eine Mehrheit für einen (irgendeinen) Haushaltsentwurf ohne demokratische Stimmen auf die Beine zu stellen. Doch wo Obama die entstehenden Kompromisse natürlich unterzeichnete, drohte Trump mit einem Veto, als ob er der Regierung, die er damit von ihren Finanzierungsquellen abschnitt, nicht angehören würde. Es ist nicht völlig abwegig anzunehmen, dass ihm die Zusammenhänge nicht vollständig klar sind.

In diesem Spannungsfeld lehnte der Mehrheitsführer der Republicans im Senat, Mitch McConnell, einen Gesetzesvorschlag, der sich mit DACA auseinandersetzte, ab. Erwartungsgemäß scheiterte dieser Entwurf mit 51:49 Stimmen gestern im Senat. Die Regierung hat damit kein Geld mehr und muss sämtliche "nicht-essenziellen" Mitarbeiter auf unbezahlten Urlaub schicken und sämtliche "nicht-essenziellen" Tätigkeiten einstellen. Jeder, der irgendwie von funktionierendem Regierungshandeln abhängig ist - sei es, weil er einen Antrag stellen muss, kein Gehalt mehr bezieht oder auf eine Entscheidung wartet - wird die Folgen unmittelbar zu spüren bekommen.

Nach dem letzten Shutdown 2013 knickten die Republicans ein, weil ihnen die Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit die Schuld an dem Zustand zusprach und nichts zu gewinnen war. Die ersten Umfragen ergeben eine 50:20-Mehrheit in der Bevölkerung, die der GOP die Schuld an diesem Shutdown gibt. Angesichts der Tatsache, dass die Republicans alle Arme der Regierung kontrollieren und ihr gesamtes brand mit dem Shutdown assoziiert ist, kann dies nicht überraschen.

Die Democrats halten weiter ihre Hand zu einem DACA-Kompromiss ausgestreckt. Das Angebot ist natürlich eine Giftpille für die Republicans. Akzeptieren sie einen Kompromiss, machen sie sich in den Augen ihrer extremistischen Basis - und ihres extremistischen Präsidenten - zu Verrätern, was angesichts der anstehenden primaries für die Midterms keine angenehme Aussicht ist. Auf der anderen Seite ist das Funktionieren der Regierung aber allein ihre Verantwortung. In diese Sackgasse haben sie sich in nunmehr bald zehn Jahren verantwortungslosen Extremismus' selbst manövriert.

Wie ich schon öfter formuliert habe, ist die Partei grundsätzlich regierungsunfähig. Der Shutdown ist dafür nur ein weiterer Beleg; noch nie gab es einen solchen, wenn die gleiche Partei Weißes Haus und Kongress kontrolliert. Hätten die Republicans nicht letztes Jahr die demokratischen Prozesse umgangen, könnten sie nun den budget reconciliation process für das nutzen, für was er eigentlich da ist, und die Handlungsfähigkeit der Regierung bewahren. Da sie sich entschieden, ihn als Waffe zu nutzen, um ein Minderheitsprogramm durch das Parlament zu prügeln, steht ihnen diese Option nicht mehr offen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Spuk im November endet.

Der Shutdown der US-Regierung 2018, erklärt (Teil 1)

Vor fünf Jahren schrieb ich einen Erklärartikel zum Shutdown, der unter dem damals noch amtierenden Sprecher des Repräsentantenhaus, John Boehner. Die Vorstellung, dass ein weiterer solcher Artikel notwendig werden würde, weil die Republicans die Regierung ein weiteres Mal herunterfahren würden, während sie sämtliche Zweige derselben Regierung kontrolliere, war noch 2016 reichlich absurd erschienen. Aber sie haben es geschaft: obwohl sie Supreme Court, Weißes Haus, Repräsentantenhaus und Senat kontrollieren ist es ihnen nicht gelungen, auch nur eine continuing resolution zu verabschieden, die die Geldmittel der Regierung bis zum 8. Februar (!) garantiert hätte. Natürlich geben Trump und die Republicans den Democrats die Schuld, während die auf die Mehrheitsverhältnisse zeigen und jede Schuld von sich weisen. Was also ist das los?

Die Abstimmung selbst entschied sich im Senat. Fünf Democrats stimmten mit den Republicans, während vier Republicans gegen ihre eigenen Partei stimmten und John McCain nicht teilnahm, was die Mehrheitsverhältnisse von 51:49 exakt widerspiegelte. Man könnte sich nun fragen, warum 51 Stimmen nicht ausreichen. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Der Grund dafür geht zurück auf den gescheiterten Versuch letztes Jahr, Obamacare abzuschaffen.

Zur Erinnerung: die Republicans hofften, durch einige windige prozedurale Manöver gleich 2017 zwei große Siege einzufahren: die Abschaffung (repeal) von Obamacare und eine nie dagewesene Steuersenkung. Der Obamacare Repeal schlug fehl; öffentlichkeitswirksam beglich John McCain seine Rechnung aus dem Wahlkampf mit Trump und inszenierte sich als Rebell, als er die dritte republikanische Stimme dagegen abgab, 27 Millionen Bürgern die Krankenversicherung zu nehmen. Der als Steuerreform getarnte riesige Beutezug gelang zwar - wir berichteten -, aber beide Manöver hatten ihren Preis.

Der normale Gesetzgebungsprozess erlaubt Senatoren das Mittel des filibuster, also des prinzipiell unbegrenzten Aufhaltens der prozeduralen Abläufe im Senat. Es ist eine der vielen arkanen Regeln der Institution, die jedes Mal die aktuelle Mehrheit auf die Palme bringt und von der Opposition sehr geschätzt wird. Zwischen 2008 und 2016 nutzten die Republicans dieses Mittel ausgiebig, um Obama zu blockieren (inklusive eines Shutdowns), seither hängt der filibuster wie ein Damoklesschwert über den legislativen Ambitionen der Republicans.

Die GOP nutzte diese Waffe zuletzt, um einen Sitz im Supreme Court von den Democrats zu stehlen. Um selbst nicht den gleichen Regeln unterworfen zu sein, schafften sie den filibuster für Supreme-Court-Nominierungen ab und erzwangen den Extremisten Neill Gorsuch in das Gremium. Für Gesetze allerdings blieb das Instrument in Kraft, auch weil es den republikanischen Senatoren mehr Macht gegenüber der eigenen Parteiführung gibt (wie es vorher demokratischen Senatoren gegen deren Parteiführung half; die Anreizmechanismen sind für beide Seiten dieselben).

Im Januar 2017 standen die Republicans daher vor einem Dilemma. Zwar kontrollierten sie alle drei Arme der US-Regierung, aber sie besaßen im Senat keine den filibuster brechende 60-Stimmen-Mehrheit. Große Reformprogramme bedurften daher zwingend der Zustimmung von mindestens acht demokratischen Senatoren (und seit dem Sieg von Doug Jones - wir berichteten - sogar neun). Die Republicans hatten aber, anders als Obama und die Democrats, kein Interesse an Kompromissen. Und damit sind wir bei ihrem Dilemma.

Denn um auf diese Art jegliche normalen demokratischen Normenprozesse auszuhebeln, mussten die Republicans auf ein Mittel zurückgreifen, das dafür überhaupt nicht ausgelegt ist: den budget reconciliation process. Die Idee hinter diesem (erneut reichlich arkanen) Element des US-Senats ist, dass solche Maßnahmen, die rein haushalterischen Zwecken dienen und keine neuen Schulden versursachen (sprich, den aktuellen vom Parlament demokratisch verabschiedeten Haushalt nicht berühren) immun gegen den filibuster sind. Gedacht ist dieses Instrument für kleinere Feinjustierungen im System.

Die Republicans aber erklärten es zu ihrer Waffe und zerstörten damit eine weitere demokratische Norm, wie sie sich generell nicht an Normen gebunden fühlen. Ihr Plan: Dadurch, dass sie Obama im Jahr 2016 überhaupt nicht die Verabschiedung eines Haushalts erlaubt hatten (für den Fall eines Trump-Siegs für eben das hier beschriebene Manöver, oder den Fall eines Hillary-Siegs als Faustpfand), mussten 2017 zwei Haushalte verabschiedet werden. Andernfalls würde, wie bei gescheiterten Haushaltsabstimmungen üblich, der alte einfach fortgeführt, was eine ganze Reihe von negativen Kaskadeneffekten für die Funktionsfähigkeit der Regierung mit sich bringt (und die Republicans nicht stört, die die Funktionsfähigkeit des Staats ohnehin zerstören wollen).

Der Kniff am budget reconciliation process aber ist, dass nur eine solche Abstimmung pro Haushaltsjahr erlaubt ist - ob sie gelingt oder nicht. Der republikanische Plan war daher, den sie aus 2016 mitgeschleppt hatten (und der das Jahr 2017 abgedeckt hätte) für eine Abschaffung der US-Gesundheitsversicherung zu nutzen und den Prozess für 2018 für ihren Steuer-Raubzug. Erneut, es handelt sich dabei um einen Bruch jeglicher Normen, weil Prozesse genutzt werden, die den eigentlich vorgesehenen Prozess umgehen, die aber grundsätzlich legal sind. Und als solche Umgehung ging diese Strategie natürlich mit einem gewissen Risiko einher.

Das Risiko dabei war, dass die Republicans innerhalb einen Geschäftsjahrs (und ein Kongress-Geschäftsjahr ist relativ kurz, nur etwa die Hälfte aller Wochen sind Sitzungswochen, mit einer riesigen Sommerpause) zwei gigantische Gesetzeswerke durch den Kongress peitschen mussten, die praktisch sämtliche Ebenen der Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung berührten.

Genau dieser umfassende Wirkungskreis ist übrigens der Grund, warum der Prozess für so etwas eigentlich nicht vorgesehen ist: der budget reconciliation process schaltet einen Großteil der Anhörungen, Debatten und sonstigen Kontrollmechanismen des normalen Gesetzgebungsprozesses aus; deswegen ist es ja auch solch ein Normenbruch. Die betroffenen Stellen, die das Gesetz umsetzen sollen, die betroffenen Unternehmen und Wirtschaftszweige, die ihre Geschäftsmodelle auf der bestehenden Rechtslage aufbauen, und die Bürger selbst, die von den Gesetzen berührt werden, können sich vorher kein Bild von dem machen, was kommen soll, und daher auch keinen Input geben. Massive Fehler sind in diesem Prozess völlig unvermeidbar, besonders wenn so komplexe Systeme wie das US-Gesundheitssystem angegangen werden, das direkt und indirekt rund 20% des amerikanischen Wirtschaftslebens berührt (eine riesige auf Pump finanzierte Steuersenkung ist da etwas überschaubarer).

