In den letzten beiden Teilen haben wir diskutiert, wie Regierung in die Wahl ihrer Bürger eingreifen kann, um ihre Ziele zu erreichen. Die starken Reaktionen, die dies hervorrief, sind verständlich. Niemand mag es, wenn einem die Entscheidung über Dinge abgenommen wird, die man eigentlich selbst entscheiden möchte - das Essen in der Kantine (Stichwort Veggie-Day), die Art des zu kaufenden Autos, den Stromanbieter, die sexuelle Orientierung, das Freizeitverhalten, die Ausübung der Religion und vieles mehr. Jan Falk beschrieb in seiner Verteidigung des grünen Nanny-States, dass es notwendig sein kann, bestimmte Einschränkungen vorzugeben um die Freiheit als Ganzes zu erhalten: In einer ökologisch verheerten Welt bleiben wenige Freiheiten übrig. Abseits dieser dramatischen Fallstudie ist die Regulierung durch die Regierung aber auch nicht zwingend ein Eingriff in die Wahlfreiheit, wie Cass Sunstein in seinem Buch "Simpler - The Future of Government" beschreibt. Zentral hierfür ist das Konzept des "Nudge", das sich in etwa als "Ellenbogenstupser" übersetzen ließe - ein kleiner, freundlicher Stoß in die richtige Richtung.
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Sunstein stellt ebenfalls die Wahlfreiheit des Bürgers ins Zentrum seiner Überlegungen. Im Gegensatz etwa zur elitären Technokratenvariante à la Bloomberg - Stichwort Verbot übergroßer Limonadenbecher - will er die Wahlfreiheit unter allen Umständen erhalten. Er unterscheidet zu diesem Zweck eine Reihe von Nudges, von denen besonders zwei Varianten für uns relevant sind. Die eine davon ist was ich "Informations-Nudge" nennen würde, das deutliche Hervorheben von Informationen, die eine echte, freie Entscheidung überhaupt erst möglich machen und die in den USA bereits deutlich verbreiteter sind als hierzulande, und die "Standard-Nudges", die dem Deutschen bekannter Alltag sein dürften, die in den USA aber geradezu revolutionär sind. Relevant werden sie für uns hauptsächlich wegen Sunsteins Gewichtung auf dem so genannten "Opt-out", also der Möglichkeit, jederzeit eine andere Wahl zu treffen. Diese Option ist in Deutschland nicht sonderlich weit verbreitet.
Beginnen wir mit den Informations-Nudges. In der Diskussion hierzulande am Bekanntesten wäre die Debatte um die Kennzeichnung der "Gesundheit" von Lebensmitteln mittels einer Ampel, die durch vereinte Lobbyarbeit der Lebensmittelindustrie in Brüssel bislang verhindert werden konnte und durch detaillierte Nährwertangaben auf den Packungen ersetzt wurde. Sunstein bringt als Beispiel die Kennzeichnung von Autos in den USA, die sein Ministerium durchsetzte, die mittlerweile die Energieeffizienz deutlich kennzeichnen müssen. Woraus besteht der Nudge im konkreten Fall?
In jedem der beschriebenen Beispiele werden die Hersteller gezwungen, dem potenziellen Käufer bestimmte Informationen zu geben, die für eine informierte Kaufentscheidung elementar sind. Will ich etwa wissen, ob eine als "light" bepriesene Packung Chips tatsächlich weniger Kalorien hat als die normale Variante, bin ich auf vereinheitlichte Herstellerangaben angewiesen. Dasselbe gilt für die mittlerweile verpflichtende Preiskennzeichnung von einheitlichen Mengenangaben im Supermarkt (z.B. der Liter-Preis zum Vergleich von Getränken). Ohne diese Informationen ist der Vergleich nur mit so hohem Aufwand möglich, dass ihn realistisch praktisch niemand macht. Der Widerstand der Industrie gegen all diese Kennzeichnungen zeigt deutlich, dass genau dieser Effekt erreicht wird. Denn nichts ist den Verkäufern so sehr ein Graus wie ein Verbraucher, der auf einen Blick die Nachteile eines Produkts erkennt - verständlicherweise.
Die Wahlfreiheit wird durch solche Information-Nudges also erst geschaffen. Freilich gehen damit ernste Nachteile einher. Wenn eine staatliche Behörde die Art der Kennzeichnung festlegt, kann es als gegeben angenommen werden, dass sie weniger vom Thema versteht als die jeweiligen Hersteller (schließlich legt sie ja für alle möglichen Branchen etwas fest). Sunstein beschreibt dieses Problem ausführlich und führt als einzige Lösung die enge Zusammenarbeit mit den jeweiligen Lobbyorganisationen an. Die regulierende Behörde muss den Bedenkenträgern der Industrie Gehör schenken und entsprechend Gewicht einräumen, oder die entstehenden Lösungen werden den gewünschten Effekt nicht haben, weil unvorhergesehene Probleme auftauchen. Die Lebensmittelampel taugt hier wieder als Beispiel: so erhält etwa biologisches Olivenöl wegen des hohen Fettanteils die rote Ampel, was natürlich so nicht im Sinne des Erfinders sein kann.
