Sonntag, 6. Mai 2018

Wenn Weimar Manfred Spitzer abgeschoben hätte, hätten wir heute ein besseres Steuersystem - Vermischtes 06.05.2018

Im Folgenden finden sich einige interessante Artikel über die ich in letzter Zeit gestoßen bin sowie einige Anmerkungen dazu. Zur besseren Bezugnahme in den Kommentaren sind die Artikel durchnummeriert. Der jeweilige Kommentar von mir setzt voraus, dass die verlinkten Artikel gelesen wurden. Ich habe zum zweiten Mal experimentell noch Zitate aus den verlinkten Artikeln eingebaut. Gebt mir Rückmeldung, wie ihr das findet. Die Überschrift ist ein reißerisches Potpourri aus den einzelnen Artikeln und macht so natürlich keinen Sinn.

1) Interview mit dem Historiker Paul Nolte: "Wir haben Verschwörungstheorien zu lange wuchern lassen"
SZ: CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt forderte vor einiger Zeit eine "konservative Revolution". Können Sie erklären, welchen historischen Bezug er damit herstellen will? Paul Nolte: Das kann man vielleicht historisch erklären, aber kaum politisch verstehen. Der Begriff trägt keine Problemlösung in sich, aber er schillert und provoziert - das ist ja auch seine Absicht. Als Reizwort, das in den zwanziger Jahren in der Weimarer Republik entstand und in den fünfziger Jahren aufgegriffen wurde, signalisiert der Begriff "konservative Revolution" ein Unbehagen in der Demokratie. Er zitiert eine Haltung, die mit dem Feuer spielt.
Dieses Interview ist äußerst empfehlenswert. Nolte zeigt ziemlich nüchtern auf, wo tatsächlich Parellelen mit den aktuellen Entwicklungen zu Weimar bestehen und wo diese überhaupt nicht gegeben sind. Denn natürlich ist auf der einen Seite eine platte Warnung, dass jeden Moment ein Diktator gewählt werden könnte, Unsinn. Die Institutionen der BRD sind um ein vielfaches stärker, als es die der Weimarer Republik je waren - Bonn ist eben nicht Weimar, und Berlin auch nicht. Da tut etwas Perspektive gut.

Auf der anderen Seite ist es aber ebenso wichtig, wie Nolte darauf hinzuweisen, dass Parallelen eben doch bestehen und dass es keinesfalls so ist, dass die aktuelle Entwicklung irgendwie gesund oder gutzuheißen sei. Denn diese andere Seite der Medaille - das peramenente Relativieren und Normalisieren von Phänomen wie Trump, Le Pen, Orban und AfD - ist gefährlich. Zwar mag kurzfristig nicht der Untergang des Abendlandes drohen, aber auch Weimar überlebte unter weit größerem Druck für 14 Jahre.

2) Weimar nicht vom Ende her denken
Während das Scheitern von Weimar nicht nur den Deutschen wieder deutlich, ja plastisch wie selten nach 1945 vor Augen tritt, beschäftigt sich die historische Forschung in den vergangenen beiden Jahrzehnten vor allem mit den Chancen von Weimar. Spätestens seit dem neunzigsten Gründungsgedenken der Republik 2009 auch in der breiteren Öffentlichkeit wahrnehmbar, verweisen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf die prinzipielle (Gestaltungs-)Offenheit der Geschichte der Weimarer Zeit: auf die demokratischen Verheißungen und Hoffnungen der ersten Jahre; auf die Möglichkeits- und Handlungsräume, die den historischen Akteuren noch bis zuletzt verblieben; aber auch auf das tatsächlich Erreichte, die Modernisierungsleistungen der sozialen Demokratie wie das 1918 eingeführte, im europäischen Vergleich besonders progressive aktive und passive Frauenwahlrecht oder die Arbeitslosenversicherung von 1927. Statt Weimar immer nur im Rückspiegel, vom Scheitern der Republik und der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 her zu sehen und zu verstehen, fordern sie – mal mehr, mal weniger programmatisch – eine antiteleologische Perspektive, die den offenen Erwartungshorizont der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen ernst nimmt.
Passend zu Artikel 1) ist diese historische Abhandlung. Tatsächlich ist der beständige Fokus auf dem Scheitern Weimars mehr als nur ein nerviges Ärgernis, oder eine ständige, langweilige Wiederholung der immer gleichen Platte. Weimar hatte eigentlich keine schlechten Chancen, sich tatsächlich als deutsche Demokratie zu verstetigen. Sieht man sich an, mit welchen Krisen die Republik tatsächlich fertig wurde - Putschversuche erst von links, dann von rechts, politische Attentate (fast nur von rechts), Hyperinflation, Ruhrbesetzung und und und) bevor sie schließlich an den Folgen der Weltwirtschaftskrise mehr aus eigenem Verschulden kollabierte, so drängt sich der Eindruck auf, dass die wahren Lektionen über Weimar eher darin liegen, wo völlig mutwillig die bereits etablierte Demokratie wieder weggeworfen wurde als dass man sich ständig mit Grabesstimme fragt, welche Faktoren denn nun von Anfang an das Scheitern in sich bargen. Dass alle Bildungspläne an der Schule Weimar vom Scheitern her denken, ist da wahrlich wenig hilfreich.

