Freitag, 29. März 2019

Bohren harter Brexits mit zu viel Leidenschaft und zu wenig Augenmaß

Jetzt ist es also passiert: das britische Unterhaus lehnte zum dritten Mal in Folge den von Theresa May verhandelten Austrittsdeal mit der EU ("soft Brexit") ab. Auch wenn es keine Garantie gibt - wie immer im politischen Prozess - stehen die Zeichen damit auf einem Austritt ohne Abkommen ("hard Brexit"). Aber die britische Regenbogenpresse, seit mittlerweile mehr als zwei Jahren im Dauerkampagnenmodus, wittert ein Komplott, den Ausstieg aus dem Brexit und den Verrat an Demokratie, Volksinteressen und vor allem der redaktionellen Linie. Dass mehr als zweieinhalb Jahre nach dem verhängnisvollen Votum im Sommer 2016 immer noch sämtliche Optionen offenstehen, ohne dass irgendjemand eine Ahnung hätte, wie und was funktionieren soll, obwohl die Frist in zwei Wochen abläuft, ist ein Symptom für den Irrsinn dieser Debatte. Sie liegt daran, dass die Politik glaubte, durch das Anlegen von Fesseln den gordischen Knoten durchschlagen zu können. Das war ein Irrtum, und es ist immer ein Irrtum. Seine Wurzel liegt in der Flucht aus der Verantwortung.

Es ist ein häufig beobachtetes Schauspiel. Die Regierung sieht sich einer Entscheidung ausgesetzt, deren Optionen allesamt unpopulär sind. Egal, wie sie sich entschließt, sie wird sich unbeliebt machen und (vor allem gegenüber der Opposition) verlieren. Da verfällt die Entscheidungsperson auf eine brillante Idee. Anstatt die Entscheidung selbst zu treffen, wofür man eigentlich gewählt wurde, schiebt man sie auf andere ab. Entweder man übergibt sie ans Parlament oder gleich direkt per Volksabstimmung nach unten. Ob Obama seine Entscheidung, ob er in Syrien intervenieren solle, mit unschuldigem Augenaufschlag dem Kongress unterschob (als ob ihn sonst je etwas von einer executive action abgehalten hätte), ob Grün-Rot 2011 den Koalitionsstreit über Stuttgart21 durch eine Volksabstimmung abschob oder Jacques Chirac die Annahme der EU-Verfassung per Volksabstimmung ablehnen ließ und damit den ganzen Verhandlungsprozess entgleisen ließ, diese Variante ist so beliebt wie unbrauchbar. Das zugrundeliegende Problem wird nicht gelöst, und der schlechte Geruch bleibt meist doch an der Regierung kleben.

Eine andere beliebte Variante ist es, die Vetospieler und Entscheider (wir haben ja Parlamente) unter Druck zu setzen. Im sicheren Bewusstsein etwa, dass eine so dumme Idee von jeder Seite würde verhindert werden wollen, vereinbarte Obama 2011 zusammen mit dem damaligen Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, John Boehner, den Sequester, der automatische (und völlig bescheuert pauschele) Schnitte ansetzen würde, wenn sich die Parteien nicht auf eine andere Lösung einigten. Wider Erwarten taten sie das nicht; der Sequester trat in Kraft und blieb dies, trotz massiver schädlicher Folgen, über viele Monate.

Die Briten, denen ja alllgemein die Fähigkeit zugeschrieben wird, von der Seitenlinie das Chaos in Europa und in den USA zu beobachten, entschieden sich instinktsicher für eine Kombination beider Methoden. Zuerst hatte Premierminister Cameron 2015 die brillante Idee, einen Koalitionsstreit (wenngleich innerhalb der eigenen Partei) dadurch zu entschärfen, dass er die Entscheidung einfach abwälzte: an das Volk auf der einen und an die verantwortungsvolle Labour-Opposition auf der anderen Seite. Wir wissen, wie das ausging: in Labour kam der ganz und gar nicht auf verantwortungsvoll-konstruktive Opposition getrimmte, überzeugte EU-Hasser Jeremy Corbyn ans Ruder, und das Volk entschied sich knapp für die Seite, die zwar ahnungslos und verloren, aber mit viel Leidenschaft ins Rennen ging.

