Donnerstag, 20. Februar 2014

Wie funktioniert eigentlich modernern Unterricht? Ein Fallbeispiel

Man merkt der Debatte um Bildungspolitik häufig an, dass viele ihrer Teilnehmer nur wenig von dem Gegenstand verstehen, über den sie diskutieren. Spötter könnten nun anmerken, dass dies doch wohl auf jede Debatte zutreffe, doch leidet die Bildungspolitik unter einem ganz spezifischen Problem: jeder hält sich für einen ausgewiesenen Experten, nur weil man schon einmal eine Schule besucht hat. Das allerdings hat sie mit der Fußball-Bundesliga gemeinsam. Um das Bild etwas aufzuhellen und hoffentlich mit einigen Vorurteilen aufzuräumen, möchte ich hier exemplarisch darstellen, wie der moderne Unterricht nach den Bildungsplänen eigentlich aussieht. Von dem, den die geneigten Leser selbst erlebt haben, dürfte er nämlich bereits einigermaßen weit entfernt sein.

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Die Bildungspläne lösten in Baden-Württemberg 2004 die Lehrpläne ab. Basierten die Lehrpläne noch auf der Idee, dass eine bestimme Menge Stoff vermittelt (gelehrt) werden müsse, so gehen die Bildungspläne anders vor: ihnen geht es vor allem um den Erwerb von Kompetenzen. An Stoff definieren sie ein Grundgerüst, quasi den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das sind die zentralen Fakten, das "Allgemeinwissen". In der Praxis sieht das dann so aus (Beispiel Geschichtsunterricht Oberstufe):
2. DEUTSCHLAND IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN DEMOKRATIE UND DIKTATUR Die Schülerinnen und Schüler können - die Kräfte und Gegenkräfte im Ringen um Verfassungsstaat, demokratische Partizipation und nationale Einigung untersuchen und an ausgewählten Beispielen zentrale Elemente der politischen Systeme zwischen 1848 und 1933 herausarbeiten; - Zielsetzungen und Scheitern der Revolution von 1848/49 erörtern und deren Folgen und Auswirkungen beurteilen; - die Bedingungen der Reichsgründung sowie deren Folgen für Politik und Gesellschaft im Kaiserreich erläutern und erörtern; - innen- und außenpolitische Belastungsfaktoren der Weimarer Republik erläutern sowie daraus die Bedingungen für Machtübertragung und „Gleichschaltung“ ableiten; - Ideologie und Kennzeichen der totalitären NS-Herrschaft erläutern und den Völkermord an Juden, Sinti und Roma sowie die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs als Folge dieses ideologischen und machtpolitischen Systems erkennen; - den Begriff Faschismus diskutieren und das NS-System mit anderen faschistischen Staaten in Europa vergleichen; - Ausmaß und Formen von Akzeptanz und Widerstand in der Bevölkerung erörtern und beurteilen; - die nationalsozialistische Vergangenheit beurteilen und ein Bewusstsein für die historische Verantwortung entwickeln, die sich aus der NS-Vergangenheit ergibt. Daten und Begriffe 1848 Märzrevolution; Nationalversammlung in der Paulskirche; 1871 Gründung des Kaiserreichs; 1919 Weimarer Verfassung; ab 1930 Präsidialkabinette; 30.1.1933 Machtübertragung; 23.3.1933 Ermächtigungsgesetz; 9.11.1938 Novemberpogrom; 1.9.1939 Angriff auf Polen; 1942 Wannseekonferenz; Liberale; Demokraten; Konstitutionelle Monarchie; Obrigkeitsstaat; Weltwirtschaftskrise; Antisemitismus; Rassenlehre; „Gleichschaltung“; Konzentrationslager; Holocaust