Das alles ließe sich durch eine Partei, die halbwegs nach normalen demokratisch-politischen Prinzipien operiert, aber mitigeren. Die Republicans hatten schließlich acht Jahre Zeit, um eine Alternative zum verhassten Obamacare zu entwickeln, die sie nun hätten implementieren können, aber sie hatten - gar nichts. Nicht auch nur eine einzige Idee. Mit einem intern völlig zerstrittenen caucus, der zwar genau wusste, wogegen er war, aber nicht wofür, musste die Partei in rund drei Monaten ein für alle Seiten akzeptables Paket zusammenschnüren, das aufkommensneutral war - eine fast unmögliche Aufgabe.

An dieser Stelle kommt das Congressional Budget Office (CBO) ins Spiel. Diese kleine, an den Kongress angehängte unabhängige Behörde analysiert jeden neuen Gesetzesvorschlag daraufhin, welche Kosten er verursacht. Da der budget reconciliation process aufkommensneutral sein muss, kommt ihr in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zu. Wenig überraschend ist es nicht ganz leicht, aus dem Stand 20% der amerikanischen Wirtschaft so zu reformieren, dass der Staat am Ende gleich viel Ein- und Ausgaben hat (weniger dürfen es wegen der legalen Vorgaben nicht sein, und mehr wegen der ideologischen Zwangsjacke der Republicans gegen Steuererhöhungen auch nicht). Nur, kein Gesetz besagt, dass man eine Bewertung des CBO abwarten muss, bevor man über ein Gesetz abstimmen muss - nur, dass das CBO jedes Gesetz bewerten muss. Wer die Republicans kennt, weiß, was als nächstes geschah.

Die Partei schrieb in einem Hinterzimmer einen Gesetzesentwurf, den vielleicht zwanzig oder dreißig Politiker der eigenen Partei sahen. Dabei umgingen sie auch gleich die paritätisch besetzten Ausschüsse, die dafür eigentlich zuständig wären - ein weiterer Normenbruch und das Ausschalten eines weiteren Kontrollmechanismus' - so dass 95% aller republikanischen Abgeordneten genausoviel über das geplante Gesetz wussten wie die Democrats und die Öffentlichkeit: nichts.

Dummerweise hatten zwei republikanische Senatoren, Susan Collins aus Maine und Lisa Murkowski aus Alaska, ihre Zustimmung zu jedem Plan abgelehnt, der in einem so riesigen Umfang Menschen die Krankenversicherung wegnahm. Die Republicans hatten damit 50:50 Stimmen im Senat (weil die Democrats in für die Partei beeindruckender und immer noch unter-analysierter Einigkeit das Gesetzeswerk ablehnten), ein Patt, den der republikanische Vize-Präsident Mike Pence brechen muss. Es durfte also nichts schiefgehen.

Es ging allerdings etwas schief. John McCain, der bereits vorher skeptisch gegenüber den Plänen gewesen war, nutzte die Gelegenheit, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und inszenierte ein Abstimmungsdrama, in dem er live Trumps erste Großreform zum Scheitern brachte - und sich damit an dem Präsidenten rächte, der ihn im Wahlkampf schwer beleidigt hatte. McCains Ego-Trip und Collins' und Murkowskis Integrität brachten damit das Gesetzeswerk (nach mehreren gescheiterten Anläufen im Repräsentantenhaus, die die Mär von Paul Ryans Kompetenz Lügen straften) zum Scheitern. Die erste Hälfte des Jahres 2017 war vorbei, ohne dass irgendetwas Vorzeigbares verabschiedet wäre. Der erste von zwei Schüssen, die demokratische Kontrolle der Democrats auszuhebeln, war gescheitert

Donnerstag, 4. Januar 2018

Ein Schwarzes Loch wie ein Sieb

Seit fast einem Jahr läuft nun bereits die Untersuchung des special prosecutor Robert Mueller wegen des Verdachts auf russische Einflussnahme auf den US-Wahlkampf. Zahllose spekulative Artikel sind seitdem erschienen, sagen Reaktionen der Republicans und Trumps auf angenommene Ergebnisse voraus. Ich habe hier auf Deliberation Daily bisher praktisch nichts zu dieser Untersuchung geschrieben und habe das auch in Zukunft nicht vor. Der Grund dafür ist recht simpel: es ist für Außenstehende unmöglich, irgendetwas Belastbares zu der Thematik zu finden. Ich lese auch praktisch keine Artikel darüber, denn das gilt nicht nur für mich. Kaum ein Thema ist so voller parteiischer Nebelkerzen wie diese Untersuchung. Sie steht stellvertretend für eine Problematik, vor die die uns in dieser Zeit das Weiße Haus stellt: es ist ein schwarzes Loch, das leakt wie ein Sieb.

Das ist ein Paradoxon. Wie kann eine Operation ein schwarzes Loch sein, aus dem nichts nach außen dringt, und gleichzeitig löchrig wie ein Sieb voll geschwätziger Angestellter? Wenn es Leaks aus dem Weißen Haus Obamas gab, waren diese ziemlich ernst zu nehmen. Sie waren auch selten, deswegen konnte sich die Presse stets voll darauf konzentrieren. Über das innere Arbeiten seiner Regierung war wenig bekannt, weil der Laden im Allgemeinen gut funktionierte, aber wenn das einmal nicht galt, konnte man Einblicke in das Obama-Räderwerk bekommen.

Trumps Regierung dagegen leakt permanent. Hochrangige und niedrigrangige Angestellte stechen Informationen an die Presse durch. Kongressabgeordnete geben praktisch alle Informationen aus der Regierung direkt an Kollegen oder die Presse weiter. Die rekordhohe Fluktuation tut ihr Übriges. Dazu kommen "Insider"-Informationen der stets wachsenden Schar an gefeuerten Beratern und Regierungsprechern, die ihre eigene Post-Trump-Agenda verfolgen.

Diese ungeheure Flut an Informationen muss jeden Beobachter zermürben. Wenn ein Redakteur das Leak von Montag nachrecherchieren und in eine ordentliche Geschichte packen will, sind Freitag bereits drei weitere bekannt geworden, und niemand interessiert sich mehr für das Leak von Montag. Die gleiche Mechanik wurde Hillary Clinton auch im Wahlkampf zum Verhängnis. Nichts bleibt an Trump kleben, weil die pure Menge an Dreck jede Nuance erstickt.

Dazu kommt, dass in einem Weißen Haus, das dermaßen mit korrupten Günstlingen, inkompetenten Sykophanten, Amateuren und ideologischen Fanatikern vollgestopft ist wie das von Trump, praktisch jede Geschichte eine grundsätzliche Glaubwürdigkeit besitzt. Ein Trump-Wahlkampfmanager gibt betrunken in einer Bar zu, mit den Russen kolaboriert zu haben? Warum nicht? Trumps Schwiegersohn hat Hinterkanäle über Reigerungsorganisationen geöffnet, die sämtliche solchen Vorgänge speichern und überpüfen und ging davon aus, das bleibt geheim? Kein Zweifel. Der Chefredakteur eines rechtsextremen Schmierblatts ist bei wichtigen Telefonkonferenzen mit Wladimir Putin dabei? Durchaus möglich. Solchen Blödsinn hätte man nicht einmal von George W. Bush geglaubt, und "Dubbya" hat die Latte von dummen Entscheidungen im Oval Office wahrlich nicht hoch gehängt.

Aus dem Weißen Haus kommen daher unendlich viele Informationen - das ist das Sieb - ohne dass man deswegen mehr Klarheit in die Vorgänge, die hinter seinen Mauern stattfinden, hätte - das ist das Schwarze Loch. Dieses Paradox ist bisher unzureichend verstanden und stellt den Journalismus vor gigantische Probleme.

Denn auf der einen Seite kann es sich niemand leisten, den größten Klickgenerator unserer Zeit zu ignorieren (was auch zu der inflationären Berichterstattung über seine Tweets führt), und auf der anderen Seite sorgt diese nie endende Berichterstattung mit stets neuen Ereignissen dafür, dass alles zu einem monotonen Gleichklang der Albernheiten wird, in dem es unmöglich ist, Wichtiges von Trivialem zu trennen. Denn noch ein Problem stellt sich Journalisten: sie können Trump und seine Bullshit-Welle auch nicht einfach ignorieren, denn immer wieder sind legitim wichtige Dinge darunter (Obamacare-Repeal, Eskalation mit Nordkorea, Steuerkürzungen, nur als Beispiele). Und häufig sieht man erst im Nachhinein, was davon wichtig ist.

Ich habe daher für mich beschlossen, mich so weit wie möglich zu distanzieren. Ich bin auch kein Journalist, deswegen ist es für mich billig, aus diesem Dilemma auszubrechen. Ich folge Trump auf Twitter nicht mehr und versuche so weit wie möglich seine Tweets und Eskapaden zu ignorieren (nicht, dass das immer gelingen würde). Ich habe die Hoffnung, dass dies den Blick für die wichtigen Themen geöffnet hält, aber die Natur des Schwarzen-Loch-Siebs macht es unmöglich, das sagen zu können.

Das Gleiche gilt auch für die Untersuchung Robert Muellers. Mueller ist ein Profi, und aus seinem Team dringt überhaupt nichts nach draußen. Bisher gab es kein einziges Leak. Da ich nicht hauptberuflich hinterher bin, mich voll in die Russland-Verschwörung einzuarbeiten (und das auch nicht vorhabe), ist es mir unmöglich, irgendetwas der Neuigkeiten, die aus den Ermittlungen über Umwege nach draußen dringen, einzuordnen. Ich halte mich daher mit Aussagen dazu so weit irgendmöglich zurück, bis Mueller selbst an die Öffentlichkeit geht.

Das alles nur als Erklärung, falls irgendjemand sich wundert warum zu diesen Themen praktisch nichts im Blog vorkommt.