3) The pain we still need to feel
On Thursday, the National Memorial for Peace and Justice opened in Montgomery to remember the thousands of Americans who were hanged, burned, or otherwise murdered by white mobs. The memorial sits just a short drive from the state capitol building, where three days earlier, the state of Alabama had celebrated Confederate Memorial Day, an official state holiday. It’s a city where slave traders once sold children for profit, and where slave owners would later launch a rebellion, and form a government, on the conviction that slavery was necessary, inviolable, and good. It’s the same city where, in living memory, a sitting governor pledged his total commitment to segregation in the face of an unprecedented civil rights struggle, and where—in the present—more than 30 percent of black people in the area live under the poverty line.
Der obige Eingangs-Absatz zu Jamelle Bouies Text ist ein Musterbeispiel journalistischen Schreibens. Sämtliche Lernthesen des folgenden Artikels sind in einem emotionalen Teaser zusammengepackt, der beim Leser starke Gefühle weckt. Respekt, Jamelle.

Zum Thema: Es ist immer wieder atemberaubend, wie unaufbereitet die düstere Vergangenheit der USA im Lande noch ist. Dass Staaten wie Alabama einen Confederate Memorial Day begehen und die Stars and Bars an ihren Staatenhäusern aufziehen ist, wenn man sich einmal klar macht was damit ausgedrückt wird, ungeheuerlich. Es ist staatlich sanktionierter Rassismus in seiner toxischsten Form. Bouie zieht in seinem Artikel eine direkte Linie von den Methoden der Sklavenhalter zu den Lynchmorden 1870 bis 1950 hin zu den Morden der Polizei an den Schwarzen heute, alles eingebettet im Narrativ des neu eröffneten Mahnmals für die gelynchten Schwarzen. Das Ausmaß dieses kaum anerkannten Schandflecks amerikanischer Realität kann kaum überbewertet werden.
4) Wir Steuerdeppen


Zunächst einmal beziehen sich die Zahlen der OECD nicht auf die Deutschen insgesamt, sondern auf eine Untergruppe der Bevölkerung. Genauer gesagt: auf alleinstehende Durchschnittsverdienende. Sie werden mit Steuern und Sozialabgaben in Höhe von 39,9 Prozent des Bruttoeinkommens belastet. Addiert man dazu noch die Sozialbeiträge, die die Arbeitgeber entrichten müssen, ergibt sich sogar ein Wert von 49,7 Prozent. [...] Und auch das geht aus der OECD-Studie hervor: Ein verheiratetes Ehepaar mit Durchschnittsverdienst und zwei Kindern bezahlt genau 1,2 Prozent seines Einkommens an Einkommensteuer. Sie haben richtig gelesen: 1,2 Prozent. Wenn das Enteignung sein soll, dann möchte man doch gern enteignet werden.
Mark Schiertz zeigt in dieser Kolumne in der Zeit sehr gut auf, wie behämmert die deutsche Steuerdebatte oftmals geführt wird. Was mich noch viel mehr stört als der offensichtliche Rückgriff auf einen Worst-Case-Grenzfall, um die Schlagzeile vom räuberischen Staat zu generieren, mit denen Christian Lindner und seine Epigonen dann in die Propaganda-Schlacht ziehen, ist das ständige Zusammenwerfen von Steuern und Abgaben und das dann unzulässige Vergleichen mit anderen Ländern, als ob das alles ein und dasselbe wäre.

Natürlich ist die Steuern- und Abgabenlast in manchen anderen Ländern deutlich niedriger. Aber dieser Vergleich macht auch keinen Sinn, denn man muss sich ja immer fragen, was man dafür bekommt. Deutsche bekommen eines der besten ausgebauten sozialen Sicherungssysteme der Welt, einen bemerkenswert effizienten Wohlfahrtsstaat, eine (trotz aller Unterinvestments) gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur. Die naiv-dämliche Annahme, man könne in Staaten, in denen die Steuern- und Abgabenlast nur halb so hoch ist wie hier einfach die Differenz als Netto-Gewinn einstreichen und verkonsumieren ist es, auf der Bauernfänger wie Lindner oder der "Bund der Steuerzahler" (ein Orwell'scher Name if there ever was one) ihren Erfolg gründen.