Stoff für ca. ein dreiviertel Jahr Geschichtsunterricht. Man beachte hier die so genannten "Operatoren" ("erörtern", "beurteilen", etc.): hierbei handelt es sich um die Kompetenzen. Es geht eben nicht nur darum, den Stoff zu kennen (reine Stoffkenntnis ist für die unter "Daten und Begriffe" genannten Fakten vorgeschrieben), sondern die so gewonnenen Erkenntnisse auch anzuwenden. Es ist effektiv das, was man im Studium macht - nur wird es inzwischen bereits in der Schule eintrainiert. Die Bildung ist kein Wert an sich, sondern wird weiter benutzt. Jahreszahlen werden erlernt, sowie sie als Rahmen unverzichtbar sind. Alles weitere ist optional. Der hier aufgeführte Stoff mag manchen stutzig machen. Die Weimarer Republik auf ihr Scheitern und die Verfassung sowien die Präsidialkabinette reduzieren? Wie kann das angehen? Die Antwort ist simpel: gar nicht. Die Bildungspläne sind, wie bereits gesagt, der Minimalkonsens. Sie umfassen etwa zwei Drittel der Zeit eines Schuljahres. Der Rest wird von den Schulen beziehungsweise den Fachlehrern individuell gefüllt. Da diese ausgebildete Historiker sind, wird von ihnen auch verlangt, die Entscheidung darüber eigenverantwortlich auf wissenschaftlicher Grundlage treffen zu können. Es ist immer eine Entscheidung, was man nicht macht - denn die Zeit reicht schlicht nicht für alles. Hier setzen Lehrer individuelle Schwerpunkte. In unserem Fallbeispiel soll es um eine Unterrichtsstunde zur Hyperinflation 1923 gehen. Diese kommt im Bildungsplan nicht explizit vor, ist jedoch nach meinem Dafürhalten nicht nur für das Verständnis der Weimarer Republik (Stichwort "innenpolitische Belastungsfaktoren") absolut notwendig. Darüber hinaus gehört sie zu den am häufigsten und schwerwiegendsten falsch verstandenen Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte, die im tagesaktuellen politischen Diskurs ständig bemüht wird. Die drei anderen großen Krisen des Jahres 1923 - Hitlerputsch, Rheinlandseparatismus und Ruhrkampf - werden nur soweit erforderlich kurz angesprochen, jedoch nicht tiefgehend erarbeitet. Erneut: diese Entscheidung obliegt mir. Ich könnte genausogut die Hyperinflation nur am Rande behandeln (oder gar nicht) und stattdessen eine detaillierte Rekonstruktion des Hitler-Putsches mit den Schülern vornehmen. Die nun anstehende Entscheidung ist die der so genannten Stundenziele. Schüler merken sich niemals alles; ich muss also eine klare Priorität haben, ein Ziel, auf das die Stunde herauslaufen soll. Diesen Kerninhalt sollen die Schüler grundsätzlich auch nach der Schule noch kennen; den Rest können sie nötigenfalls vergessen (und werden es auch, das menschliche Hirn arbeitet so). Meine Entscheidung ist, dass die Ursachen der Hyperinflation besonders wichtig sind. Es muss klar werden, dass nicht jede Inflation dasselbe ist. Im Fall Weimars bedeutet das eine politisch gewollte Spirale galoppierender Inflation mit dem bewussten Ziel einer Beinahe-Ruinierung der deutschen Wirtschaft, um außenpolitische Vorteile bei den Reparationsverhandlungen zu gewinnen, den Ruhrkampf bezahlen zu können und die Kriegsschulen loszuwerden. Um die Schüler zu motivieren, soll der Unterricht in den Bildungsplänen nach Möglichkeit unter einer so genannten "Problematisierung" stehen. Das bedeutet, dass die Schüler ein Problem herausfinden und dieses dann lösen. Die didaktische Theorie geht davon aus, dass dies die Schüler stärker motiviert als das gängige Vorgeben durch den Lehrer; sie werden quasi als Forscher aktiv. Meine