Sonntag, 31. Dezember 2017

Die Jugend von heute

Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer. - Sokrates zugeschriebenes Zitat, um 420 v. Chr.
Mein letzter Artikel hat starke Reaktionen hervorgerufen. Besonders häufig wart dabei eine: die Jugend von heute lerne nicht mehr richtig, beherrsche Rechtschreibung und Formales nicht mehr, kenne nicht den Wert der Disziplin und so weiter und so fort. Diese Argumentationslinie ist uralt. Wenn mich nicht alles täuscht beklagen sich schon auf den ersten sumerischen Keilschriften Schreiberlinge mittleren Alters über die Jugend von heute; zumindest Klagen über die verlotterte Sexualmoral der Frauen und den verderblichen Einfluss von Einwanderern auf dieselbe sind aus Babylon überliefert. Ich möchte an der Stelle in offizieller Funktion Entwarnung geben: The Kids Are Alright, wie es so schön heißt.

Bereits 2013 habe ich detailliert beschrieben, warum die Testergebnisse zu den Rechtschrteibfähigkeiten der Grundschüler falsch interpretiert werden. Ich kann aus der Praxis berichten, dass Rechtschreibung und Formales kein epidemieartiges Problem darstellt. Manche sind besser, manche sind schlechter, ein paar Fehler macht jeder, unleserlich ist nichts. Die Arbeiten, in denen ich Abzug wegen mangelnder Rechtschreibung geben muss, lassen sich an einer Hand abzählen. An dieser Front ist also kein großes Problem.

Gerne wird auch anhand drastischer Beispiele geschildert, welch gewaltige Einbußen es im mathematischen Verständnis gibt. Und zwar ist es wahr, dass hier deutlicher Verbesserungsbedarf gegenüber manchen anderen Nationen besteht, aber gleichzeitig ist es auch wahr, dass diejenigen die glauben, im mythischen "Früher" sei es signifikant besser gewesen, irren. Damals hat nur keiner gemessen.

Auch in Geschichte gab es jüngst eine dramatische Erkenntnis: nur 60% der Schüler wissen etwas mit dem Begriff "Auschwitz" anzufangen! Das klingt erst einmal dramatisch. Nur hatte ein großer Teil der befragten Schüler das Thema noch gar nicht im Unterricht gemacht, und selbst dann ist das Abfragen von "Wofür steht Auschwitz-Birkenau?" keine Messlatte für Wissen über den Holocaust. Nur letzteres wurde nicht gefragt, stattdessen tat man genau das, was das Schulsystem verzweifelt abzustoßen versucht: stures Faktenwissen, ohne zu überprüfen, ob ein kritisches Verständnis existiert. In der Gesamtbevölkerung wissen zudem 87%, für was es steht, was stark darauf schließen lässt, dass die Quote unter Schulabsolventen deutlich höher liegt. Auch hier: keine Panik.

Dieses Muster zieht sich durch alle Fächer und alle Schularten. Die Alarmismen zeugen deutlich häufiger von profunder Unkenntnis über die Funktionsweise des Schulsystems und grundlegende didaktische Konzepte.

Zudem sind die Befürchtungen auch immer dieselben. Sie alle wurzeln in einem Kulturpessimismus, den zu hegen und pflegen das größte Plässier der jeweiligen Elterngeneration darstellt. Arbeitgeber beklagen sich immer über die angeblich unzureichenden Fähigkeiten der Auszubildenden. Die Formen und Moral der Jugend sind immer irgendwie schlechter als früher. Früher wurde immer noch mehr gelerrnt als heute, oder zumindest das richtige. Die Jugend ist immer respektloser als die vorangegangene.

Dabei fällt mir vor allem auf, dass keine Generation je so brav, so angepasst, so konservativ war wie die aktuelle. Die meisten Probleme in der Schule habe ich mittlerweile nicht mehr mit den Schülern, sondern mit deren Eltern. Die Hausordnungsverstöße, die die größten Probleme bereiten, dürften Lehrern vor dreißig, vierzig Jahren als schlechter Witz erschienen sein. Ich erinnere mich noch an meine eigene Schulzeit, wie schwer es Referendare bei uns oft hatten und wie schlecht wir sie behandelten. Selbst von den Klassen mit dem schlimmsten Ruf, bei denen Unterricht wirklich anstrengend war, habe ich im Referendariat stets Unterstützung erfahren, wenn jemand hinten drin saß. Die Schüler von heute sind die nettesten und besten, die es je gab.

Gleichzeitig ist das fachliche Niveau der Lehrer höher als je zuvor, weil die Ausbildung deutlich praxisorientierter und anspruchsvoller ist. Heutige Lehramtsstudenten haben es bereits deutlich schwerer als ich, und ich bin gerade mal 33. Meine Kinder bekommen im Kindergarten eine zielgerichtete und auf empirischer pädagogischer Forschung beruhende Förderung, die zu meiner Zeit völlig unvorstellbar war. Sozialarbeiter kümmern sich um Problemfälle, die früher einfach aus dem System gefallen wären, Inklusion bringt Kinder in das System, die früher in Verwahrungsstätten gepackt wurden. Das wirkt sich auf den Durchschnitt negativ aus, aber für die Gesellschaft ist ein riesiges Plus, das nur in den Spengler'schen Untergangsszenarien der Alten, die von der "Jugend von heute" stöhnen, nicht vorkommt und auch nicht vorkommen darf.

Von daher: die Jugend von heute ist in guter Verfassung. Um sie mache ich mir keine Sorgen. Unsere Gesellschaft erfährt von ganz anderer Seite ihre größte Gefährdung. Diese Seite können die Kritiker der heutigen Jugend jederzeit ausführlich betrachten, wenn sie einfach mal in den Spiegel sehen.

Dienstag, 26. Dezember 2017

Wann kommen endlich Games und Serien in den Bildungsplan?

Es gibt zahllose Felder aus denen ersichtlich wird, dass in den Kultusministerien "Neue Medien" eher als eine kleine methodische Auflockerung, vielleicht gar als ein zweistündiger Methodenschwerpunkt zu Anfang oder Ende des Schuljahrs gesehen werden. Doch diese Passivität gegenüber der Wandlung des kompletten Bildungsbegriffs, der uns ins Haus steht, erstreckt sich nicht nur auf den Methodenteil, wo immer noch viel zu sehr davon ausgegangen wird, dass die OHP-Folie das höchste an medialer Unterstützung ist, was ein Lehrer so gebrauchen kann. Auch in den Bildungsplänen ist eine erschreckende Ignoranz gegenüber medialen Formen zu erkennen. Ich will dies an zwei Beispielen konkret machen: Videospiele und TV-Serien.

Beide finden in der schulischen Welt überhaupt nicht statt, werden eher als frivole Freizeitaktivitäten gesehen, die Zeit von den seriösen Schultätigkeiten abziehen. Der Beschäftigung mit Goethe, Schiller und den Regeln der deutschen Grammatik also. Denn ist das eherne Gesetz aller selbst ernannten Verteidiger von Bildung und Kultur, dass nur ernstgenommen werden kann, was keinen Spaß macht.

Ich weiß dass das überzogen klingt, und natürlich ist es wenigstens in Teilen eine Zuspitzung. Der Bildungsplan enthält ja als einen von vielen Stichpunkten unter "ferner liefen" (nicht abirelevant und daher meist unter den Tisch fallend) auch den Punkt "Filmanalyse". Und wenn man das wenige didaktische Material dazu anschaut, dürfen die Schüler dann auch anhand klassischer Komödien aus den 1970er und 1980er Jahren lernen, welche verschiedenen Kameraeinstellungen es so gibt.

Aber letztlich läuft es darauf hinaus, dass es sich um Nebenaktivitäten handelt, die mehr zähneknirschend aufgenommen wurden, weil es halt der Vollständigkeit halber hineinmuss. Die Vermittlung des klassischen bildungsbürgerlichen Kanons spielt immer noch die erste (und zweite, und dritte) Geige. Ich erinnere mich noch, dass ich während des Referendariats in einer Diskussion um den Nutzen des Lesens von Klassikern im Unterricht verschnupft von der Ausbilderin gebeten wurde, doch noch einmal zu reflektieren, warum ich Deutsch unterrichten wolle, weil ich der Lektüre klassischer Dramen nicht die gebührende Referenz erwies.

Für mich ist es wichtig, dass die Schüler die Möglichkeit bekommen, das ganze theoretische Wissen um Leitmotive, Charakterentwicklung, Dialoganalyse etc. auch praktisch anzuwenden. Und man mag zwar im Philologenverband immer noch dem Leitbild des Matura-Schülers anhängen, der in der väterlichen Bibliothek in seiner Freizeit (Tweetjacket tragend) den ledergebundenen Goethe aufschlägt, aber das geht an der Realität völlig vorbei.

Der mit Abstand größte Kontakt, den die meisten Leute mit Erzählungen haben, ist nicht das gedruckte Buch. Und ich schreibe hier bewusst nicht "Jugendliche" oder "Schüler", denn ist ja nicht gerade so, als ob das später schlagartig besser wäre, nur weil die Leute älter sind. Nein, den meisten Narrativen begegnene die Menschen heute im Fernsehen, und hier zunehmend in Form lang laufender Dramenserien, sowie in Videospielen (noch immer mit stark männlicher Schlagseite, aber das bessert sich langsam).

Es macht daher keinen Sinn, diese "neuen Medien" (die neu zu nennen nach über 30 Jahren auch nur die Berufsneanderthaler fertigbringen) im Unterricht nur als winzigen Nebenaspekt vorkommen zu lassen. Der ständige Bildungssnobismus hat zwar mittlerweile für einige wenige, ausgewählte Filme einen Weg an die Randzone des Bildungskanons erlaubt (Hitchcock!), aber Serien kommen überhaupt nicht vor, und neuere Produkte überwiegend auch nicht. Videospiele, auf der anderen Seite, werden scheinbar nicht einmal als erzählendes Medium wahrgenommen.

Das ist deswegen ein Problem, weil wie zwar in der Schule durchaus erfolgreich Fähigkeiten der Literaturanalyse vermitteln, dieses Wissen aber habituell auf die Klassiker beschränkt bliebt - die kein Schüler je freiwillig in die Hand nimmt (Ausnahme immer der geneigte Leser dieses Artikels, versteht sich). Zuverlässig sind zwei Fragen, die ich jedes Schuljahr bekomme, ob ich die Dinger denn in meiner Freizeit selbst lesen würde und ob irgendjemand die zur Zeit des Autors freiwillig gelesen habe. Es ist völlige Verschwendung, Schülern Methodenwissen an die Hand zu geben, das diese danach nicht wieder gebrauchen können.

Dabei ist das vermittelte Methodenwissen überaus wertvoll, denn es kann Anwendung in den Bereichen finden, in denen die Schüler auch später noch Narrativen ausgesetzt sein werden. Und das sind nach Lage der Dinge Filme, TV-Serien und Videospiele.

