Von Stefan Sasse
Dies ist der zweite Teil einer Serie zum "Supreme Court of the United States". Teil 1 findet sich hier. Darin wurde skizziert, wie der Supreme Court sich seine eigene Jurisdiktion schuf, die Frage der Sklaverei zu beantworten versuchte und in nie gekannte Tiefen abrutschte, indem er die Rassentrennung legalisierte.
Edward Douglas White |
Wer gedacht hätte, dass es danach progressiver würde und aufwärts ginge, hatte sich allerdings getäuscht. Unter Edward Douglass White fällte der Supreme Court mehrere Entscheidungen, die Arbeitsschutzregelungen einzelner Staaten kippten. Von einer Washington, D.C.-Mindestlohnregelung bis hin zu Arbeitszeitbegrenzungen in New York fielen zahlreiche zaghafte Gehversuche einer amerikanischen Sozialgesetzgebung dem Supreme Court zum Opfer. Jedes Mal wurde sie als ein unzulässiger Eingriff in die Recht der Unternehmer gesehen. Whites Nachfolger William Howard Taft (vormaliger US-Präsident) änderte an dieser Praxis wenig, hatte aber über weniger solcher Fälle zu entscheiden. Stattdessen urteilte er in mehreren Präzedenzfällen, dass die Bill of Rights auch die Einzelstaaten binde und verwarf damit eine Rechtssprechungspraxis aus der Marshall-Ära, die nur die Bundesregierung daran gebunden gesehen hatte – ein entscheidender Schritt in Richtung der wegweisenden Entscheidungen zur Stärkung der Bürgerrechte ab den 1950er Jahren, auch wenn das kaum Tafts Intention gewesen sein dürfte.
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In den 1930er Jahren blieb der Supreme Court weiterhin bei seiner Linie, Regulierungsversuchen der Bundesregierung einen Riegel vorzuschieben. Dies lag hauptsächlich an seiner klaren ideologischen Aufteilung in Liberale und Konservative nach einem bis heute wirkenden Muster. Der Gerichtshof besaß lange vier eindeutig konservative Richter (¨the four horsemen¨) und drei eindeutig liberale Richter (¨the three musketeers¨). Die verbliebenen beiden neigten zwar je einer Seite zu, stimmten aber tendenziell etwas unabhängiger ab (¨swing vote¨). Viele der konservativen Entscheidungen fielen dementsprechend 5:4. Während dies bisher keinen ernsthaften Konflikt mit der Exekutive gebracht hatte, sorgte es ab 1933 mit der Wahl des progressiven Präsidenten Franklin Roosevelt und seinem "New Deal" für einen ernsthaften und tiefgehenden Konflikt. Die weitreichenden Reformen Roosevelts, die zur Schaffung kompletter neuer Institutionen wie etwa der National Recovery Agency NRA führten, griffen stark in die etablierte Machtbalance zwischen Staaten und Bund ein. Dies provozierte den Widerstand zahlreicher Kräfte.
Poster der NRA |
Roosevelt befand sich bereits kurz nach seiner Inauguration in einem Dauerkrieg gegen den Supreme Court. Seine Maßnahmen zum New Deal wurden von den konservativen Richtern ein ums andere Mal niedergeschmettert. Besonders die NRA war davon betroffen, wurde sie doch für verfassungswidrig erklärt - Roosevelt hatte sie so eingerichtet, dass der Beitritt zu den Programmen der NRA zwar freiwillig war, die Vorteile, die damit einher gingen, aber nur bei Akzeptanz der strengen Regelungen besonders in arbeitsrechtlicher Hinsicht griffen. So mussten NRA-Mitglieder, die exklusiv an die lukrativen und in der Weltwirtschaftskrise wichtigen Regierungsaufträge kamen, beispielsweise Regelungen bei Lohn und Arbeitszeit hinnehmen. Wie bereits zu Beginn des Jahrhunderts ging das dem Supreme Court wesentlich zu weit, weil es in die Staatenrechte eingriff. Für Roosevelt usurpierte der Supreme Court damit einen politischen Gestaltungsraum für sich, der ihm nicht zustünde - eine Kritik, die seit Jefferson noch jeder Präsident vorgebracht hatte, gegen den der Supreme Court entschieden hatte.
Dies ist ohnehin ein interessanter Punkt. Die grundlegenden Argumentationslinien sowohl des Supreme Court auf der einen als auch seiner Kritiker und Befürworter auf der anderen Seite haben sich seit 1800 praktisch nicht verändert. Die Abwägung zwischen Bundes- und Staatenrecht mäanderte mal zu Gunsten des Einen, mal des Anderen. Stets wurde es auch mit den jeweiligen Trends verbunden. Konservative berufen sich auch deshalb so gerne auf die Einzelstaatenrechte, weil dieses Argument stets dem Abschmettern einer Klage dient und die meisten Klagen die Durchsetzung aktueller Trends zum Ziel haben (etwa der politischen Rechte für die ehemaligen Sklaven nach dem Bürgerkrieg). Im umgekehrten Falle, etwa bei der Beseitigung sozialstaatlicher Regeln in den Einzelstaaten, werden plötzlich Progressive zu Vorkämpfern der Staatenrechte. Auch bringt man dem Supreme Court immer dann Achtung als elementares Element der „Checks&Balances“ entgegen, wenn er in seinem Sinne entscheidet, und kritisiert seine fehlende demokratische Legitimation, wenn er das nicht tut. Geändert hat sich an diesem Muster in über 200 Jahren nichts.
