Freitag, 12. Januar 2007

Sozialdemokratie ohne Sozialdemokraten



Kaum eine andere Partei fußt derart tief in der Geschichte, kann auf eine so lange und stringente Vergangenheit zurückblicken wie die SPD. 143 Jahre ist sie jetzt alt. Im Jahre 1863 wurde ihr Vorläufer, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) von Lasalle gegründet. Der ADAV schließt sich 1875 mit der 1869 von Liebknecht und Bebel gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) zusammen. 1890, mit der Erlöschung des Sozialistengesetzes, nennt sie sich in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) um. Die SPD, wie sie im Folgenden vereinfachend auch für ihre Vorformen genannt werden soll, war dabei stets gewerkschaftsnah und marxistisch orientiert. Dies führte, unter anderem, im Kaiserreich zu den Sozialistengesetzen, die die SPD und ihre politische Organisation kriminalisierten. Die autokratische Parteiführung erreicht jedoch genau das Gegenteil des Angestrebten; die Popularität der SPD stieg unaufhörlich, und gegen Stimmen, die einen bewaffneten Einsatz gegen „die Roten“ forderten (wie Generalfeldmarschall von Weidensee) wurden die Gesetze schließlich wieder aufgehoben. In der Zeit der Illegalität hatte die Parteiorganisation einen ungemein hohen Grad der Effizienz erreicht, und die SPD war bald die mitgliederstärkste Partei in Deutschland.

Bestimmt war die SPD dabei von zwei Flügeln, dem revolutionären und dem reformistischen. Die zentrale Integrationsfigur war August Bebel, der bis zu seinem Tode 1913 den Parteivorsitz innehatte und unter dem die SPD ihr höchstes Ergebnis bis zu BRD-Zeiten von annähernd 35% erreichen sollte, mit dem sie stärkste Partei des Reichstags wurde.

Bereits zu dieser Zeit trat ein scharfer Kontrast zwischen Ideologie und Worten der SPD und ihren Taten zutage, war sie doch ideologisch noch immer auf den Marxismus festgelegt und distanzierte sich politisch von diesem. Bei Kriegsausbruch setzten sich die Reformer durch, die – unter dem Eindruck der Kriegserklärung an das verhasste zaristische Regime in Russland – den Burgfrieden durchpeitschten, dem bis auf zwei Parteimitglieder dann auch alle zustimmten. Gleichwohl, dieser hielt nicht lange. Noch im Krieg spaltete sich die SPD in die USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und die MSPD (Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands). Nach Kriegsende zerbrach eine Koalition zwischen den beiden Parteien schnell an der Frage der Niederschlagung der Aufstände; wiederum siegte der reformistische Flügel, und unter Gustav Noske verbündete sich die SPD mit den Rechtsnationalistischen Freikorps uns ließ den kommunistischen Aufstand niederschießen – eine Entscheidung, die aller Wahrscheinlichkeit nach den Bürgerkrieg verhinderte. Die USPD ihrerseits spaltete sich noch einmal, ihr Rest vereinigte sich mit der MSPD 1922 wieder zur SPD. In der Weimarer Republik beteiligte sich die SPD bis 1920 an allen Regierungen und stellte bis 1925 den Reichspräsidenten; danach ging sie in die Opposition, wo sie bis 1933 verblieb.