Ich unterrichte bereits seit einigen Jahren vergleichsweise umfrangreich Filmanalyse im Rahmen des Deutsch-Unterrichts. Ich benutze zudem Filme gerne als Beispiele, um literarische Konzepte deutlich zu machen. Beides hat nichts mit zu geringen Ansprüchen an das fachliche Niveau zu tun. So eignet sich kaum etwas so sehr wie Filme, um den Unterschied zwischen "Was geschieht?" und "Worum geht es?" deutlich zu machen, also die Abgrenzung zwischen einer Inhaltsangabe und einer Interpretation.

Ein Beispiel: Im Film "The Avengers" geschieht, dass Loki sich eines mächtigen Artefakts versichert und im Bündnis mit einer außerirdischen Macht die Erde zu unterwerfen versucht, was ein Team von Superhelden verhindern muss. Es geht darum, dass man seine eigenen Egoismen und Vorurteile überwinden und lernen muss, im Team zu arbeiten.

"The Avengers" ist sicherlich nicht gerade hohe Kunst, aber es eignet sich beispielhaft, um Konzepte deutlich zu machen. Dafür brauche ich aber keine spezifischen Methoden oder Bildungsplaninhalte, das kann ich in einem kurzen Kommentar erklären. Viel relevanter ist, solcherart erworbenes Methodenwissen, das die Schüler im Allgemeinen auf "Faust" oder den "Steppenwolf" anwenden müssen, auch auf Filme oder TV-Serien anzuwenden. Das hat zwei Effekte.

Effekt 1 ist, dass die Schüler in die Lage versetzt werden, tiefere Bedeutungsebenen solcher Medien überhaupt zu erschließen. Ein von mir jährlich aufs Neue beobachteter Effekt ist, dass sie überhaupt nicht auf die Idee kommen, diese an klassischer Literatur erschlossenen Fähigkeiten auch auf andere Bereiche anzuwenden (das betrifft im Übrigen auch in der Freizeit konsumierte Belletristik). Das aber bedeutet häufig, dass die Schüler rein passive Konsumenten der jeweiligen Medien bleiben. Selbst bei vergleichsweise einfachen, massentauglichen Werken bleibt die Rezeption üblicherweise auf das Verständnis des Plots beschränkt.

Effekt 2 ist, dass die Schüler in die Lage versetzt werden, gute Werke von schlechten zu unterscheiden. Wie bei jedem anderen Unterhaltungsmedium auch - ob Bücher, Popmusik, Spiele - sind 90% aller veröffentlichten Produkte entweder schlecht oder harmlose Massenware, die keine höheren Ziele als reinen Eskapismus verfolgen. In der Lage zu sein, die restlichen 10% zu erkennen und als das zu genießen, was sie eigentlich sind, ist eine zweite wichtige Fähigkeit, die im Rahmen des normalen Unterrichts überhaupt nicht erschlossen wird, weil der immer auf absoluter Hochkultur beschränkt bleibt statt sich in die Niederungen der (anspruchsvollen) Popkultur zu begegeben.

Und das ist ein wichtiger Punkt: es geht nicht um Arthouse-Filme, Stummfilmklassiker oder solche Dinge. Ich rede von völlig normalen Blockbustern und Serienerfolgen. Aber es gibt eben einen Unterschied zwischen der neuesten Adam-Sandler-Komödie und "Star Wars: The Last Jedi". Es gibt einen Unterschied zwischen "Big Bang Theory" und "Breaking Bad".

Ich konnte den Erfolg dieser Maßnahmen letzte Woche live verfolgen. Ich war mit drei Klassen auf Exkursion im Kino (Star Wars: The Last Jedi, englische Originalversion), und wir haben den Film danach im Unterricht besprochen. Zwei der drei Klassen habe ich seit drei Jahren in Deutsch, die dritte gar nicht. Auf meine Frage, worum es ging (Antwort hier), konnte letztere keine Antwort geben. Die Idee, die im Deutschunterricht gelernten Fähigkeiten auf den Kinobesuch anzuwenden, kam ihnen gar nicht. Für sie bestand eine klare Trennung zwischen dem Kinobesuch - der fast schon unter Freizeit verbucht wurde - und Unterricht.

Die Klassen, mit denen ich das schon länger trainiere, konnten sofort diverse gute Antworten geben. Effektiv sahen sie einen anderen Film. (Ein ehemaliger Abiturient erzählte mir kürzlich, dass er und sein Freund seit der Besprechung im Unterricht keine schlechten Serien oder Filme mehr sehen könnten, ohne dass es ihnen sofort auffiele. Mission erfolgreich. :))

Noch wesentlich ausgeprägter sind die beschriebenen Effekte bei Videospielen. Das Medium ist jünger, und es richtet sich (noch) an ein jüngeres Zielpublikum, weswegen es noch seltener als Filme oder Serien in anspruchsvolles Territorium vorstößt. Die Idee, Videospiele überhaupt als narrative Medien zu begreifen - anstatt die erzählte Geschichte als rein verbindendes Element für die Gameplay-Sequenzen zu sehen - kommt den meisten Konsumenten gar nicht.

Effekt 1 ist daher häufig selbst bei bestem Willen schlicht nicht erreichbar. Effekt 2 dagegen ist umso gewichtiger.

Denn wie bei Filmen und Serien auch kann ein höheres Niveau nur dann erreicht werden, wenn die Konsumenten dies einfordern, und einfordern können sie es nur, wenn sie wissen, was ihnen bisher fehlt.

Die ständige bewusste Trennung zwischen komplexer, analysewürdiger Hochkultur auf der einen Seite, die für die meisten Schüler (und späteren Erwachsenen) untrennbar mit "Schule" verbunden wird, und der auf reinen eskapistischen Konsum ausgelegten Populärkultur auf der anderen Seite, die in der Schule allenfalls als Belohnung nach einer Klausur oder zum Zeittotschlagen vor den Ferien benutzt wird, zerstört jegliche Möglichkeit, Effekt 2 auf breiter Basis zu erreichen.

Es ist daher notwendig, dass sich die Schule diesen Werken ebenfalls annimmt und den Schülern eine völlig neue Welt der Rezeption von Popkultur öffnet. Dazu ist es auf der einen Seite nötig, die snobistischen Vorbehalte gegen die Popkultur loszuwerden. Das ist die Aufgabe der Lehrer. Dazu ist es auf der anderen Seite nötig, die Vorstellung loszuwerden, das in der Schule gelernte sei anrüchig und dürfe keinesfalls in die Freizeit vordringen. Das ist die Aufgabe der Schüler.

Freitag, 22. Dezember 2017

Bücherliste 2015/17

Bücher sind der Schlüssel zur Welt, und es gibt praktisch unendlich viele davon auf der Welt, und jedes Jahr kommen neue hinzu. Da das Leben kurz ist, möchte man nicht unbedingt mehrere Bücher anfangen und irgendwann feststellen, dass sie Mist sind und man bisher seine Zeit verschwendet hat. Andererseits ist es oft schwer, an gute Ideen für neue Bücher heranzukommen, wenn man sie nicht gerade durch Zufall findet. Ich stelle daher hier meine Bücherliste 2015/17 (letztes Jahr vergessen eine zu schreiben wie es aussieht) vor, die zwar nicht alle Bücher enthält, die ich in diesem Zeitraum gelesen habe, aber alle, die ich guten Gewissens weiterempfehlen kann. Vielleicht findet ja jemand etwas Interessantes darin. Die meisten Bücher habe ich auf Englisch gelesen; wo vorhanden, habe ich Links auf die deutschen Versionen beigefügt. Alle Links führen direkt zu Amazon, und wer die Bücher über diese Links bestellt sorgt dafür, dass ein kleiner Teil des Preises von Amazon an mich geht. Kapitalismus!