Seine Nachfolgerin Theresa May, auf der anderen Seite, erklärte die normative Kraft des Faktischen zum neuen Naturgesetz. Weil die Briten 52:48 den Brexit mit einem hervorragenden, eierlegende Wollmilchsäue produzierenden Deal beschlossen hätten, müsste dieser nun folgen. Das war zumindest die offizielle Strategie. Inoffiziell verfolgte Theresa May einen brillanten Plan, der dem Camerons in Nichts nachstand.

May hatte nämlich dasselbe Problem wie ihr Vorgänger: Sie war Vorsitzende einer Partei, die über eine signifikante Minderheit verfügte, die, sagen wir es prosaisch, vom verantwortungsvollen Regieren nicht allzuviel hält. Angesichts dieser Erkenntnis entschloss sie sich, der eigenen Partei die Pistole auf die Brust zu setzen und einen Automatismus einzubauen: Durch ihren Brief vom April 2017, in dem sie von Artikel 50 Gebrauch machte, löste sie einen automatischen Brexit zu den schlechtesten Bedingungen zwei Jahre später aus. In dieser Zeit, so das Kalkül, würde angesichts der offensichtlich drohenden, katastrophalen Folgen die renitente Minderheit in der Partei wohl die Verantwortung übernehmen müssen. Sie hätte besser mit Obama telefoniert, wie toll das klappt.

Die Nicht-Torie-Parteien im Unterhaus sahen nicht ein, warum sie für May die ebenso heißen wie gammeligen Kastanien aus dem Feuer holen sollten, und die signifikante, verantwortungsbefreite Minderheit in der Partei erwies sich als beinhart überzeugt davon, dass No-Deal deutlich vor Soft-Deal zu bevorzugen war. Jeremy Corbyn in der Zwischenzeit, getreu der alten stalinistischen Doktrin vom "heightening the contradictions", sieht in dem Chaos nichts als seine persönliche Chance, in Großbritannien die Macht zu übernehmen und es in einen sozialistischen Musterstaat außerhalb Europas zu verwandeln, eine Vision, die ihn ironischerweise Mays innerparteilichen Extremisten-Gegnern näher macht als der signifikanten Minderheit seiner Fraktion, die er seither mit Hingabe aus den Ämtern vertrieb (was wir ihm nicht vorhalten wollen; kein Parteichef kann sich halten, wenn die Hälfte der Parlamentarier ihn lieber heute als morgen weghaben will).

In den zwei Jahren seit 2017 hat Theresa May viel gelernt. Unter anderem, dass in einem System, in dem drei ungefähr gleich große Teile unvereinbare Ziele verfolgen (Soft Brexit, Hard Brexit, No Brexit), zur Entscheidungsfindung aber 51% der Stimmen benötigt, die Fraktion das Heft in der Hand hat, die zu einem Stichtag automatisch gewinnt. May hat nichts, was sie ihren jeweiligen Gegnern anbieten kann. Für ihre innerparteiliche Konkurrenz gibt es keinen Grund, mit ihr zusammenzuarbeiten, weil sie Mitte April automatisch gewinnt. Dafür hat May in unübertrefflicher strategischer Brillanz selbst gesorgt. Und die Gruppe der Vernünftigen auf der anderen Seite kann einem Soft Brexit nicht wesentlich mehr abgewinnen als einem Hard Brexit und mag die Idee, nach der Katastrophe einfach einen neuen Mitgliedsantrag zu stellen, für attraktiver halten. Oder was auch immer deren Kalkül sein mag.

Aber selbst wenn Mays Kalkül ihren innenpolitischen Gegnern gegenüber aufgegangen wäre, so hat sie mit ihrer Aktivierung von Artikel 50 doch vergessen, dass es in diesem Spiel auch noch eine andere Seite gibt. Nur weil die Briten heillos in einem dreifaltigen Chaos zerstritten sind, wird die EU nicht plötzlich freundlicher oder geeinter. Jeder Deal mit der Downing Street muss einstimmig von 27 Ländern ratifiziert werden. Eine winzige Formsache, quasi. Nur dass die Regierung Maltas, wenn sie das denn wöllte, nun in der gleichen Situation wie die Torie-Spinner ist: wer auch immer innerhalb der EU ein Interesse am Brexit hat, muss nur warten, bis die Uhr Mitte April abgelaufen ist und gewinnt automatisch. Dank der legendären Transparenz der EU-Entscheidungsprozesse muss dieser Spieler (etwa unser hypothetisches, weil kleines) Malta nicht einmal Konsequenzen befürchten.