Owen Roberts |
Roosevelt nun empfand seinen Konflikt mit dem Supreme Court als besonders schwerwiegend und überlegte sich Mittel und Wege, um ihn in seinem Sinne zu beeinflussen. Als normaler politischer Druck nicht zum Erfolg führte, wandte er sich dem so genannten "court packing" zu: da die Verfassung die Zahl der Richter nicht festlegt, konnte er prinzipiell einfach neue Richter ernennen und damit die Balance ändern (vorausgesetzt, der Kongress erhöhte die Zahl, aber Roosevelt hatte damals eine ihm gewogene Mehrheit). Erwartungsgemäß brach damit ein wahrer Sturm der Entrüstung los. Nicht zu Unrecht wurde Roosevelt vorgeworfen, den Supreme Court auf diese Art und Weise der Exekutive unterwerfen zu wollen. Das zeigt, dass die Institution fest verankert war - selbst Roosevelts engste Verbündete waren fassungslos, und eine darüber hinaus gehende Beschneidung des Supreme Court wäre völlig undenkbar gewesen. Der Präsident nahm auch schnell Abstand von der Idee. Das wurde ihm durch Rücktritte der alternden Richter erleichtert: bald konnte er einige ersetzen, und ab Ende der 1930er Jahre passierten die New-Deal-Maßnahmen ungehindert die zuständigen Gremien. 1945 waren acht von neun Richtern von Roosevelt ernannt. Bereits zuvor aber hatte Owen Roberts, der einzige Republikaner im Gerichtshof, die Seiten gewechselt und begonnen, mit den liberalen Richtern zu stimmen. Besonders seine Stimme gegen die Internierung japanischstämmiger Amerikaner nach Pearl Harbor („Korematsu v. United States) ist hier hervorzuheben. Die Demokraten breiteten über Roosevelts "court packing"-Plan schnell und gerne den Mantel des Vergessens.
1953 endete die Amtszeit des letzten Roosevelt-liberalen Vorsitzenden, Frederick Moore Vinson. Der neu gewählte Präsident Dwight D. Eisenhower ernannte den Gouverneur von Kalifornien, Earl Warren, zum neuen Vorsitzenden. Unter dem Warren-Gerichtshof, der bis 1969 amtierte, fielen einige der bis heute die Lage in den USA frappant beeinflussenden Entscheidungen. Die erste und gleichzeitig bekannteste ist "Brown v. Board of Education", mit der der Supreme Court die schlimmste Entscheidung seiner Existenz - "Plessy v. Ferguson" - vollständig revidierte. Das Urteil erklärte die Rassentrennung effektiv für illegal und war der juristische Startschuss für die Bürgerrechtsbewegung.
Soldaten eskortieren schwarze Schüler zur Schule |
Das war aber erst der Anfang. Der erste Verfassungszusatz, der die „freedom of speech“ garantiert und auch die Freiheit der Religion inkorporiert – der wohl wichtigste Verfassungszusatz überhaupt –, wurde vom Warren Court gänzlich neu ausgelegt. In einer Serie von Entscheidungen wurde das verbindliche Schulgebet für verfassungswidrig erklärt, ebenso die verpflichtende Bibel-Lektüre in vielen Schulen. Dadurch wurde ein Streit begonnen, der bis heute anhält und eine scharfe Trennlinie zwischen Konservativen und Liberalen zieht. Die Forderung nach einem Schulgebet ist seither im Standardrepertoire jeden Konservativen zu finden, und das Thema verfehlt seine Wirkung nicht. In Reaktion auf dieses Urteil wurde übrigens auch die Formel „under god“ in den Flaggenschwur eingefügt, die vorher noch überhaupt nicht existiert hatte („one nation, under god, indivisible…“). Auch die Verteidigung dieses Schwurs ist eine der Roten Linien der Konservativen. Es zeigt schön, dass noch jede Entscheidung des Supreme Court eine Art von Gegenbewegung hervorgerufen hat, wodurch sich im Kleinen das spiegelt, was in den USA im Großen gesamtgesellschaftlich geschieht.