Die Rosahelllau-Falle - Für eine Kindheit ohne Rollenklischees
Sehr empfehlenswertes Buch zum Grundproblem der Gender-Normierung bei Kindern. Beschäftigt sich mit unbewussten Klischees, ein bisschen Hirnforschung, dem Einfluss von Werbung, viel Kindergarten, Peer-Groups und so weiter. Ist gut geschrieben und schnell gelesen sowie sauber recherchiert (mitsamt Fußnoten und Quellenapparat). Als Einstieg in die Thematik absolut zu empfehlen.
Postwar - Die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg
Tony Judts Europäische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein absolutes Standardwerk. Das Grandiose ist, dass er seine Betrachtungen jeweils östlich und westlich des Eisernen Vorhangs macht und nicht eine westzentrierte Geschichte aufzieht. Auch Südeuropa wird ausführlich besprochen, so dass tatsächlich eine gesamteuropäische Geschichte entsteht. Das Buch ist allerdings nichts für Einsteiger; Judt setzt ein gewisses Grundlagenwissen voraus.
The Rise and Fall of American Growth
Dieses hervorragende Buch untersucht die Entwicklung des amerikanischen Lebensstandards von 1870 bis 1970. Das Buch ist vollgepackt mit Informationen, die man in politischen Überblickswerken nicht findet - vom Wandel der Wohnbedingungen über den Wandel der Esskultur zum Siegeszug des Automobils ist alles dabei. Absolute Empfehlung, sollte man gelesen haben!
The Storm before the Storm
Der durch seine Podcasts berühmt gewordene Mike Duncan hat sein erstes Buch vorgelegt, in dem er die Vorbedingungen für den Aufstieg von Pompeius, Crassus und Caesars erklärt, also die Geschichte vom Ende des Zweiten Punischen Kriegs bis zu Sulla. Packend geschrieben, sauber recherchiert, mit gutem Problembewusstsein, kann nur empfohlen werden.
We Were Eight Years in Power
Ta-Nehisi Coates' acht große Essays aus den acht Regierungsjahren Obamas sind hier zusammengefasst. Vor jedem Essay steht eine Betrachtung Coates' aus heutiger Sicht, in der er sehr selbstkritisch mit sich selbst, seinen Thesen und der Frage, ob sie sich gehalten haben, ins Gericht geht. Wer die USA der letzten acht Jahre aus Sicht der afroamerikanischen Bevölkerung verstehen will kommt um dieses absolut grandiose Werk nicht herum.
What Happened Ich habe Hillary Clintons Rückschau auf den Wahlkampf 2016 bereits im Blog rezensiert.
Leviathan Wakes (The Expanse 1) - Leviathan Erwacht (The Expanse 1)
 "The Expanse" ist eine Science-Fiction-Serie von zwei unter Pseudonym James S. A. Corey schreibenden Autoren, die mittlerweile von Netflix in einer sehr sehenswerten Serie adaptiert wurde. Die Bücher sind ebenfalls lesenswert. Im ersten Band wird die Geschichte der Entdeckung einer außerirdischen Lebensform und dem Konflikt darüber durch die verschiedenen Machtgruppen des mittlerweile kolonisierten Sonnensystems erzählt.
Caliban's War (The Expanse 2) - Calibans Krieg (The Expanse 2)
Calibans Krieg ist deutlich politischer als Leviathan Erwacht und befasst sich überwiegend mit den Nachwehen und der Auflösung der Ereignisse aus dem ersten Buch. Der Konflikt zwischen Erde und Mars spielt eine Hauptrolle.
Abaddon's Gate (The Expanse 3) - Abaddons Tor (The Expanse 3)
In Abaddons Tor entdeckt die Menschheit ein Tor zu den Sternen, aber bevor sie es nutzen kann, muss sie sowohl seinen Sicherheitsmechanismus überwinden als auch interne Konflikte lösen.
Drift: The Unmooring of American Military Power
Rachel Maddow, die berühmte MSNBC-Moderatorin, hat in diesem kleinen Büchlein eine großartig knappe und informative Zusammenfassung der US-Sicherheitspolitik dargelegt. Anschaulich stellt sie dar, wie das Pendel zwischen Kongress und Präsident hin- und herschwingt und wie die Versuche, das Militär unter ziviler Kontrolle zu belassen, immer wieder aufgeweicht werden.
A Feast for Crows (ASOIAF 4) - Zeit der Krähen und Die Dunkle Königin
 Ich lese "Das Lied von Eis und Feuer" im Allgemeinen mehrmals jährlich. Wer es noch nicht kennt sollte es dringend lesen, daher hier vor allem die Links. :)
Between the World and Me -Zwischen Mir und der Welt
Ta-Nehisi Coates' berühmtes Essay in Form eines Briefs an seinen Sohn gibt einen faszinierenden Einblick in die Lebenswirklichkeit des schwarzen Amerika und ist grandios geschrieben. 
A Storm of Swords (ASOIAF 3) - Sturm der Schwerter und Königin der Drachen
Ich lese "Das Lied von Eis und Feuer" im Allgemeinen mehrmals jährlich. Wer es noch nicht kennt sollte es dringend lesen, daher hier vor allem die Links. :)
Twilight of the Elites
 Chris L. Hayes, der bekannte Moderator der MSNBC-Talkshow "All In With Chris Hayes" hat 2012 dieses mehr als empfehlenswerte Buch geschrieben. Er betrachtet darin wie sich die Elite der US immer mehr abkapselt und inzestuös vermehrt und keine Neuzugänge mehr zulässt. Viele seiner Beobachtungen waren ihrer Zeit weit voraus, und liest man sie mit dem Wissen um den Wahlkampf 2016, so kann man vor Hayes' analytischem Scharfblick nur den Hut ziehen.
A Clash of Kings (ASOIAF 2) - Der Thron der Sieben Königreiche und Die Saat des Goldenen Löwen
Ich lese "Das Lied von Eis und Feuer" im Allgemeinen mehrmals jährlich. Wer es noch nicht kennt sollte es dringend lesen, daher hier vor allem die Links. :)
A Game of Thrones (ASOIAF 1) - Die Herren von Winterfell und Das Erbe von Winterfell
Ich lese "Das Lied von Eis und Feuer" im Allgemeinen mehrmals jährlich. Wer es noch nicht kennt sollte es dringend lesen, daher hier vor allem die Links. :)
Audacity: How Barack Obama defied his critics and remade America
Jonathan Chait legte mit diesem Buch im Januar 2017 die definitive Obama-Fanboy-Abrechnung vor und zeigt dem aufgeschlossenen Leser, dass Obama tatsächlich einer der größten Präsidenten aller Zeiten ist und dass viele seiner historischen Errungenschaften auch von Trump nicht zurückgedreht werden können. Ein Hoffnungstropfen für enttäuschte Liberale.
 Dynasty: The Rise and Fall of the House of Caesar - Dynastie: Glanz und Elend der römischen Kaiser von Augustus bis Nero
Tom Hollands Bücher über die römische Geschichte zeichnen sich durch ihren ganz eigenen, hypnotischen Stil aus. Holland ist ein Meister der historischen Erzählung und vermag es, die alten Quellen überaus lebendig wiederzugeben - nur um dann kunstvoll Zweifel darüber zu sähen, wie viel davon wir eigentlich tatsächlich glauben können.
Strategy: A History
Dieses Standarkwerk von Oxford History ist ungeheur trocken, aber wer sich für das Thema interessiert - Strategie wird taktisch und strategisch aus militärischer Sicht, aber auch politisch und wirtschaftlich untersucht - bekommt von Aristoteles bis heute einen umfassenden Überblick über strategische Theorie.
Poor Economics: A Radical Rethinking of the Way to fight Poverty - Poor Economics: Plädyoer für ein neues Verständnis von Armut
Absolut empfehlenswertes Werk zur Entwicklungspolitik, das tatsächlich radikal andere Ansätze geht und vor allem mit Empirie untersucht, ob Maßnahmen erfolgreich sind und der Frage nachgeht, welche Maßnahmen in der Kosten-Nutzen-Relation am besten sind und warum Menschen eigentlich arm sind. Besonders faszinierend sind die Kapitel, die sich mit dem ökonomischen Entscheidungsverhalten von Armen befassen - und die einen selbst die eigene Position in einer entwickelten Gesellschaft mit ganz anderen Augen sehen lassen.
Empire of Liberty: A History of the Early American Republic
Dieser Band aus der Reihe "Oxford American History" befasst sich mit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als die USA zwar ihre Unabhängigkeit gewonnen hatten, das Ergebnis ihres Experiments aber auf Messers Schneide stand. Der Buchtitel ist dabei durchaus ambivalent zu verstehen, denn natürlich waren bei weitem nicht alle Menschen in diesem neuen Reich frei.
American Maelstrom
Der Autor Michael Cohen legte pünktlich zur Wahl 2016 dieses packende Übersichtswerk vor, in dem er die politischen Geschehnisse des "wilden Jahrs" 1968 in der amerikanischen Politik betrachtet. Die Ähnlichkeiten mit den Entwicklungen von 2016, besonders was die Polarisierung beider Lager und den Aufschwung des Rassismus' angeht, sind tatsächlich faszinierend wie ominös. Cohen versteht sich aber auch darauf die Unterschiede herauszuarbeiten und zu zeigen, wo die Ereignisse von 1968 keine Relevanz für heute aufweisen und erweist sich auch als Legendenzerstörer, wenn er sich etwa mit der Kandidatur Bobby Kennedys befasst. Für einschlägig Interessierte ein absolutes Muss.
Restless Giant: The US from Watergate to Bush v Gore
Ein weiterer Teil der Oxford American History, das sich mit der jüngeren amerikanischen Geschichte beschäftigt. Die Werke zeichnen sich generell durch ihre wissenschaftlich saubere Argumentation und gute Recherche aus, die praktisch völlig frei von Vorurteilen bleibt und beide Seiten der Debatte darstellt, wo es eine Debatte gibt. Die Werke sind daher für Einsteiger in die US-Geschichte hervorragend geeignet.
 Mockingjay - Tribute von Panem: Flammender Zorn (Teil 3)
Der dritte Teil der Tribute von Panem ist der mit Abstand fesselndste und verstörendste der Reihe. Wenn man bedenkt, dass es sich hier um ein Jugendbuch handelt, geht Autorin Suzanne Collins wahrhaft mutige Wege mit ihrer Geschichte und der Hauptperson Katniss. Die Leitmotive und Themen des Buchs - von Kollektivismus vs. Individualismus, von Grenzen der Moral zu PTSD ist alles enthalten - sind schwer verdaulich und fordern den Leser heraus, selbst wenn seine Jugend schon länger zurückliegt.
Catching Fire - Tribute von Panem: Gefährliche Liebe (Teil 2)
Der zweite Teil der Tribute von Panem überrascht mit einigen deutlichen Wendungen, die das Buch klar von der klischeebeladenen Resterampe der Jugendromane abheben, die die Regale der Buchläden überlastet. Absolut lesenswert, auch für Erwachsene.
Grand Expectations: The US, 1945-1974
Ein weiterer Teil der Oxford American History, das sich mit der jüngeren amerikanischen Geschichte beschäftigt. Die Werke zeichnen sich generell durch ihre wissenschaftlich saubere Argumentation und gute Recherche aus, die praktisch völlig frei von Vorurteilen bleibt und beide Seiten der Debatte darstellt, wo es eine Debatte gibt. Die Werke sind daher für Einsteiger in die US-Geschichte hervorragend geeignet.
Freedom from Fear: The American People in Depression and War, 1929,1945
Ein weiterer Teil der Oxford American History, das sich mit der amerikanischen Geschichte beschäftigt. Die Werke zeichnen sich generell durch ihre wissenschaftlich saubere Argumentation und gute Recherche aus, die praktisch völlig frei von Vorurteilen bleibt und beide Seiten der Debatte darstellt, wo es eine Debatte gibt. Die Werke sind daher für Einsteiger in die US-Geschichte hervorragend geeignet.
Fateful Choices: Ten Decisions that Changed the Course of History
Ian Kershaw zeigt in diesem Buch zehn schicksalhafte Entscheidungen der Jahre 1940 und 1941, die den Verlauf des Zweiten Weltkriegs und damit der modernen Menschheitsgeschichte entscheidend prägen. Von Churchills Entscheidung weiterzukämpfen zu Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zu Pearl Harbor und der deutschen Kriegserklärung an die USA sind alle relevanten Punkte enthalten. Was das Buch so faszinierend und informativ macht ist, dass Kershaw einerseits die Entscheidungsprozesse und beteiligten Personen/Standpunkte nachzeichnet als auch andererseits die Alternativen aufzeigt, die existiert hätten, wodurch der Leser ein Tiefenverständnis der Entscheidungen erreicht.
The World of Ice and Fire - Die Welt von Eis und Feuer
Für Fans der "Lied von Eis und Feuer"-Reihe bietet dieses wunderschön gestaltete, vollfarbige Buch eine wahre Fundgrube nerdiger Informationen. Nicht ganz so voll gepackt wie das Silmarillion, aber dafür deutlich lesbarer ist es für alle Fans ein Muss.
From Colony to Superpower: US Foreign Relations
 Dieses Buch befasst sich, wie der Titel schon sagt, mit der Geschichte der amerikanischen Außenpolitik. Der Autor schafft es dabei außerordentlich gut, verschiedene Phasen herauszuarbeiten und zu zeigen, wie sich die Prämissen der US-Außenpolitik änderten.
The Glorious Cause: The American Revolution
 Ein weiterer Teil der Oxford American History, das sich mit der amerikanischen Geschichte beschäftigt. Die Werke zeichnen sich generell durch ihre wissenschaftlich saubere Argumentation und gute Recherche aus, die praktisch völlig frei von Vorurteilen bleibt und beide Seiten der Debatte darstellt, wo es eine Debatte gibt. Die Werke sind daher für Einsteiger in die US-Geschichte hervorragend geeignet.
The Hunger Games - Tribute von Panem: Tödliche Spiele (Teil 1)
 Ich hatte das Buch ursprünglich nur gelesen, weil ich es mit einer achten Klasse im Unterricht besprechen wollte. Ich kannte den Film und fand ihn sehr unterwältigend, aber das Buch ist wirklich deutlich besser. Hervorragend geschrieben und voller Motive, Charakterentwicklungen und wichtiger Themen ist es sowohl für Jugendliche als auch für Erwachsene absolut empfehlenswert.
A Knight of the Seven Kingdoms - Der Heckenritter: Das Urteil der Sieben
George R. R. Martin schrieb nicht nur die herausragende "Das Lied von Eis und Feuer"-Buchserie und den oben vorgestellten Welt-Band, sondern auch drei Novellen, die in der Welt spielen. Absolut lesenswert, sollte man sich unbedingt anschaffen. Die Bücher sind auch als Comics verfügbar.
What Hath God Wrought: The Transformation of America 1815-1848
 Ein weiterer Teil der Oxford American History, das sich mit der amerikanischen Geschichte beschäftigt. Die Werke zeichnen sich generell durch ihre wissenschaftlich saubere Argumentation und gute Recherche aus, die praktisch völlig frei von Vorurteilen bleibt und beide Seiten der Debatte darstellt, wo es eine Debatte gibt. Die Werke sind daher für Einsteiger in die US-Geschichte hervorragend geeignet.
Erzählmirnix Fettlogik überwinden
Über dieses Buch und seine Wirkung auf mich habe ich bereits im Blog geschrieben.
Das Versagen der Intellektuellen: Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter
 Ein in Deutschland immer wieder auftretendes Thema ist die traditionell konservative Konsumfeindlichkeit. Das Buch ist leider alles andere als packend geschrieben, aber das Thema selbst scheint mir wichtig genug, es in die Liste hier aufzunehmen.
Mad Men Carousel
Matt Stoller Seitz ist einer der profiliertesten Film- und Fernsehkritiker unserer Zeit, und Mad Men ist eine der besten je gemachten Serien. Wer an gut geschriebener Analyse zu jeder einzelnen Mad-Men-Folge interessiert ist, sollte sich unbedingt dieses Buch besorgen.
Die Deutsche Frage und das Europäische Staatensystem 1815-1871
 Anselm Doering-Manteuffel hat in diesem Klassiker eine gute Übersicht zur Wechselbeziehung zwischen den europäischen Staaten und der Entstehung (oder Nicht-Entstehung) eines deutschen Nationalstaats geschrieben.
 Breaking Bad 101
Alan Sepinwall, der Großmeister der Serienanalyse und -kritik, hat ein Begleitbuch zu einer der besten Serien aller Zeiten, Breaking Bad, geschrieben. Jede einzelne Folge wird analysiert. Für jeden Fan sollte das ein Pflichtkauf sein.
 Ordnung durch Terror
Diese Gemeinschaftsarbeit von Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel vergleicht die nationalsozialistische und kommunistische Gewaltherrschaft in Osteuropa und arbeitet heraus, wie sich beide gegenseitig bedingen, wo ihre Unterschiede und wo ihre Gemeinsamkeiten liegen. Kurz und knapp, gut geschrieben und absolut lesenswert, setzt aber gewisse Grundkenntnisse voraus.
Ohne Schulden läuft nichts
 Thomas Strobls Klassiker liest sich heute noch so flott wie bei seinem Erscheinen, auch wenn einige seiner Beispiele mittlerweile veraltet sind. Als Übersicht über den Themenkomplex "Schulden" und Ideenanstoß bleibt es weiterhin spannend, auch wenn Strobl sich mittlerweile etwas davon distanziert.
Legionär in der Römischen Armee: Der ultimative Karriereführer
Ein absolut grandioses Buch. Im Stil eines Karrieführers geschrieben erklärt es die einzelnen Stationen eines Legionärs, von der Anwerbung zur Ausrüstung hin zu den einzelnen Gliederungen und einer Empfehlung, wohin man sich am besten versetzen lässt. Auf die Art bekommt man Arbeitsweise und Alltag der Legionen super anschaulich erklärt. Von dieser Art Buch sollte es für andere Epochen noch deutlich mehr geben. Ich habe es schon mehrmals gelesen, ein absoluter Genuss.