5) Wir Mangelverwalter
Auch ich hab so meine Erfahrungen mit dem Mangel. Als ich gemeinsam mit einer Kollegin die Redaktion eines Fernsehmagazins geleitet habe, hatten wir von allem zu wenig: zu wenig (und zu schlechte) Kamera- und Tonausrüstung, zu wenig Sitzplätze und Computer (Ich erinnere mich, dass wir damals sogar nur zwei E-Mail-Adressen für unsere 16-köpfige Redaktion hatten. Aber OK, das waren die Neunziger… 😀 ), zu wenig Zeit und vor allem: zu wenige Leute. Eigentlich mussten wir immerzu gegen den Mangel ankämpfen, um einen guten Job zu machen. Ich glaube, es war Michael Moore (korrigiert mich bitte, falls Ihr es besser wisst), der darauf hinwies: Wenn ein Unternehmen anfängt, am Kaffee zu sparen (oder an Mineralwasser oder Obst für die Mitarbeiter oder an den Kugelschreibern), dann ist das vor allem ein Signal an das Team: „Seht her, wie schlecht es uns geht! Wir müssen sparen. Und bei Euch fangen wir an.“
Dieser Artikel gibt einen guten Einblick auf ein Phänomen, das sicher so mancher Arbeitnehmer kennt: dass man darum kämpfen muss, die Grundanforderungen seines eigenen Jobs machen zu können. Wenn man mit dem Arbeitgeber um elementare Büroausstattung wie Papier und Stift streiten muss, beispielsweise. Rational ist das nicht zu erklären, denn die Opportunitätskosten solcher Streiterein, ihr Verlust an bezahlter Arbeitskraft, ist so immens, die potenziellen Einspargewinne so gering, dass eine andere Mechanik mit am Werk sein muss, wenn man nicht annehmen will, dass die Führungsetagen allesamt bescheuert oder absichtlich schädigend am Werk sind.

Meine Lieblingsgeschichte zu dem Thema ist eine Episode aus einer Zeit als Werksstudent bei einem nahmhaften schwäbischen Maschinenbauer. Ich war im Versand tätig, wo bestellte Produkte möglichst effizient in Pakete verpackt werden mussten. Die Festangestellten hatten als Arbeitsgerät: einen Tesa-Band-Abroller, ein Maßband und ein Cutter-Messer. Wir Werksstudenten hatten das nicht, und bei einer Feedbackrunde mit dem zuständigen Abteilungsleiter sprachen wir an, dass wir ständig die Geräte ausleihen müssten, was zu viel sinnlosem Hin- und Hergerenne führe. Der Anzugträger erklärte daraufhin (ganz langsam, zum Mitschreiben für Trottel) dass wir bedenken müssten, dass ja so ein Cuttermesser auch seinen Preis habe, der in einer Kalkulation mitbedacht werden müsse. Den Rest könnt ihr euch glaube ich selbst dazudenken.

6) Study shows newspaper op-eds change minds
Through two randomized experiments, researchers found that op-ed pieces had large and long-lasting effects on people’s views among both the general public and policy experts. The study, published in the Quarterly Journal of Political Science, also found that Democrats and Republicans altered their views in the direction of the op-ed piece in roughly equal measure.
Um auch einmal gute Nachrichten zwischendurch zu bringen: Eine Studie der Yale-Universität hat herausgefunden, dass Leute, die sich mit den ordentlich konstruierten Argumenten von Journalisten beschäftigen, sich durchaus in ihrer Meinung ändern lassen. Das ist wenigstens mal ein Hoffnungsschimmer am Horizont. Jetzt müsste man nur noch dafür sorgen, dass die Meinungsseiten der Zeitungen von kompetentem Personal aus allen walks of life besetzt sind, und dass diese Meinungsseiten gelesen statt FOX News und InfoWars geguckt wird....