Ihre größte Stunde hatte die SPD dabei mit ihrem „Nein“ zum Reichsermächtigungsgesetz, das Josef Felder in seinem Buch „Warum ich Nein sagte“ äußerst bewegend beschreibt. Nachdem die Kommunisten bereits alle mundtot gemacht waren und die bürgerlichen Parteien den Mut nicht aufbrachten, sich gegen Hitler auszusprechen, war dies nur noch eine moralische Geste – eine Geste, von der die SPD noch jahrzehntelang zu Recht Stärke bezog, auch, wenn das Volk sie nie wirklich honorierte. Nach dem Krieg wurde die Hoffnung der SPD auf die Regierung abermals enttäuscht; Adenauers kapitalistischem und westgebundenem Programm wurde der Vorzug vor dem neutralistischen und marxistisch angelehnten Programm der SPD gegeben. Die Einsicht, dass man sich auch ideologisch vom Marxismus verabschieden müsse, den man längst nicht mehr betrieb, führte 1959 zum Godesberger Programm und in Folge für steigende Wahlergebnisse. 1966-1969 erstmals in der Großen Koalition mit in der Regierungsverantwortung, errang sie 1969 die Mehrheit zusammen mit der FDP und bildete die erste sozialliberale Regierung in Deutschland. Der damit verbundene Umschwung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft war die goldene Zeit der SPD. 1972 sorgten Rentenreform und Ostverträge für einen triumphalen Wahlsieg des sozialliberalen Bündnisses. Am Erfolg änderten auch Rückschläge wie der Rücktritt Willy Brandts wenig. Erst Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre, als die Hinwendung der FDP zum Wirtschaftsliberalismus immer offensichtlicher und schwerer zu überbrücken wurde, zerbrach diese Koalition, und die SPD ging für sechzehn lange Jahre in die Opposition. Mit dem Aufstieg Lafontaines und Schröders fand dabei ein Generationenwechsel statt. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang noch die Wiedervereinigung. Unter Kanzlerkandidat Lafontaine votierte die SPD seinerzeit für eine ganze Reihe Maßnahmen, die sich im Rückblick als richtig herausgestellt haben und welche die CDU aus wahltaktischen Gründen ablehnte. Gegen Ende der 1990er Jahre errang die SPD dann die Mehrheit im Bundesrat, womit der berühmt-berüchtigte „Reformstau“ ebenso seinen Anfang nahm wie die informelle Große Koalition.

Der Wahlsieg 1998 versprach einen großen Umschwung, doch nach Ende des internen Machtkampfs zwischen Schröder und Lafontaine schwenkte die SPD schnell auf eine wirtschaftsliberale Linie ein und preschte der CDU in einigen Fragen geradezu voraus (man bedenke nur den Kosovo-Krieg, vergleiche hier mit dem Essay über die Grünen). In diese Zeit fällt der rapide Verfall der Sozialdemokratie, dem sich dieses Essay widmen soll.

Die SPD war als linke Partei schon immer starken Strömungen ausgesetzt, Richtungskämpfen innerhalb der Partei. Sei es die Spaltung in USPD und MSPD im Ersten Weltkrieg, sei es der Widerstreit zwischen dem Seeheimer Kreis und den Parteilinken, deren klägliche Reste sich gerade unter Andrea Nahles zu formieren versuchen. Dementsprechend ist es schwieriger, von „der SPD“ zu sprechen, als man von „der FPD“ oder „der CDU“ sprechen kann. Noch extremer, was in einem anderen Essay zu zeigen sein wird, fällt diese Zersplitterung bei der WASG aus.

Insofern stellten die beiden Gestalten, die Helmut Schmidt und Willy Brandt in der Öffentlichkeit ab dem Ende der 1980er und dann in den 1990er Jahren als Galionsfiguren abzulösen begannen, ebenso einen programmatischen Widerspruch dar: Gerhard Schröder, Ministerpräsident von Niedersachsen, und Oskar Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlands. Oskar Lafontaine, bis wenige Jahre vor dessen Tod enger Vertrauter von Willy Brandt, vertrat dabei die klassische Linie der SPD: Politik für die sozial Schwachen, verbunden mit linker Wirtschaftspolitik. Gerhard Schröder dagegen stand eigentlich für kein wirkliches Programm. Er tat, womit man Wählerstimmen bekam. Dieses ungleiche Duo kam nach dem Absturz von Rudolf Scharping 1994 an die Spitze der SPD; Lafontaine dabei als Parteivorsitzender. Es wird wohl ewig unklar bleiben, wie die Frage nach der Kanzlerkandidatur entschieden wurde; in jedem Fall sollte Schröder sie übernehmen (eine Entscheidung, bei der vermutlich sein triumphaler Wahlsieg in Niedersachsen eine wichtige Rolle spielte, der mit teils fragwürdigen Methoden errungen worden war). Lafontaine wollte Finanzminister werden. Die Frage, warum er diesen verhältnismäßig einflusslosen Ministerposten wollte (auch wenn er ihn ähnlich Stoibers 2005 ordentlich um Kompetenzbereiche erweiterte), ist viel zu selten genauer beleuchtet worden. Lafontaine schweigt sich in seinen Büchern ebenso dazu aus. Deshalb ist es umso interessanter, dass ausgerechnet Wolfgang Schäuble in seinem Buch dazu eine Antwort gibt: Lafontaine sei ein Idealist, und er wollte etwas verändern. Dazu brauchte er den Posten des Finanzministers, da er dort seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen umsetzen könnte.