Fragestellung, die den "Roten Faden" der Stunde bietet, lautet: "Die Hyperinflation 1923 - ein Produkt des Krieges?" Die Lösung dieser Fragestellung erfordert ein genaues Verständnis der Ursachen. Es liegt in der Natur der Gesellschaftswissenschaften, dass die Antworten auf diese Fragen häufig ambivalent ausfallen und einen Bewertungsakt durch den Schüler erfordern. Es gibt also in diesem Sinne keine "richtige" Lösung. Die Schüler können zu einem Ja, einem Nein oder einem Teils-Teils kommen und das Stundenziel trotzdem erreichen. Entscheidend ist, dass sie diese Entscheidung begründen können. Das ist der Kerngedanke der Kompetenz: die Fakten nicht auf dem Präsentierteller zu bekommen, sondern Zusammenhänge zu erarbeiten und in einen Zusammenhang zu stellen. Jede Stunde beginnt dabei mit dem so genannten "Einstieg". Er hat die Funktion, die Schüler zu motivieren und in vielen Fällen die Fragestellung der Stunde zu erarbeiten. Idealerweise nimmt er Bezug auf die Lebenswelt der Schüler; das ist aber nicht immer möglich (wie in diesem Fall), besonders, wenn es sich um abstrakte Themen handelt. Gerade ethisch oder tagespolitisch relevante Themen bieten sich hier deutlich mehr an (Menschenwürde anhand Dschungelcamp, beispielsweise, oder Medienmechanismen anhand des Wulff-Rücktritts). Im konkreten Fall dieser Stunde präsentierte ich eine reichlich nüchterne Statistik über den Geldwert von 1914 bis 1923 mit der Frage, was auffällt. Zu erkennen sind dabei zwei Dinge: eine bereits 1914-1918 einsetzende massive Inflation, die Vermögen um rund 50% entwertet hat, ein Fortschreiten zu einem Wertverlust von rund 98% bis 1922 und dann die eigentliche Hyperinflation 1923. Zu diesem Zeitpunkt sollten sich die Schüler fragen, was hier los ist (und tun dies auch). Da nicht erwartet werden kann, dass die ökonomischen Hintergründe jedem Schüler geläufig sind, folgt nun eine kurze Erläuterung durch den Lehrer (der so genannte "Lehrervortrag", gerne "Frontalunterricht" genannt), in dem Inflation als Phänomen erklärt wird, so dass alle auf dem gleichen Stand sind und die erforderlichen Kenntnisse besitzen. Erneut werden Fakten nicht zum Selbstzweck erläutert, sondern um sie konkret anzuwenden. Daraufhin folgt das Herzstück der Stunde: die so genannte "Erarbeitungsphase". In dieser Phase arbeiten die Schüler selbstständig mit vorgegebenem Arbeitsmaterial. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Mischung aus Quellenauszügen und Sekundärliteratur. Die Klasse wird dazu in zwei Gruppen geteilt: jeweils ein Sitznachbar erhält Texte und Quellen zur Inflation von 1914-1922, der andere Nachbar solche zur Hyperinflation 1923. Der Hintergedanke ist der, dass beide Phänomene jeweils unterschiedliche Ursachen haben (einmal die Substituierung fehlender Finanzmittel zur Kriegsfinanzierung mit der Notenpresse und das andere Mal die Finanzierung des Ruhrkampfs, ebenfalls mit der Notenpresse) und daher unabhängig betrachtet werden können. Nachdem die Aufgaben bearbeitet wurden, erklären sich die Schüler die Ergebnisse gegenseitig und übertragen sie in ein vorgefertigtes Arbeitsblatt. Dadurch trainieren sie gleich mehrere Kompetenzen: sie lernen vernünftig erklären und angemessen formulieren (sie müssen den Aufschrieb ja später noch verstehen, wenn die Klausur geschrieben wird). Gleichzeitig zwingt die Verantwortung für den Nachbarn (der ja richtige Ergebnisse braucht) zum