Die Moral aus der Geschicht: Das Gefangenendilemma ist nicht dein Freund. Wenn du dich zum Regierungschef hast wählen lassen, hast du auch die Verantwortung, und niemand anderes. Jeder Versuch, sie abzuschieben, ist ein Spiel mit dem Feuer. Wenn du nicht bereit bist, die Entscheidung zu treffen, dann kandidier nicht. Denn dann erfüllst du eine Kernkompetenz des Jobs nicht. Zwei britische Premiers in Folge wurden nun gewogen und für zu leicht befunden. Wenn man sich Gordon Brown in die Downing Street zurückwünscht, dann läuft etwas falsch.

Dienstag, 26. März 2019

James Bond hält Vorträge über Wirtschaftspolitik im Kongress und schützt die Sprache vor der SPD - Vermischtes 26.03.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) The real story of how America became an economic super-power

The American depression of 1920 made that decision all the more difficult. The war had vaulted the United States to a new status as the world’s leading creditor, the world’s largest owner of gold, and, by extension, the effective custodian of the international gold standard. When the U.S. opted for massive deflation, it thrust upon every country that wished to return to the gold standard (and what respectable country would not?) an agonizing dilemma. Return to gold at 1913 values, and you would have to match U.S. deflation with an even steeper deflation of your own, accepting increased unemployment along the way. Alternatively, you could re-peg your currency to gold at a diminished rate. But that amounted to an admission that your money had permanently lost value—and that your own people, who had trusted their government with loans in local money, would receive a weaker return on their bonds than American creditors who had lent in dollars. Britain chose the former course; pretty much everybody else chose the latter. The consequences of these choices fill much of the second half of The Deluge. For Europeans, they were uniformly grim, and worse. But one important effect ultimately rebounded on Americans. America’s determination to restore a dollar “as good as gold” not only imposed terrible hardship on war-ravaged Europe, it also threatened to flood American markets with low-cost European imports. The flip side of the Lost Generation enjoying cheap European travel with their strong dollars was German steelmakers and shipyards underpricing their American competitors with weak marks. (David Frum, The Atlantic)
Ich möchte diesen Teil der brillanten Doppel-Rezension von Adam Toozes "The Deluge" (deutsch), das ebenso brillant ist, herausstreichen. Wirtschaftspolitische Entscheidungen mögen auf der Ebene des Nationalstaats durchaus sinnvoll erscheinen, sind aber für die Gesundheit des Gesamtsystems unter Umständen ungeheuer schädlich - was dann wieder negative Effekte auf den Nationalstaat haben kann. Das ist ein echtes Dilemma, denn die vernünftige Wirtschaftspolitik ist politisch dann meist nicht durchsetzbar, weil sie allzuleicht als ein Finanzieren der "Versager" angesehen wird. Man sehe sich nur Deutschland in der Euro-Krise an. Es fuhr eine hart auf seine eigenen Interessen ausgerichtete Politik, die Südeuropa nachhaltig destabilisierte. Das hat alle möglichen negativen Folgen. Einerseits fällt ein Großteil Südeuropas als Exportmarkt weg, weil dort überhaupt keine Konsum- und Investitionsmittel vorhanden sind. Dazu kommt, dass diese Länder in politisch turbulentes Fahrwasser geraten, was gerade im Falle größerer Volkswirtschaften wie Italien nun unabsehbare Effekte haben kann. Außerdem kam diese mangelnde Kooperationswilligkeit bei der Flüchtlingskrise postwendend zurück, als das ganze EU-Ausland schadenfroh auf Deutschland blickte und sich auf die Verträge berief, um eine Verteilung der Flüchtlinge zu blockieren. Andererseits bekommt deutsches Investitionskapital dort natürlich gute Möglichkeiten, und zudem werden die Gläubiger hierzulande geschützt. In meinen Augen sind es die positiven Effekte nicht wert, weder in den 1920er und 1930er Jahren noch in den 2010er Jahren, und wäre das Geld besser angelegt gewesen hätte man nicht die nationalstaatlich-egoistische Tour gefahren. Für die USA der Zwischenkriegszeit gilt das praktisch bewiesenermaßen. Für die Eurokrise ist die Diskussion noch lange nicht zu Ende. 
 