So wurde es auch gemacht. Das erste halbe Jahr setzte die SPD einen Teil ihrer Wahlversprechen um, doch Gerhard Schröder drängte bereits in eine andere Richtung: eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Unterstützt wurde er dabei von den neoliberalen Eliten der Republik, seien es die Herren der Bundesbank (mit denen Lafontaine leidenschaftliche Kämpfe ausfocht, die er samt und sonders zum Schaden der Republik verlor), die Spitzenmanager der Wirtschaft oder der in seiner Eitelkeit gekränkte Scharping. In der richtigen, demokratischen Konsequenz, dass eine Regierung mit zwei derart gegensätzlichen Meinungen nicht funktionieren könne und tief gekränkt über Schröders Wortbruch trat Lafontaine von allen Ämtern zurück. Schröder wurde Parteivorsitzender.

Unter tatkräftiger Mithilfe von Vizekanzler Fischer, der die Grünen ähnlich rigide umgestaltete wie Schröder, führten sie Deutschland und die Nato in den Kosovo-Krieg und drehten Lafontaines Wirtschaftspolitik um 180 Grad. Dessen Nachfolger Eichel sollte nun nur noch sparen, sparen, sparen. Das tat er auch, mit der Folge, dass die Wirtschaft und der Staatshaushalt immer mehr aus dem Gleichgewicht kamen – der Boom der New Economy wurde abgewürgt, bevor er richtig da war. Bereits Ende 1999 hatte die SPD die Mehrheit im Bundesrat an die Union verloren, die daraufhin den berüchtigten „Reformstau“ initiierte, der schnell in der „informellen Großen Koalition“ endete. Als Eichel kaum Erfolge vorweisen konnte, wurde er marginalisiert. Im Wahljahr 2002 sah es ganz danach aus, als ob Schröder für seinen profillosen Schlingerkurs abgestraft und Stoiber Kanzler würde.

Drei Dinge kamen ihm zu Hilfe: Stoibers unbeholfene Art, besonders im TV-Duell, die „Jahrhundert“flut und der Irakkrieg. Zusätzlich halfen natürlich strategische Schnitzer der CDU/CSU und die total verkorkste Wahlwerbung der FDP („Guido im Spaßmobil“) mit. Schröder wurde erneut Kanzler. Weniger Bedeutung, als ihm später zuzuschreiben versucht wurde, hatte dabei die Ankündigung zusammen mit Peter Hartz, dem VW-Manager, ein Programm zur Halbierung der Arbeitslosigkeit – zu der Zeit bei etwa 4 Millionen liegend – durchzuführen. Schröder kündigte an, dieses Programm „1:1“ umsetzen zu wollen, was natürlich angesichts der Unionsmehrheit im Bundesrat vollkommen utopisch war.

Mit der Regierungserklärung 2003 und der Verkündigung der „Agenda 2010“ sowie den Hartz-Gesetzen, von denen Hartz-IV nur das bekannteste ist, wurde der Richtungswandel der SPD endlich für alle auch programmatisch offenbar. Hatte Schröder sich schon immer lieber im Armani mit Managern getroffen statt Kohlekumpel zu besuchen, wurde dies nun auch in den Programmschriften der Partei deutlich. In Folge verlor die SPD massiv an Zustimmung, eine Entwicklung, die nur wegen des gleichzeitigen Vertrauensverlusts in die gesamte Politik nicht zu einem gravierenden Vorteil für die CDU umschlug.