7) Protokoll einer Abschiebung
Schnell stellt sich heraus, dass Nasrullah ein „sehr reifer, besonnener und ruhiger Mann ist“, beschreibt Astrid Wessely vom Verein „Gablitz hilft“. „Viele sind in eine Schockstarre oder Depression verfallen, bei ihm war das nicht der Fall. Er hat stets als Vermittler fungiert, war sehr aktiv, überall dabei und sehr engagiert.“ [...] Nasrullah meldet sich aus Kabul über Facebook-Messenger. Es gehe ihm nicht gut, schreibt er. Die Stadt ist ihm fremd, die Leute misstrauen einander, alles sei neu und ungewohnt für ihn. Er wohnt jetzt bei einem Schwager, der hat ihn auch vom Flughafen abgeholt. Beim Rückflug hat er mit den Polizisten gesprochen, die seien sehr freundlich gewesen. Was er in Kabul machen soll, weiß er nicht, er habe keinen Job in Aussicht, kein Geld, und weiß nicht, wie lange er das noch durchhalten kann. Er will so schnell wie möglich wieder raus aus dem Land, er hat immer noch Angst, dass er verfolgt wird. In einer Nachricht schreibt er: „Wenn ich nicht von hier wegkomme, dann werde ich die nächsten Monate nicht überleben.“
Wir hatten das Thema hier im Blog schon einmal, und wir sehen den völligen Irrsinn europäischer Abschiebepolitik an diesem Beispiel einmal mehr. Ich diskutiere das gleich bei Fundstück 8) etwas näher.

8) Stellungnahme des Flüchtlingsrats BaWü zu den Ereignissen in Ellwangen
Die Reaktion auf die Ereignisse in Ellwangen sagt weit mehr über den verrohten Zustand der deutschen Gesellschaft im Jahr 2018 aus als über das vermeintliche Wesen der routinemäßig zum homogenen Kollektiv konstruierten Geflüchteten. Wer dem Livestream der Pressekonferenz am Donnerstag bei Facebook folgte, sah einen Mikrokosmos des Zustands der aktuellen deutschen Gesellschaft: die Verantwortungsträger gaben ihre Sicht der Dinge wider, während in den Kommentaren daneben der Bürgermob sie dafür verhöhnte, nicht noch autoritärer durchzugreifen und sich bis hin zu Tötungsphantasien reinsteigerte. Es war wie eine Liveübertragung des Abdriftens einer Gesellschaft in die Barbarei. Es ist schwierig, Forderungen nach einer Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit ernstzunehmen, wenn im gleichen Atemzug gefordert wird, alle Beteiligten als Strafe sofort abzuschieben, ihnen sämtliche Leistungen zu streichen, sie zu Zwangsarbeit zu verdonnern oder was auch sonst teilweise für kreativ-menschenverachtende Ideen die laufende Debatte schon hervorgebracht hat.
Das ist, schön zusammengefasst, auch mein Hauptproblem mit all den Argumenten zur Flüchtlingsdebatte, die immer auf die Frage der "Rechtsstaatlichkeit" rekurrieren. Es ist, wie der in 7) verlinkte Fall auch deutlich zeigt, letztlich nur ein Feigenblatt, hinter dem man seine eigene Ablehnung der Flüchtlinge als Gruppe in Deutschland oder aber sein eigenes Nichtstun verbergen will. In letzterem Fall ist es derselbe Mechanismus, der angesichts der katastrophalen Lage in Griechenland mit einem "leider, leider" auf das Maastricht-Vertragswerk Bezug nimmt, in ersterem Fall schlicht eine sozialverträgliche Art, seine Ablehnung zu bekunden. Wer argumentiert schon gegen den Rechtsstaat? Ich natürlich auch nicht. Aber eine Regelung, die solch perversen Ergebnisse immer und immer wieder reproduziert muss sich die Frage gefallen lassen, wie realitätstauglich sie eigentlich ist.

Der zweite hier angesprochene Faktor ist die unglaubliche Barbarei, die hinter den seriös schauenden Bedenkenträgern häufig abläuft. Denn tatsächlich ist es völlig erschreckend, welche ungeheure Ansichten von Durchschnittsdeutschen geäußert werden, welche Bereitschaft zu Grausamkeit und Gewalt wie schnell zutage tritt. Und dann sind sie alle tödlich beleidigt, wenn man sie mit diesen Tiefen ihres eigenen Charakters konfrontiert...

9) Die unglaubliche Waschlappigkeit der deutschen Politik
Worüber reden wir? Worüber wird berichtet, was treibt die O-Ton-Geber in Berlin und München um? Die absurde Frage, ob der Islam nun zu Deutschland gehöre oder nicht. Die Angst vor "Überfremdung" und die vor wirtschaftlichem Abstieg. Das scheinen die wichtigsten Probleme zu sein, die uns als Gesellschaft gerade beschäftigen. Und vielleicht der Wiederverkaufswert von Dieselfahrzeugen.
Schon allein als Kontrapunkt zu den ständigen Weltuntergangsängsten ist es auch mal gut sich klarzumachen, was für Lappailen in dieser Republik diskutiert werden, als ob es um gewaltige Grundsatzfragen ginge. Das Gute daran ist, dass es uns offensichtlich immer noch gut genug geht, aus diesen Mücken Elefanten machen zu können. Das Schlechte ist, dass es uns so gut eigentlich nun auch wieder nicht geht und es wahrhaftig eine Menge von ernsten Themen gibt, die zwar aktuell keine Krisen darstellen, aber mittelfristig dringend gelöst werden müssten - von EU-Reform zu Rentenfinanzierung zu Ungleichheit zu NATO-Umbau zu...you get the idea. Stattdessen beschäftigen wir uns permanent mit den rechten identity politics. Muss man sich halt auch leisten können.