2) Wo Frauen immer noch die Ausnahme sind
294 Landkreise gibt es insgesamt in Deutschland. Zählt man nach, ob in den jeweiligen Amtsstuben eine Landrätin oder ein Landrat sitzt, kommt man auf dieses atemberaubende Ergebnis: Unter den 294 gewählten Amtsträgern sind aktuell genau 27 Frauen. Das sind 9,2 Prozent. In nur jedem elften Amt sitzt eine Frau. [...] In einer Befragung gaben hauptamtliche Bürgermeister an, 50 bis 80 Stunden in der Woche zu arbeiten. Da geht es los: Familie und Privates müssen sich dem politischen Amt anpassen; schwierig für Frauen mit Kindern. Denn gerade in ländlichen Regionen ist die Versorgung mit Kinderbetreuung weiterhin schlecht, die Familienrollen sind traditioneller verteilt, Frauen tragen die Hauptlast. Familie und Mandat lassen sich für Frauen schlechter vereinbaren. Streben Frauen einen höheren Posten als das Bürgermeisteramt an, wagen sie sich daher meist sehr spät aus der Deckung. Die meisten Bürgermeisterinnen sind über 50 Jahre alt, ihre Kinder bereits erwachsen. Wer jedoch gewählt werden will, der muss, gerade in kleineren Orten, sichtbar sein. Sich auf Vereinsfeiern blicken lassen, an Stammtischen, beim Wochenmarkt. Muss sich im Ort engagieren, am besten im Alter zwischen 30 und 40. In den Jahren, in denen Frauen oft mit der Familie beschäftigt sind, können Männer gezielt ihre politischen Karrieren vorbereiten. Mutter - und gleichzeitig Bürgermeisterin? Wie sehr das für viele einen Widerspruch darstellt, zeigt der Kommentar einer Bürgermeisterin in der EAF-Befragung. Man müsse als Frau im Amt immer noch Vorurteile abbauen und zeigen: Man kann das machen und trotzdem sind die Kinder hinterher nicht drogenabhängig. Ähnlich ist es, wenn Frauen ehrenamtlich in der Politik tätig sind, etwa im Gemeinderat. Da kommt das politische Engagement zusätzlich zu Job und Kind obendrauf. Politikwissenschaftlerin Lukoschat nennt das den Dreifach-Spagat: "Den muss man erst mal wuppen." Politisches Engagement könnten sich Frauen oft schlicht nicht leisten, sagt sie. (Maria Stöhr/Guido Grigrat, SpiegelOnline)
Der Artikel geht gut auf das Grundproblem ein: Um in der Kommunalpolitik Erfolg zu haben, muss genetzwerkt werden wie verrückt. Auftreten bei lokalen Ereignissen, Connections schaffen, etc. Das kostet wahnsinnig Zeit. Gleichzeitig aber wird von Frauen gerade in der Lokalpolitik erwartet, dass sie das klassische Familienbild einordnen. Das ist ein unauflöslicher Widerspruch. Es ist spannend zu sehen, dass dies, je höher man in der föderalen Pyramide kommt (Landes- und Bundespolitik), immer weniger bedeutend wird. Deswegen finden sich in Landtag und Bundestag auch mehr Frauen als in Gemeinderäten und Rathäusern. Ein ähnlicher Effekt dürfte sich auch in der Wirtschaft finden. Die Spitzenpositionen werden allgemein als außerordentlich gesehen (was sie ja auch sind), so dass hier andere Regeln gelten. Es ist deswegen auch zweifelhaft, dass Maßnahmen wie eine Quote für Aufsichtsräte übermäßig hilfreich sind. Gesellschaftliche Änderungsprozesse finden in der mittleren Ebene statt. Und genau da passiert noch viel zu wenig. 
 