Grundsätzlich aber erhält der Information-Nudge die Wahlfreiheit des Konsumenten. Das Wissen um die schlechte Treibstoffeffizienz des SUV muss mich nicht vom Kauf abhalten, genausowenig das Wissen um den hohen Fettanteil in der Chipspackung. Da das Problem vielen Menschen aber überhaupt nicht richtig bewusst ist, führt eine solche Kennzeichnung in der Realität zu mehr Freiheit - nämlich der Freiheit, eine informierte, rationale Entscheidung zu treffen, anstatt mich zum Sklaven meines Bauchgefühls zu machen oder die Verwendung eines Taschenrechners vor dem Supermarktregal zu erzwingen.
Die andere Art von Nudge, der Standard-Nudge, ist in Deutschland bereits seit Bismarcks Zeiten erprobt, zieht jedoch immer wieder den Zorn von "echten" Liberalen auf sich. Diese Art von Nudge setzt für die Bürger eine bestimmte Wahl als Standard fest. Ein Beispiel hierfür ist das Einbehalten der Einkommenssteuer vom Lohn, anstatt jeden Monat die Steuer von Hand bezahlen zu müssen. Ein anderes Beispiel ist die allgemeine Versicherungspflicht in den Sozialversicherungen.
Klar, dass eine solche Festlegung für die Amerikaner ein grundsätzliches Problem darstellt. Zwar haben sie sich in den letzten Dekaden daran gewöhnt, dass die Einkommenssteuern direkt einbehalten werden (es ist noch nicht so lange her, dass die Steuern monatlich bezahlt werden mussten, mit allen Problemen, die das mit sich bringt), aber der Widerstand gegen Obamacare oder die geringe Verbreitung von Rentenversicherungen zeigt die Probleme, mit denen die US-Mentalität die Regulierer beschäftigt. Sunstein verweist deswegen auch auf die hohe Bedeutung des Opt-out: Egal, was der Staat als Standard festlegt - es muss eine einfache ("Simpler", wir erinnern uns) Möglichkeit geben, eine andere Wahl zu treffen, und es muss überhaupt eine Wahl geben. Eines seiner Beispiele ist die Möglichkeit, in einen Pensionsfond einzubezahlen: Staaten, die diese Option zum Standard erklären (inklusive automatischem Einbehalten des entsprechenden Gehaltsanteils) haben eine Beteiligung von rund 80-90% an diesen Plänen; in Staaten, in denen die Bürger einen Opt-in vornehmen müssen, also sich bewusst anmelden, liegt die Quote um die 20%.
Der Grund hierfür kann nicht in der generellen Ablehnung oder Akzeptanz von Pensionsfonds liegen, dafür ist die Diskrepanz zwischen häufig benachbarten Bundesstaaten viel zu groß. Stattdessen ist es ein reines Bequemlichkeitsproblem. Die Privatwirtschaft hat das längst erkannt. Nicht ohne Grund ist es unheimlich einfach, ein Abo abzuschließen, aber sehr aufwändig, dieses wieder zu kündigen, und nicht ohne Grund verlängern sich Abonnements automatisch.
In Deutschland freilich ist der Opt-out besonders bei den Sozialversicherungen (mit der Ausnahme der Krankenversicherung) nicht gegeben. Möglich sind stattdessen vor allem Zusatzversicherungen. An dieser Stelle zeigt sich aber auch eine deutliche Grenze von Sunsteins Konzept, die auch bei den Verwerfungen durch die Obamacare- Einführung offenbar wird. Bestimmte Produkte verlieren an volkswirtschaftlichem Wert, wenn es viele konkurrierende Anbieter gibt. Dies ist bei dem deutschen Krankenversicherungssystem hervorragend zu beobachten, und das amerikanische kämpft seit Beginn der Obamacare-Gesetzgebung damit: Ohne eine Verpflichtung der Versicherer, jeden aufzunehmen und die Kosten solidarisch umzulegen, ist das System nicht vorstellbar. Wenn die Krankenversicherungen wie noch vor kurzem in Deutschland Rosinen picken dürfen, dann wird das gesetzliche System über die Gebühr belastet und kann dementsprechend nur schlechtere Leistungen bieten, die umso mehr "Rosinen" in die Privaten treibt - ein Teufelskreis, den die Republicans in den USA seit Jahren an die Wand malen und den sie mit aller Macht herbeizuführen versuchen. Immer ist ein Opt-out also keine gute Wahl.
Trotz dieser Nachteile erweisen sich die Nudges in vielen Bereichen als hervorragendes Instrument der Regilierung. Sie beeinflussen die Wahlfreiheit des Bürgers nur eingeschränkt, weil sie zwar eine Wahl befürworten, aber die andere nicht ausschließen, und stellen in vielen Fällen Wahlfreiheit erst her. Vermutlich hätten die Grünen mit ihrem Veggie-Day kein solches Waterloo erlebt, wenn sie einen Opt-Out angeboten hätten: Das Standard-Menü am Veggie-Day ist vegetarisch, aber selbstverständlich kann man trotzdem Fleisch bestellen. Vermutlich hätten viele Angestellte des Öffentlichen Dienstes schon aus reiner Bequemlichkeit einfach einmal das vegetarische Gericht probiert. Nicht nur die Grünen sollten daher gut überlegen, ob sie sich in Zukunft nicht lieber auf Nudges statt auf eindeutige Verbote stützen wollen - Nudges lassen den Bürgern mehr Freiheiten, fallen weniger auf und lassen sich auch viel leichter revidieren. Ihre Vorteile überwiegen die wenigen Nachteile bei weitem.
In der nächsten Folge des Online-Seminars: Ist die Wahlfreiheit vielleicht nur eine Illusion? Das Phänomen der Scarcity.
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