Sonntag, 17. Dezember 2017

Toxische Feminität - Eine Begriffsklärung

Von Stefan Sasse und Ariane

Da vor einer Weile der Begriff der toxischen Maskulinität Thema im Blog war, haben wir uns auch einmal bestimmtes, erlerntes Verhalten bei Frauen angesehen, das wir dementsprechend als toxische Feminität bezeichnen. Auch hier soll es keinesfalls darum gehen, dass Frauen generell bösartiger oder Männer die besseren Menschen wären, sondern wir beziehen uns auf bestimmte Verhaltensweisen, die sowohl gegenüber Frauen als auch Männern toxisch wirken können. Da der Begriff toxische Feminität bisher in Wissenschaft und/oder Literatur noch nicht eindeutig definiert ist, haben wir versucht, uns dem anzunähern.


Wir haben dabei eine Reihe von Verhaltensweisen ausgemacht, die wir als “toxisch” betrachten, weil sie einer Gleichheit zwischen den Geschlechtern im Weg stehen und/oder schädliche Auswirkungen für beide Geschlechter haben. Einige dieser Verhaltensweisen sind direkte Spiegelbilder dessen, was Stefan in seinem Artikel zur toxischen Maskulinität beschrieben hat, gewissermaßen die andere Seite der Medaille. Mit diesem Vorwort genug nun in medias res!

Wie auch bei Männern werden eine Reihe toxischer Stereotype vor allem in der Popkultur reproduziert und beständig an die Konsumenten ausgesandt. Serien wie “Sex and the City”, “Desperate Housewives”, “Gossip Girl” und viele mehr glorifizieren die oberflächliche Existenz als Konsumenten einer Luxusgüterindustrie. Das ist soweit erst einmal kein Problem - jede kann mit ihrem Geld machen was sie will - aber was all diese Serien gemeinsam haben ist, dass das beständig für Luxus-Mode ausgegebene Geld eben nicht das eigene ist, sondern das der Väter (in den Jugendserien) oder das der Ehemänner (in den Serien für Erwachsene).

Dadurch wird das Bild verfestigt, dass das Lebensziel von Frauen die Heirat mit einem Erfolgsmann sein muss, den man dann so wenig sieht, dass man Befriedigung anderweitig suchen muss. In diesem Kontext wird auch die Benutzung von Sex als Waffe (Serien wie “Gossip Girl”) oder Werkzeug (die meisten) normalisiert, wodurch die Idee, dass Männer sich den Sex durch das gemeinsame Haushaltskonto quasi “erkaufen” und einen Anspruch darauf haben legitimiert wird und gleichzeitig die Idee einer gleichberechtigten, gesunden Partnerschaft hintertrieben wird.

Ein weiteres Merkmal von Frauenfilmen oder -serien ist, dass Beziehungen absolut im Vordergrund stehen. Meist handelt es sich um Liebesbeziehungen, die Suche nach dem richtigen Mann und wenn dieser gefunden ist, die Frage, wie man eine glückliche Beziehung führt. Wie erwähnt gerne dadurch verkompliziert, dass der männliche Love-Interest ein gefährliches Geheimnis hat. Aber auch andere Beziehungen wie zwischen guten Freundinnen oder Kinder und Eltern nehmen häufig sehr viel Raum ein. Alles in allem hat es desöfteren große Ähnlichkeit mit dauerhaften Therapiesitzungen.

Auch hier ist “Sex and the City” ein typisches Beispiel: Vier unterschiedliche Freundinnen in New York erleben viele Irrungen und Wirrungen in Liebesdingen und verbringen viel Zeit mit Shopping und Parties. Zwar sind alle vier auch noch berufstätig und Miranda hat sogar Mann und Kind, aber das spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ebenfalls dazu zählt "Gilmore Girls" , auch hier geht es vornehmlich um Beziehungen. Im Mittelpunkt stehen Mutter und Tochter, und wenn gerade kein Liebesdrama in Sicht ist, geht es um die Beziehung untereinander oder die Wirren zwischen Tochter, Mutter und Großeltern.

Ebenfalls beliebt ist die Variante, dass ein geheimnisvoller, gefährlicher Kerl auf eine normale Frau trifft und sich daraufhin eine höchst komplizierte Liebesgeschichte entspinnt. Manchmal handelt es sich um den Teufel höchstselbst (Lucifer) oder einen Vampir (Twilight/Vampire Diaries) oder einen normalen Mann mit einem Hang zu Sadomasochismus (50 Shades of Grey) und ihnen gemein ist, dass man aus solch problematischen Paaren durchaus Beziehungsdramen über mehrere Filme oder Serienstaffeln basteln kann.

Sehen wir uns dagegen allgemeine Serien oder meinetwegen Männerserien an, treten Frauen oftmals in den Hintergrund. Im Mittelpunkt stehen meist die Männer, die einer bestimmten Aufgabe oder Funktion nachgehen. Da gibt es zum Beispiel das anstrengende Superheldendasein oder die neue Karriere als Drogenproduzent, Geisterjagd, Verbrechensbekämpfung oder andere furchtbar wichtige Dinge. Die Frauen werden hier oftmals als emotionale Komponente gebraucht. Als Vertraute, mit dem sich der Held austauschen kann oder noch häufiger als Love Interest, die dann häufig in Gefahr schwebt und gerettet werden muss.