3) Die Frau von gestern
Denn was hat AKK in den letzten Wochen geboten? Ein Abkehr von Merkel in der Flüchtlingspolitik, eine Büttenrede in Stockach, bei der sie einen mehr als verunglückten Scherz über pinkelnde Männer und Intersexuelle präsentierte, eine populistische Stammtischrede beim Aschermittwoch in Demmin, und den skurrilen Vorschlag, für 4,6 Milliarden Euro einen deutsch-französischen Flugzeugträger zu bauen. Dahinter werden die Konturen klarer. Annegret Kramp-Karrenbauer ist – ganz im Gegensatz zum angeblichen Auslaufmodell Merkel – eine Frau der CDU von gestern, als man über sexuelle Andersartigkeit noch schmierige Witze machte, als man die gleichgeschlechtliche Ehe für abartig hielt und sie, wie AKK, mit Inzest verglich, als man um die Lufthoheit über den Stammtischen kämpfte. Sie ist eine Frau, die – anders als Merkel – nicht zum modernen, toleranten Deutschland von heute passt. AKK dreht die Modernisierung der CDU unter Merkel wieder ein Stück zurück. Das mag dem rechten Flügel der Partei gefallen, der Mehrheit der Deutschen aber offenbar nicht. Sie sind in ihrem Gesellschafts- und Familienbild weiter als die CDU-Vorsitzende. So erklären sich die Ergebnisse der Umfragen. Auch im Parteienvergleich tritt die CDU auf der Stelle. (Sprengsatz)
Ob Merz oder AKK, beide erklärten, dass sie die CDU (wieder?) mehr nach rechts schieben wollten. Das sehen wir aktuell. In den Umfragen schlägt es sich bislang nicht positiv zubuche (aber auch nicht negativ). Das deutet darauf hin, dass meine Analyse und Prognose zutreffend war. Die CDU hat dasselbe Problem wie die SPD. Ein guter Teil der Stammwählerschaft ist mit der generellen Linie der Partei unzufrieden und mag die Änderungen, die in Regierungsverantwortung vonstatten gegangen sind, nicht. Gleichzeitig aber ist ein Rückabwickeln dieser Änderungen, oder wenigstens ein Anhalten, kein Rezept dafür, diese Wähler zurückzugewinnen. Die SPD kennt das gut. Die allseits als notwendig betrachtete Agenda2010 kostete die Partei viel Zustimmung, aber der seit ungefähr 2013 betriebene langsame Abschied bringt diese Zustimmung nicht wieder. Genauso hat die CDU mit Positionierungen wie dem Atomausstiegsausstiegausstieg, dem Nicht-Verhindern der Homoehe und natürlich der Flüchtlingspolitik Zustimmung verloren. Aber eine Gegenbewegung alleine hilft nicht, diese Leute wiederzukriegen. Ein unaufgelöstes Dilemma. 
 