10) Über einen, der aus Ängsten Geld macht
Wenn künftige Generationen einmal wissen wollen, wovor die Menschen Anfang des 21. Jahrhunderts besonders viel Angst hatten, sind Spitzers Bücher die ideale Forschungsgrundlage. Man kann sie lesen wie eine Fieberkurve der Gesellschaft.
Ein weiterer schwerrer Verriss von Manfred Spitzer und seinem Humbug. Davon kann es ja gar nicht genug geben. Besonders wenn er wertvolle Aufmerksamkeit mit seinem blöden Kulturpessimismus auf sich zieht, die besser in Debatten in 11) aufgehoben wäre.

11) Die Eltern mehr in die Pflicht nehmen
Wenn man die Bedeutung der häuslichen Prägung für den Schulerfolg von Kindern kennt, kann es nur einen erfolgversprechenden Weg aus der Misere geben. Die Eltern aus bildungsfernen Familien müssen mehr in die Pflicht genommen werden, damit sie lernen, ihren Kindern von klein an eine motivierende häusliche Umgebung zu schaffen. Lange haben es die Kultusminister vermieden, das Erziehungsverhalten der Eltern in den Blick zu nehmen und es notfalls staatlicherseits zu beeinflussen.
Die FAZ spricht hier einen realen Problemkomplex an, der viel zu sehr ignoriert wird, ohne jedoch ernsthafte Lösungen anbieten zu können. Verpflichtendes letztes Kiga-Jahr beziehungsweise Vorschule? Klar, gerne. Stadtteilmütter für Migranten? Ok, klingt gut. Erziehungsvereinbarungen mit den Eltern? Schadet nicht. Aber glaubt jemand ernsthaft, dass diese Maßnahmen auch nur ansatzweise etwas am Problem ändern? Der Artikel beschreibt selbst ausführlich, dass es der Zugang zu Büchern und der ständige Kontakt mit (anspruchsvoller) Sprache sind, die in den ersten sechs Lebensjahren für krass auseinanderdriftende Chancen sorgen.

Klar kann man mit den Eltern eine Erziehungsvereinbarung schließen, dass sie doch bitte ihrem Kind einmal am Tag 10 Minuten vorlesen, und natürlich würde das helfen, wenn es denn dann so umgesetz würde. Aber einerseits reagieren Eltern notorisch aggressiv und ablehnend auf jegliche Kritik an ihrem Erziehungsstil, und zum anderen holt das natürlich nicht ansatzweise die Defizite auf. Eine Einrichtung wie Stadtteilmütter für Migranten ist zwar grundsätzlich sinnvoll, aber kaum umsetzbar - das Personal exisitert nicht, müsste erst in großem Maßstab ausgebildet werden (ähnlich wie die Lehrer für die Integrationskurse für die Flüchtlinge) und keiner will das Geld reinstecken, vor allem in eine Institution, die, wenn sie vernünftig arbeitet, sich selbst in 10-15 Jahren überflüssig macht.

Verpflichtende Kindertagesstätten, vor allem wenn diese garantierte Ganztagsangebote haben, sind die mit Abstand beste Lösung. Nur, auch hier gilt: der Preis ist heiß. Denn nicht nur müssten das ordentlich aufgestellte Einrichtungen mit ordentlich ausgebildetem (und bezahltem!) Fachpersonal sein, man bräuchte auch mehr davon - deutlich mehr. Damit die Kindertagesstätten so funktionieren wie sie müssten müsste der aktuelle Personalbestand mindestens veranderthalbfacht, eher verdoppelt werden, je nach Kommune. Unser Kindergarten etwa ist in einer der reichsten Kommunen Baden-Württembergs und fährt trotzdem personell weit unter dem eigentlich vorgeschriebenen Level, weil die Stadt das Geld nicht ausgeben will - weswegen regelmäßig die eigentlich vorgesehenen pädagogischen Konzepte einer reinen Betreuung weichen müssen.

Aber immerhin, für die Dieselumrüstung sind Milliarden da. Das ist ja auch was.

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