Hier ist in letzter Zeit zwar einiges in Bewegung geraten, allerdings wirkt vieles noch wie eine Suche nach der "richtigen Frauenrolle". Ein interessantes Mischbeispiel ist die Superheldin “Jessica Jones” Der Charakter ist durchaus cool und tough angelegt, was sich durch eher toxisch männliches Verhalten wie Griesgrämigkeit, exzessives Trinken und Gewaltausbrüche ausdrückt, während die Haupthandlung, während sich die Haupthandlung eher an Beziehungen und ihren Problemen entlanghangelt und Weltrettung kaum eine Rolle spielt.

Frauen und Männer werden als grundsätzlich inkompatible Wesen dargestellt, mit jeweils eigenen, arkanen und unprenetrierbaren sozialen Zirkeln und Ritualen, die sich nur gelegentlich und häufig geschäftsmäßig und wenig erfüllend überschneiden. Die Mystifizierung der Frau als unbekanntes, rätselhaftes Wesen erhält so ihre zeitgenössische Form - als ausgeleierter Topos ist sie aber in der Literatur bekannt, seit Menschen die ersten Zeichen in Steine ritzten.

Nun kann naturgemäß nur eine kleine Schicht von Frauen sich ihre Gleichberechtigung durch Luxuskonsum abkaufen lassen, weil nur eine winzige Minderheit von Männern in der Lage ist, das entsprechende Einkommen zu generieren. In kleinem Maßstab reproduziert sich dieses Bild aber in der Mehrheit der Beziehungen. So geben Frauen im Alltag sechs von sieben Euro in jedem Haushalt aus.

Darunter fällt selbstverständlich der Löwenanteil der Haushaltsausgaben, etwa für die Lebensmitteleinkäufe und Ähnliches. Im Allgemeinen entscheiden die Männer nur über die großen Ausgaben (neuer Fernseher, Auto, etc.), das dann aber häufig im Alleingang. Doch was hat das alles mit toxischer Femininität zu tun?

Die klassische Rollenzuschreibung - Männer gehen zur Erwerbsarbeit, Frauen machen die Hausarbeit - wird durch Frauen in toxischen Wegen gefestigt und legitimiert, sowohl gegen Geschlechtsgenossinnen als auch gegen Männer.

Frauen neigen dazu, Hausarbeit und Kindeserziehung als “ihre” Domäne erbittert zu verteidigen. In diesem Zusammenhang werden die Fähigkeiten von Männern in beiden Bereichen konstant heruntergemacht, eine Zuschreibung, die Männer allzu gern akzeptieren, weil sie sie von viel Arbeit und Verantwortung befreit. Gleichzeitig verweigern sich viele Frauen häufig typisch männlichen Haushaltsaktivitäten und erwarten diskussionslos, dass der Mann diese erledigt, wie zum Beispiel Glühbirnenwechsel, Tragen schwerer Gegenstände oder Autopflege.

Ein besonders toxisches Phänomen ist dabei die Kindeserziehung. Nirgendwo sonst verteidigen Frauen “ihre” Domäne so aggressiv als “Frauensache”, mit dem Resultat, dass sich Väter jahrzehntelang völlig aus der Erziehung wenigstens in den frühen Jahren herausgenommen haben. Zumindest in den ersten sechs Lebensjahren ist die überwältigende Zahl der Bezugspersonen für Kinder weiblich: entweder weil sie bei Mama zuhause sind, oder weil sie in den Kindergarten gehen, in dem immer noch weit über 90% des Personals weiblich sind. Dadurch verpassen sie jede Chance, positive Männerbilder kennenzulernen; der eigene Vater ist oft bestenfalls an Abenden und Wochenende präsent, und viel zu häufig nicht einmal das. Die Zahl der Autobiographien, die die Abwesenheit von Vätern und männlichen Vorbildern generell thematisiert, ist Legion.

Wenig überraschend, dass Jungen wie Mädchen irgendwann selbst auf die Suche nach Identitikationspersonen gehen - und dann von der Popkultur das bereits beschriebene toxische Männlichkeitsbild vorgesetzt bekommen, dem sie dann nachzueifern versuchen (Jungen) oder auf das sie sich präventiv einstellen (Mädchen), oftmals durch Appropriation genau jener toxischen Verhaltensweisen, die bereits weiter oben beschrieben worden sind.

Diese aktive Rollenzuschreibung wird noch durch die Tendenz verstärkt, weibliche Hilflosigkeit zu fetischisieren. Das fängt bei der Mode an, die bewusst unpraktisch gestaltet ist (sowohl für das Ausführen irgendwelcher körperlicher Tätigkeiten als auch oft genug für die Witterungsbedingungen) und zwingend Hilfe erforderlich macht; so beinhaltet die perfekte Abendgarderobe für Frauen Schuhe, die stets einen stützenden Männerarm erforderlich machen und keine Jacke, so dass er bei Kälte ritterlich das Jacket leihen kann. Die dringende Notwendigkeit eines "Beschützers" in allen Lebenslagen gehört ebenfalls zum Problemkomplex. Nicht nur in Hollywood erwarten Frauen von "ihrem" Mann, dass er sie gegen echte oder eingebildete Flirtversuche verteidigt - und fördert damit wiederum Machoverhalten, Gewaltaffinität und männliche Dominanz.

Damit einher geht der beständige Anspruch, beurteilen zu können - und dauernd zu müssen! - was "echte" Männlichkeit ist und was nicht. Denn die heteronormative Durchsetzung dieser Standards gegenüber Geschlechtsgenossinnen richtet sich natürlich auch an Männer, denen abverlangt wird, einem bestimmten Klischee zu entsprechen, um als attraktiv zu gelten. Toxische Femininität schafft sich so selbst die anschließend wortreich bejammerte Falle, dass zwar attraktive, aber unfreundliche, unsensible oder sogar gewalttätige Partner gefunden werden (dass diese Kritik auch aus der mysogenen Nerd-Ecke kommt, macht die Sache nicht einfacher).

Doch auch auf die langfristigen Beziehungen zwischen Männern und Frauen selbst hat die ständige Herabsetzung der männlichen Haushalts- und Erziehungsfertigkeiten nachhaltigen, negativen Einfluss. Die künstliche Spaltung des Alltags in eine “weibliche” Domäne im Haus, wo die Frau “die Hosen anhat” und als unumschränkter Diktator herrscht und dem Mann allenfalls kleine Räume zur Selbstverwirklichung zuspricht (die klischeebeladene Garage aus der amerikanischen Vorstadt oder die Man-Cave im Keller), und der “männlichen” Domäne der äußere Welt, in der die Frau allenfalls als präsentables Accessoire auftritt, sind eine direkte Folge dieser Teilung.

Dazu gehört auch eine Segregation der sozialen Beziehungen. Hausfrauenzirkel, die sich zum Kaffee treffen während die Kinder um ihre Füße wuseln sind die eine Seite des Klischees, (rein männlich besetzte) Kollegenstammtische nach Feierabend, um nicht zu früh in die “weibliche” Domäne zurückkehren zu müssen die andere. Diese Segregation wäre nicht vorstellbar ohne die toxische Feminität, die Männern eine bequeme Ausrede bietet, sich nicht in den Haushalt und die Kindeserziehung einbringen zu müssen.

Unabhängig von Privat- oder Arbeitsphäre gibt es meist eine geschlechtstypische Einteilung in Mikro- und Makromanagement, bei der Frauen für die kleinen Dinge zuständig sind. Ein typisches Beispiel ist, dass Frauen wichtige Daten wie Geburtstage und Jubiläen im Auge haben und Geschenke und Festivitäten dafür organisieren, während dem Mann dabei ungefragt seine Aufgaben zugewiesen werden, wie die Bezahlung oder Fahrdienste.

Besonders ärgerlich und schädlich ist, dass Frauen dabei häufig eine Infantilisierung des Mannes betreiben und sich im häuslichen Bereich eher als Mutter oder Erzieherin ihres Partners aufführen (verbunden mit dem entsprechenden Vokabular; “Hast du deinen Mann schon erzogen?” ist eine vielfach ohne Ironie gestellte Frage unter Frauen), die den Mann weiter von jeder Verantwortung im Haushalt enthebt und eine gleichberechtigte Beziehung untergräbt, weil die Domänen klar voneinander getrennt werden.

Verbunden ist dieses Verhalten durch eine Überhöhung der Hausfrau: die Vorstellung, eine “anständige” Frau zu werden. “Anständige Frauen” sind von ihrem Partner ökonomisch abhängig und gesetzt. Zwar ist das Modell der einen und ewigen Ehe schon seit den 1970er Jahren in der Krise, stellt aber für viele Frauen immer noch die Zielvorstellung dar.

Das wäre soweit kein Problem - jede soll so glücklich werden, wie sie will - würden sie es nicht aggressiv heteronormativ gegen die eigenen Geschlechtsgenossinnen durchsetzen. Niemand ist so effektiv darin, eine Frau als Schlampe oder karrieregeile Rabenmutter zu brandmarken und außerhalb der ehrbaren Gesellschaft zu stellen, wie eine andere Frau.

Auf der anderen Seite werden Frauen, die zu wenig Aufmerksamkeit auf noch zu suchende oder bereits vorhandene Liebesbeziehungen verwenden, argwöhnisch betrachtet. Und mit Blick darauf lästern viele Frauen untereinander mit Vorliebe über das Aussehen ihrer Geschlechtsgenossinnen. Besonders beliebt ist der Vorwurf, diese “ließen sich gehen” und kümmerten sich nicht genug um ihr Idealgewicht, ihre Frisur oder die Kleidungsauswahl. während sie selbst viel Zeit und Energie auf diese Fragen richten. Oft bleibt es nicht bei Unverständnis und Lästereien, sondern gelegentlich artet es ungefragt in vermeintlich hilfreiche Aktivität aus. Nicht macht solche toxischen Frauen glücklicher als einen vermuteten Problemfall wieder “auf den richtigen Weg” zu führen und das volle Programm besteht meist aus Umstyling, mehr Aufmerksamkeit auf Haushalt und Wellness und das Verkuppeln mit dem künftigen Traumprinzen. Auch dieses Thema wird häufig in der Popkultur verwendet, siehe zum Beispiel die Filme “Eine wie keine” oder “Plötzlich Prinzessin”.

