Niemand mag komplexe Antragsformulare. Wer jemals über einer Steuererklärung oder einem Hartz-IV-Antrag gesessen hat, wird eine tief sitzende Abneigung gegen diese Art von bedrucktem Papier entwickeln. Viel mehr Begeisterung dürfte auch der Adressat als Sachbearbeitender der entsprechenden Behörde kaum aufbringen; zumindest hat man bislang selten von Antrag-Fanclubs gehört. Aber abgesehen von dem Aufwand, den die Papiere produzieren – warum sollte man viel Aufwand darauf verwenden, sie einfacher zu gestalten? Kann man von jemandem, der gerne Bafög oder ein Stipendium haben möchte nicht erwarten, dass man sich ein bisschen reinhängt? Cass Sunstein gibt darauf in „Simpler – The Future of Government“ eine verblüffende Antwort.
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Die Sprengkraft dieses Themas ist nichts, was sich dem Lesenden auf den ersten Blick erschließen würde. Klar wäre es schön, wenn der Kram einfacher wäre, aber sollte die Regierung ihre Zeit nicht im Zweifel mit dem Kampf für eine Erhöhung des Bafög verwenden als mit dem Vereinfachen der Antragsformulare? Tatsächlich nein.
Um zu erklären warum, muss man etwas weiter ausholen. Sunstein selbst nennt hauptsächlich den Aufnahmeprozess bei den Elitecolleges wie Harvard oder Yale als Beispiel, aber wir werden später sehen, dass die Problematik tiefer greift. Untersuchungen haben laut Sunstein gezeigt, dass arme potenzielle Studierende schlechtere College-Entscheidungen treffen – sie besuchen häufig sogar Colleges, die teurer sind als ihnen ebenso offenstehende, bessere und günstigere Alternativen. Warum passiert das?
Die Antwort ist, der Lesende wird es erraten haben, besteht in der Komplexität und Kompliziertheit der verschiedenen Aufnahmeprozesse: einmal der des Colleges selbst und einmal der Dschungel der staatlichen Förderungen, die in den USA natürlich höchst kompliziert und verästelt und auf viele verschiedene teils staatliche, teils private Schultern verteilt sind – dem tief sitzenden Misstrauen vor staatlichen Institutionen sei Dank. Diese Komplexität hält viele ärmere Menschen davon ab, sich überhaupt zu bewerben, obwohl sie gute Chancen hätten. Gleichzeitig können reichere Menschen leichter Zugang finden, weil sie sich natürlicher durch den Dschungel dieser Dokumente bewegen (oder alternativ den Steuerberater beauftragen). Selbst wenn sich ärmere Menschen diesem Papierwust stellen, treffen sie schlechtere Entscheidungen als reiche.
An dieser Stelle müssen wir einen kurzen Exkurs machen: treffen Arme schlechte Entscheidungen, weil sie arm sind, oder sind sie arm, weil sie schlechte Entscheidungen treffen? Die Intuition sagt letzteres, und der öffentliche Diskurs ist komplett von dieser Vorstellung geprägt. Ganze Politiken wie „Fördern und Fordern“ beruhen auf dieser Vorstellung. Tatsächlich aber, so haben neuere Forschungen ergeben, ist sie falsch. Arme Menschen treffen konstant schlechtere Entscheidungen über ihre eigene Zukunft, weil sie an einer Art „Entscheidungsmüdigkeit“ leiden.
Damit sind wir wieder bei Sunstein, der das gleiche Fakt anerkennt. Er bringt es auf eine einfache Formel: Wenn jemand keine Entscheidungen trifft und einfach wie auf Autopilot weitermacht ohne seine Situation zu verschlechtern, so ist man wohlhabend. Wenn man keine Entscheidungen trifft und sich die eigene Lebenssituation dadurch drastisch verschlechtert, ist man arm. Daraus lassen sich zwei elementar wichtige Schlüsse ziehen, die Sunstein so auch nachvollzieht. Einerseits bedeutet dies, dass das komplette Geschwätz, Armut sei eine Folge von Verantwortungslosigkeit, Unsinn ist.
Tatsächlich tragen Arme viel mehr Verantwortung als Reiche, weil sie auf einer unglaublich niederschwelligen Ebene Entscheidungen treffen müssen (in Entwicklungsländern fängt das schon mit so profanen Problemen wie dem Gewinnen sauberen Trinkwassers an). Andererseits bedeutet das, dass unsere komplette Gesellschaft, unser komplettes System, auf wohlhabende Menschen hin zugeschnitten ist.
Ein einfaches Beispiel für diese Problematik stellt der Einkauf von Gütern des täglichen Bedarfs dar. Wenn jemand arm ist, muss man sich bei jedem Gegenstand Gedanken machen und eine Entscheidung treffen: kann ich mir das leisten oder nicht? Gibt es günstigere Alternativen? Habe ich am Ende des Monats überhaupt noch genug Geld? In der Theorie sind diese Entscheidungen vergleichsweise simpel, in der Praxis aber drängen sie sich so in den Vordergrund (wo wir sie meist nonchalant als „Geldsorgen“ bezeichnen), dass sie alles andere überlagern, ganz bestimmt aber langfristige Zukunftsplanung.
Wer sich Gedanken um sein Überleben von Tag zu Tag machen muss (wie in zahlreichen Entwicklungsländern) bzw. darum, ob das Geld den Monat über für Miete, Energie und Essen reicht (wie für relativ Arme in wohlhabenden Ländern) macht sich wenig Gedanken um neue Anbaustrategien oder effizientere Geldverwaltung. Das ist ein krasses Paradox, denn gerade diese Menschen hätten es ja am Nötigsten!
Die Vereinfachung aller Interaktion mit Regierungsstellen ist daher ein Anliegen, das deutlich über das temporäre Wohlbefinden eines Antragstellers hinausreicht. Die oben erwähnte Studie hat herausgefunden, dass eine simple, bedingungslose Finanzspritze für arme Menschen positive Effekte hat, die im Extremfall noch vier Jahre später messbar waren (im ruralen Südindien, zugegeben, aber vorhanden ist der Effekt immer). Auch dies ist gegenläufig zu jeder Intuition. Einem Armen einfach Geld geben, ohne jede Auflage? Wie sollen Arme denn dann jemals Verantwortung lernen? Diese Fragestellung ist zentral für die Sozialpolitik jeden Staates.
Wenn sich die von Sunstein und Yglesias beschriebenen Phänomene in Folgestudien belegen lassen, würde dies eine Erfordernis für einen gigantischen Paradigmenwechsel in praktisch jedem Politikfeld bedeuten. Die Implikationen eines scheinbar so simplen Ansinnens wie der Vereinfachung von Interaktion mit Regierungsstellen sind atemberaubend.
In der nächsten Folge des Online-Seminars: Wenn zu viele Entscheidungen schädlich sind - soll das heißen, dass die Regierung für die Menschen entscheiden soll?
„Simpler – The Future of Government“ ist bei Amazon gedruckt oder als eBook erhältlich und kostet 19,99 bzw. 9,99 Euro.
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