Zu dieser Zeit begann sich Oskar Lafontaine wieder aktiv in die Politik einzumischen und wurde zur Galionsfigur der Hartz-IV-Demonstrationen. In dieser Zeit erkannte auch die PDS die Chance, die darin lag und begann mit der Vorantreibung der Schaffung eines neuen Linksbündnisses. Vermutlich hat dies in Schröders Entscheidung hineingespielt, 2005 den „Befreiungsschlag“ zu wagen, indem er unter Aushebeln des Grundgesetzes, tatkräftig unterstützt von CDU-Bundespräsident Köhler, Neuwahlen erzwang. Das Ergebnis ist bekannt; Schröder verdient indessen ein Vielfaches seines Kanzlergehalts, während Deutschland schlingernd weiter in den Abgrund treibt.

Was aber sagt uns das über die SPD? Schröders „Basta“-Politik hat sicher zahlreiche Spuren hinterlassen. Die Jusos sind ein zahnloser Tiger, die SPD-Linke marginalisiert, der Seeheimer Kreis schier übermächtig. Hoffnungsgestalten verfielen beinahe so schnell wie sie erschienen waren: Müntefering, Platzeck, Beck. Auch programmatisch entfernt sich die SPD von ihrem Anspruch als Volkspartei, auch wenn dieser rhetorisch noch immer beschworen wird. Sie ist eine Partei der Facharbeiter und höheren Angestellten geworden. Nicht nur, dass alte Grundsätze über Bord geworfen wurden: es wurden keine neuen an ihre Stelle gesetzt. Neoliberale Beliebigkeit regiert, und es besteht kaum Hoffnung, dass sich dies in näherer Zukunft ändern wird. Auch die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit hat sich drastisch gewandelt. Eine Aussage wie die Becks zu Henrico Frank wäre vor Schröder mit massiven Stimmverlusten bestraft worden. Heute stimmt die Basis nur noch ergeben zu.

Die Basis. Während ihr früher die Kraft der SPD entströmte, entströmt nun nur noch miefiger Kadergeruch. Vorschläge oder Initiativen werden von oben diktiert, diskutiert wird nicht mehr. Die einst stolze demokratische Basis, degradiert zu ewig nickenden Ja-Sagern. Kein Wunder, dass die SPD beinahe die Hälfte ihrer Mitglieder verloren hat und bald von der CDU überholt werden wird. Aber es ist ein Rennen zweier Steine im freien Fall. Und irgendwann kommt unvermeidlich der Aufschlag.

2 Kommentare:

  1. Der Erfolg von Schröder in der SPD wird ein Mysterium bleiben, denn er war nie ein Sozialdemokrat. Er war ein Emporkömmling und Emporkömmlinge sind oftmals die übelsten Charaktere, die man sich vorstellen kann. Sind sie einmal oben, verachten sie die Umstände, aus denen sie selbst kommmen. Diese Verachtung führt dann aber nicht zu einer Änderung dieser Umstände in sozialdemokratischer Manier, sondern zu Verachtung für die Betroffenen. Diese Handschrift trägt die Sozialpolitik seit Schröder: Verachtung für die Schwächsten und Abgehängten. Zu der Sozialpolitik gesellt sich eine Gesundheitspolitik, die immer mehr Lasten auf die Kranken verteilt, während Konzerne, Ärzte, Apotheker und andere Gruppen geschont werden. Mit dem neoliberalen Niedergang der SPD scheint der Bürger auch seine letzte Lobby in den Parlamenten verloren zu haben. Schröder hat das politische spektrum in Deutschland weiter nach rechts gedreht, so dass heute schon als "Linksterrorist" gilt, wenn jemand meint, dass die Menschenrechte und die Menschenwürde Vorrang vor Milliardengewinne der Konzerne und Haushaltssanierungen auf Kosten der Schwachen und Schwächsten haben sollten. Deutschland war mal ein leuchtendes Vorbild für alle Länder diese Welt. Dann brachen DDR und Ostblock zusammen und die BRD als Gegenkonzept zum Kommunismus wurde in ihrer bisherigen Form nicht mehr benötigt. Seitdem erhalten Heuschrecken und der amerikanische Raubtierkapitalismus in Europa immer mehr einzug, der Neoliberalismus prügelt gnadenlos auf die Massen ein und die verschuldeten Regierungen ziehen den Schwanz ein. Von Chavez könnten sie einiges lernen, trauen es sich aber nicht oder sind eh schon gekauft.

    Gruß

    Alex

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