sorgfältigen Arbeiten, anstatt sich auf den Erklärbär am Pult zu verlassen. Nachdem die Geschehnisse so verstanden wurden, braucht es die Bewertung: war die Hyperinflation nun ein Produkt des Krieges oder hatte sie andere Ursachen? Es ist zu erwarten, dass die Schüler zu einem Sowohl-als-auch tendieren: die Kriegsfinanzierung bereitete den Boden, aber erst die politisch forcierte Finanzierung des Ruhrkampfs führte zu der absurden Hyperinflation, die noch heute das Gedächtnis der Deutschen bestimmt. Diese Ergebnisse werden im so genannten "Lehrer-Schüler-Gespräch" gesammelt und geklärt - das klassisch Strecken, aufgerufen werden, gegebenenfalls korrigieren. Damit ist die Stunde kurz vor ihrem Abschluss. Was jetzt noch fehlt ist die typische Frage vieler Menschen, wenn sie mit Geschichte konfrontiert sind: "Wozu müssen wir das denn eigentlich wissen?" Das bedeutet: es braucht einen Bezug zur eigenen Lebenswirklichkeit. Diese Schlussphase einer jeden Stunde nennt sich der "Transfer". Im vorliegenden Fall wurde dieser mit einer BILD-Schlagzeile anlässlich der Erhöhung der Inflationserwartung der EZB von 2% auf 2,1% ("Inflationsalarm: Regierung weicht Euro auf!"). Die Schüler erkennen dabei schnell, dass es sich um einen vergleichsweise geringen Anstieg handelt. Die heftige Reaktion mit der Befürchtung auf eine schnell weiter steigende Inflation ("slippery slope") können sie nun aus den gewonnen Erkenntnissen der Stunde erklären. Sie verstehen damit auch etwas besser, wie historische Ereignisse durch die Generationen tradiert werde und noch heute unser Leben bestimmen. Sie können damit ihren eigenen Ort in der Gegenwart in einem historischen Kontext sehen - das genuine Ziel des Geschichtsunterrichts. --- Damit ist die Stunde abgeschlossen. Ich habe sie tatsächlich so gehalten; es war meine Lehrprobenstunde im Fach Geschichte. Ich hoffe, dass die detaillierte Erklärung der Vorgänge etwas besser deutlich gemacht hat, worum es den Bildungsplänen geht und dass diese mitnichten eine Nivellierung zugunsten der Mittelmäßigkeit anstreben und das Faktenwissen zugunsten nebulöser Kompetenzbegriffe vernebeln. Wenn überhaupt ist der Unterricht vielmehr wesentlich anspruchsvoller geworden. Ein reines Wegdämmern während eines endlosen Lehrervortrags und späteres Bulimie-Lernen für die Klausur ist nicht mehr möglich, denn die Kompetenzen werden ja auch in den Klausuren abgefragt. Würde ich in der Klausur eine Aufgabe wie "Erörtere Gründe für den Untergang der Weimarer Republik" stellen (was ich getan habe), so müssen die Schüler auch hier eigenständig entscheiden, welche Gründe sie als ausschlaggebend empfinden und diese entsprechend bewerten. Ein reines Erklären reicht dafür nicht aus. Selbstverständlich ist es in der Realität des Schulalltags nicht immer möglich, solche perfekten Stunden zu gestalten. Weder bietet sich jedes Thema dafür an, noch haben Lehrer dazu die nötige Zeit. Eine Lehrprobenstunde wie diese wird drei bis vier Tage lang vorbereitet (und man macht an diesen drei bis vier Tagen sonst fast nichts anderes), ein Luxus, den man sich später nicht mehr leisten kann. Als Ideal, nach dem man strebt, ist es jedoch allemal das Richtige. Für Interessierte gibt es den kompletten Lehrprobenentwurf mitsamt den verwendeten Arbeitsblättern, Materialien und der Analyse hier zum Download.

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