Auch sind praktisch alle Frauen beteiligt an der grausigen Verhaltensweise, die Nachlässigkeiten oder Fehler von Männern ihren Partnerinnen zuzuschreiben. Ein Mann trägt ein ungebügeltes Hemd oder unpassende Kleidungsstücke? “Wie kannst du deinen Mann nur so auf die Straße lassen!” Das Wohnzimmer ist nicht aufgeräumt, weil der Mann am Vorabend den stereotypen Fußballabend mit Kumpels abgehalten hat? Wie kann die Frau die Wohnung nur so verkommen lassen! Wohlgemerkt, das machen nicht Männer, die ignorieren das für gewöhnlich in einer Mischung aus wohlberatener Zurückhaltung und genuiner Ignoranz. Es sind Frauen, die ihre Geschlechtsgenossinnen für das Fehlverhalten ihrer Partner und auch ihrer Kinder verantwortlich machen.

Wie auch bei der toxischen Maskulinität spielen Literatur und Film/Serien auch bei weiblichen Rollenbeschreibungen und toxischer Feminität eine große Rolle.

Hier ergibt sich nun zunächst ein Problem. Denn in den meisten Fällen, werden Männerfilme/bücher/serien, wie auch andere Dinge, eher als "das Allgemeine" angesehen, die sowohl für Männer als auch Frauen geeignet sind. Während Frauenromane oder Frauenfilme eher "das andere" sind, nämlich Dinge speziell für Frauen. Der männliche Liebesroman oder die Liebeskomödie speziell für Männer existiert, wenn überhaupt, nur in experimentellen Nischen.

Widmen wir uns zunächst den speziell weiblichen, kulturellen Einflüssen: Um ein weit zurückliegendes Beispiel anzuführen, Jane Austens Einfluss auf die romantischen Vorstellungen ist vermutlich kaum zu überschätzen. Auch männliche Autoren können sich durchaus auf Liebesromane spezialisieren, aus heutiger Zeit fällt mir als erstes Nicholas Sparks (Message in a bottle/Wie ein einziger Tag) ein.

Auch bei Fernsehserien gibt es ein spezielles "Frauenserien-Genre", in dessen Mittelpunkt fast ausschließlich Beziehungskisten stehen. Ein ganz typisches Beispiel ist "Sex and the City". Vier unterschiedliche Freundinnen in New York erleben viele Irrungen und Wirrungen in Liebesdingen und verbringen viel Zeit mit Shopping und Parties. Zwar sind alle vier auch noch berufstätig und Miranda hat sogar Mann und Kind, aber das spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ebenfalls dazu zählt "Gilmore Girls" und ich gebe zu, mit 16 habe ich die Serie unfassbar geliebt. Auch hier geht es vornehmlich um Beziehungen. Im Mittelpunkt stehen Mutter und Tochter, und wenn gerade kein Liebesdrama in Sicht ist, geht es um die Beziehung untereinander oder die Wirren zwischen Tochter, Mutter und Großeltern.

Ebenfalls beliebt ist die Variante, dass ein geheimnisvoller, gefährlicher Kerl auf eine normale Frau trifft und sich daraufhin eine höchst komplizierte Liebesgeschichte entspinnt. Manchmal handelt es sich um den Teufel höchstselbst (Lucifer) oder einen Vampir (Twilight/Vampire Diaries) oder einen normalen Mann mit einem Hang zu Sadomasochismus (50 Shades of Grey).

Die Gemeinsamkeit im Frauengenre ist, dass Beziehungen absolut im Vordergrund stehen. Meist handelt es sich um Liebesbeziehungen, die Suche nach dem richtigen Mann und wenn dieser gefunden ist, die Frage, wie man eine glückliche Beziehung führt. Wie erwähnt gerne dadurch verkompliziert, dass der männliche Love-Interest ein gefährliches Geheimnis hat. Aber auch andere Beziehungen wie zwischen guten Freundinnen oder Kinder und Eltern nehmen häufig sehr viel Raum ein. Alles in allem hat es desöfteren große Ähnlichkeit mit dauerhaften Therapiesitzungen.

Sehen wir uns dagegen allgemeine Serien oder meinetwegen Männerserien an, treten Frauen oftmals in den Hintergrund. Im Mittelpunkt stehen meist die Männer, die einer bestimmten Aufgabe oder Funktion nachgehen. Da gibt es zum Beispiel das anstrengende Superheldendasein oder die neue Karriere als Drogenproduzent, Geisterjagd, Verbrechensbekämpfung oder andere furchtbar wichtige Dinge. Die Frauen werden hier oftmals als emotionale Komponente gebraucht. Als Vertraute, mit dem sich der Held austauschen kann oder noch häufiger als Love Interest, die dann häufig in Gefahr schwebt und gerettet werden muss. Hier ist in letzter Zeit zwar einiges in Bewegung geraten, allerdings wirkt vieles noch wie eine Suche nach der "richtigen Frauenrolle". So war ich zum Beispiel sehr verblüfft, dass die Superheldinnenserie “Jessica Jones” in vielen Medien als ganz neue und feministische Antwort auf männliche Superhelden gepriesen wurde. Und die Figur ist wirklich cool und tough, aber ich persönlich war doch enttäuscht, dass es trotz allem "typisch weiblich" um viel Gefühlswirrwarr und Beziehungsdramen ging, während die männlichen Helden ohne diesen extremen Ballast eher die Welt retten dürfen.

An und für sich ist das alles natürlich überhaupt kein Problem und es hat alles seine Daseinsberechtigung. Probleme entstehen dadurch, dass popkulturelle Einflüsse unsere Vorstellungen von Rollenzuschreibungen und richtige oder falsche Verhaltensweisen weiter verfestigen, meist ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

Wie schon kurz angesprochen wurde, haben es Frauen in gewissen Dingen einfacher. So ist es für sie zum Beispiel akzeptabler, sich an männlichen Verhaltensweisen zu orientieren, ohne dass dadurch ihre Weiblichkeit in Frage gestellt wird.

Oftmals ergeben sich aber gerade bei Frauen untereinander spezielle Problemfelder, weil hier ein enormer sozialer Druck herrscht und/oder eine soziale Kontrolle stattfindet.

Ähnlich wie in der Popkultur kann es vorkommen, dass Liebesbeziehungen dramatisch überhöht werden. Ist man auf der Suche nach dem perfekten Mann, hat man ihn vielleicht schon gefunden, woher weiß man, ob es auch der richtige ist und wie gestaltet man eine Liebesbeziehung positiv und so weiter und so fort. Wenn man ein verschlossener Mensch und in Gruppen keine Beziehungsanalysen durchführen möchte, stößt man hier schnell auf Schwierigkeiten. Auf noch mehr Unverständnis kann es stoßen, wenn jemand aktuell Single ist und darin kein wirkliches Drama sieht. Besonders wenn man darin keinen unhaltbaren Zustand erkennt, dem zwingend mit Datingportalen, gutmütigen Verkupplungsversuchen oder Wochenenden auf Singleparties abgeholfen werden muss.

Damit einher geht oft ein besonderer sozialer Druck, sich durch Schickmachen oder mit gewissen haushaltlichen Grundkenntnissen sich sozusagen auf die Rolle als perfekte Partnerin vorzubereiten. Oder wenn man bereits in einer Beziehung ist, an der Rolle der perfekten Partnerin zu feilen. Dieser Grat kann durchaus schmal sein, bei zuviel des Guten gilt man andererseits auch schnell als Tussi oder Schlampe.

Ein Beispiel aus Arianes Erfahrung:
Es gibt einen Spruch, den ich immer wieder mal höre, der meiner Erfahrung nach nur bei Frauen unter sich geäußert wird und der mich regelmäßig in den Wahnsinn treibt: "Du machst ja nichts aus dir". Und damit keine Missverständnisse aufkommen: Es geht nicht darum, dass ich rumlaufe wie der letzte Schluffi. Ich dusche regelmäßig, trage angemessene, saubere Kleidung und bürste mehrmals täglich meine Haare. Es geht auch nicht darum, ob ich nun schön oder hässlich bin, sondern darum, wieviel Zeit und Energie ich darauf verwende, "etwas aus mir zu machen" Und klar, ich könnte mich der Erwartungshaltung einfach beugen und tagtäglich zwei Stunden früher aufstehen, um meine Haare einzeln mit einer Rundbürste zu föhnen, mich aufwendig schminken, 312 Schönheitsmittelchen nutzen und etwas anderes anziehen als Jeans und Shirt. Im Laufe der Zeit habe ich dabei eine interessante Entdeckung gemacht.
Oft wurde mein zeitschonendes Aussehen als tragischer Fall von Unwissenheit angesehen. Ein Problemfall, der sich doch schnell beheben lässt und ehe man sich versieht, steckt man mitten in einer Typberatung und zupfen die ersten ungefragt an den Haaren herum, um kunstvolle Frisuren auszuprobieren. Irgendwann wurde ich dann selbstbewusster und konnte die wohlmeinenden Frauen aufklären, dass es sich um keinen Bug, sondern ein Feature handelt und ich überhaupt nicht die Absicht habe, (im Alltag wohlgemerkt) mehr Zeit als bisher in mein Aussehen zu investieren.
Ein abschließender Punkt, der auch eine wichtige Rolle in der Diskussion des Artikels zur toxischen Männlichkeit spielte, ist die Frage der sexuellen Belästigung. Denn die ist auch in der toxischen Femininität immanent. Ausgehend vom selben primitiven Männerbild, das Sexualität als grundsätzlich willkommen ansieht, ist es völlig normal für Frauen, Männer an Bizeps, Bauch, Brust oder Po berühren zu können, die ihrerseits bei Berührungen ihres Po oder Brust völlig zu Recht aus dem Häuschen wären.

Am schlimmsten ist es, wenn dieses Verhalten - der andere - dann mit der Begründung “Ich darf das ich bin eine Frau"gerechtfertigt werden. Die oben angesprochene soziale Segregation feiert hier fröhliche Urständ', indem ein komplett unterschiedliches Regelset für Männer wie Frauen postuliert wird. Nur, wenn einmal etabliert ist, dass Normen und Regeln nicht für beide Seiten gelten, dann werden Männer sich entsprechend auch Sonderrechte herausnehmen. Und tun dies im Rahmen der toxischen Männlichkeit dann auch.

Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass toxische Maskulinität und toxische Femininität zwei Seiten derselben Medaille sind. Wollen wir tradierte Geschlechterrollen durchbrechen und zu einer gleichberechtigten Gesellschaft kommen, müssen beide Seiten ihre Heteronormativität durchbrechen und aufhören, sich gegenseitig in ihren schlimmsten Eigenschaften zu bestärken. Diese Arbeit wurde von Frauen zwar bereits weitreichender erledigt als von Männern, weswegen diesen gerade größere Schritte abverlangt werden müssen. Aber sie ist bei weitem noch nicht getan.