Die Stärkung der Bürger- und Menschenrechte hörte aber damit nicht auf. Der Warren-Court fällte eine Reihe von Entscheidungen, die die Bindewirkung der Bill of Rights auch für die Bundesstaaten festschrieb. Darüber hinaus wurden die Rechte von Angeklagten deutlich erweitert, am berühmtesten der „Miranda v. Arizona“-Entscheidung, die jedem aus Hollywood-Filmen bekannt ist: vor einer Befragung müssen einem Beklagten seine Rechte vorgelesen werden („Sie haben das Recht zu schweigen…“). Zwar hat kaum jemand diese Entscheidung richtig verstanden (in Filmen werden die Rechte bei der Verhaftung verlesen, was Unfug ist) und in der Realität spielt die Lesung auch praktisch keine Rolle, aber das Zeichen, das damit gesetzt wurde, hat seinen Eingang in die Popkultur gefunden. Eine letzte Entscheidung von 1965, „Griswold v. Connecticut“, schuf ein gänzlich neues Recht, das besonders in den letzten Jahren die gesamte Sicherheits- und Technikdebatte beherrscht hat: das Recht auf Privatsphäre. Der Präzedenzfall von „Griswold v. Connecticut“ jedenfalls wird die Gerichte wohl auch in Zukunft noch beschäftigen, denn die Herausforderungen für die Erhaltung der Privatsphäre im Zeitalter des Internets sind mannigfaltig und noch lange nicht alle bekannt.
Warren E. Burger |
Nach Earl Warrens Rücktritt 1969 wurde Warren E. Burger der Vorsitzende des Supreme Court, der den Posten bis 1986 innehatte. In seine Amtszeit fallen drei grundlegende Entscheidungen. Die erste davon war die berühmte „Roe v. Wade“-Entscheidung 1973, die Abtreibung in bestimmten Fällen für legal erklärte – eine Regelung, die die US-Gesellschaft tiefgreifend und bis heute spaltete. Die Abtreibung war demnach unter dem Recht auf Privatsphäre einer Frau (das sich auch auf den eigenen Körper erstreckt) grundsätzlich legal, wird aber durch das Interesse des Staates, Leben zu schützen, gegenbalanciert. Der Kompromiss des Supreme Court war es, Abtreibung in der Zeit, in der das Neugeborene nicht ohne die Mutter überleben konnte (rund 24 Wochen), zu legalisieren. Viele Staaten haben bis heute noch Gesetze, die die Abtreibung illegalisieren (und die von „Roe v. Wade“ quasi nur eingefroren wurden) oder verfügen über Gesetze, die sofort in Kraft treten, sollte „Roe v. Wade“ revidiert werden. Eine wesentlich unwichtigere und schwer umstrittene Entscheidung des Burger-Courts dagegen war „Lemon v. Kurtzman“, in der versucht wurde, eine Regelung bezüglich religiöser Inhalte in öffentlichen und privaten Schulen zu finden, ohne dass die gefundene Regelung eine besonders hohe Akzeptanz besäße (der heutige Supreme Court erweckt offensiv den Eindruck, sie künftig revidieren zu wollen).
Eine gänzlich bedeutendere Entscheidung, die uns Deutschen dem Inhalt nach sehr vertraut ist, ist die Schaffung des so genannten „Miller Test“ im Zuge von „Miller v. California“. Miller war ein Porno-Händler, der gegen ein kalifornisches Urteil klagte: er habe eine Massen-Brief-Kampagne für Hardcore-Porn durchführen dürfen, weil es vom erste Verfassungszusatz – „freedom of expression“ – geschützt sei. Der Supreme Court entschied gegen Miller; „obszönes Material“ sei nicht geschützt. Im Bewusstsein darüber, dass das ein reichlich weiches Kriterium war, definierte er außerdem obszön im so genannten „Miller Test“: wenn Material 1) ein Durchschnittsmensch das Material als lüstern machend empfindet 2) offensichtlich anstößig (nach Staatenrecht) Akte der Sexualität oder Ausscheidung darstellt 3) keinen künstlerischen oder politischen Wert hat, dann ist es obszön und kann verboten werden. Die legendäre Prüderie der amerikanischen Popkultur gründet sich hauptsächlich auf diese Entscheidung, denn kaum jemand will eine Verurteilung unter diesem Gummiparagraph riskieren. Zwei weitere Entscheidungen der Burger-Ära sind noch zu nennen: „Gregg v. Georgia“, in der 1976 die 1972 gefallene Entscheidung für ein generelles Moratorium auf die Todesstrafe aufgehoben wurde – und die Todesstrafe damit erneut legal war , vorausgesetzt, bestimmte Kriterien wurden eingehalten – und „United States v. Nixon“ 1974, eine Entscheidung über die Watergate-Affäre, in der in aller Deutlichkeit festgehalten wurde, dass niemand, auch der Präsident nicht, über dem Gesetz steht und alleine die Gerichte verfassungsrechtliche Fragen entscheiden.
Weiter geht's in Teil 3.
Bildnachweise:
White - Frances Benjamin Jonston (gemeinfrei)
NRA - NRA (gemeinfrei)
Owen Roberts - Alfred Jonniaux (gemeinfrei)
Little Rock High School - US Army (gemeinfrei)
Warren Burger - SCOTUS (gemeinfrei)
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