4) Der Mann ist Weltkulturerbe
Der Gott ist die Göttin, der nächste Papst könnte Päpstin sein - und Donald Trump ließe sich durch eine aus Mexiko stammende Demokratin ersetzen. Deal? Wir Männer opfern drei unserer Jobs - Gott, Papst und US-Präsident - der Quote. Dafür wird James Bond bitte als eine für immer und ewig maskuline, testosterongesteuert herumdelirierende Fiktion unter Naturschutz gestellt. Der Mann ist Weltkulturerbe. Und zwar jenseits aller durchkommerzialisierten Fahrzeuge, Gadgets, Martinis und jener nullnullsieben Sekunden vor der Apokalypse ausgeschalteten Schurken schon deshalb, weil er der Mann an sich ist. Fiktion. Nicht nur biologisch, sondern auch als soziales Konstrukt. Als literarische (wohlgemerkt: erfundene, grandios von Ian Fleming erschaffene) und im Kino alle paar Jahre reanimierte Figur. Die man liebt, seit man in der Endphase der Jugend versucht hat, eine dieser irren Verfolgungsszenen von einem glamourösen Sehnsuchtsort in der Karibik in die niederbayerische Provinz zu verlegen, um dort den Fiat Panda zum Aston Martin umzurüsten. Mit Faltdach. [...] Wenn Bond zeitgemäß ist, dann ist er auch eine Frau. Denn es wird Zeit, die Männerdomänen als das zu begreifen, was sie sind: Terrains für Männer, Frauen und diverse sonstige Geschlechter. [...] In der Geschichte der Bondfilme befand sich unter all den Gestaltern nur eine Frau: Johanna Harwood. Sie schrieb in den Sechzigerjahren zwei James-Bond-Filme mit und wurde danach nicht mehr beschäftigt. Bleibt nur noch Barbara Broccoli, die amtierende Produzentin der Bond-Märchenwelt. Sie sagte jetzt im Guardian: "Bond wurde als ein Mann geschrieben und ich denke, dass er wahrscheinlich ein Mann bleiben wird. Wir müssen männliche Figuren nicht in Frauen verwandeln." Allerdings sollte man mehr weibliche Figuren schaffen. Und mehr Schauspielerinnen beschäftigen. Und Regisseurinnen. Wenn die Gestaltungsmacht in der Kinobranche und überall sonst auch endlich (!) gerecht verteilt ist, dann kann Bond auch unangefochten der Held heimlicher Männerträume bleiben. (Gerhard Matzig, SZ)
Das ist ein aus mehreren Gründen interessanter Artikel. James Bond ist nicht zeitgemäß, er war es nie. Bond war, wie es M seinerzeit gegenüber Pierce Brosnan ausdrückte, ein Fossil, ein Relikt des Kalten Krieges. Im Kalten Krieg selbst war er ein Relikt, ein Fossil des Imperialismus. Bond verteidigte stets den imperialen Stand des Vereinten Königreichs. Das wurde zwar grundlegend an die geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasst, aber die Grundstruktur ist und bleibt dieselbe. Würde man aus Bond eine Frau machen, dieses Grundmuster änderte sich nicht. Aber Bond ist eben auch ein Standbild einer bestimmten Männlichkeitsvorstellung. Man kann diese, wie Matzig es hier tut, nostalgisch verherrlichen, oder man kann es kritisieren. Aber ich stimme Matzig durchaus zu. Einfach nur die Rolle weiblich zu machen würde daran nichts ändern. Übrigens wäre es genausowenig sinnvoll, die Rolle einfach durch einen Schwarzen zu besetzen. Auch das griffe grundlegend in die Figur ein, nur ist diese Schlussfolgerung Matzig vermutlich zu unangenehm. Würde man also Bond weiblich oder schwarz machen, müsste man den Kontext ändern, wenn man nicht plötzlich richtig unangenehme Dissonanzen schaffen wöllte. Aber warum dann nicht einfach eine eigene Figur ohne all diesen Ballast erfinden? 
 
5) Protokollsätze des Hungers
Aber was ist, wenn sich die vorgetragenen Statistiken selbst als für die Theorie zurechtgelegt und empirisch bestreitbar erweisen? Der Anthropologe Jason Hickel hat im „Guardian“ sowie in einem Blogbeitrag eine solche Widerlegung gewagt. Er nennt Pinkers Behauptungen „intellektuell unehrlich“ und attestiert ihnen, „nicht von Fakten gestützt“ zu sein. Besonders die These Pinkers, Globalisierung und Marktwirtschaft hätten weltweit zu einem extremen Rückgang der Armut geführt, ist Hickel ein Dorn im Auge. Nicht ohne Grund. [...] Steven Pinker antwortete auf Hickels Kritik mittels einer E-Mail, die er online publizieren ließ. Er behauptet einen herrschenden „Konsens über die globale wirtschaftliche Entwicklung“ und bezeichnet Hickel als „marxistischen Ideologen“, der es nicht ertragen könne, „dass die Daten massive Verbesserungen“ der Lebensumstände „aufgrund von Märkten und Globalisierung“ anzeigten. Die Verbesserung der Welt, so Pinker, käme auch ohne „Abschaffung des Kapitalismus und globale Umverteilung“ aus. Ohne auf die statistischen Argumente bezüglich der Messung von Armut einzugehen, beschwört er den Anstieg von Lebenserwartung, Lesefähigkeit, Bildung und Fähigkeit zum Konsum. Mit seinem Verweis auf die gewalttätige Integration der Kolonialbevölkerungen in das kapitalistische System reproduziert Hickel laut Pinker „romantische Märchen“ über die Vergangenheit. Für die Darstellung weltweiter Entwicklungen sei die Festlegung einer Armutsgrenze „willkürlich und irrelevant“, weil der „Trend überall gleich“ bleibe. Die Antwort fällt dürftig aus und ist ihrer Argumentation nach mehr politisch als wissenschaftlich. Sie beweist aber ironischerweise gerade die Bestreitbarkeit vermeintlich objektiver Statistiken. Indem Pinker so auf empirische Beobachtungen zurückgreift, dass sie sich in sein Bild liberaler Modernisierung fügen, zeigt er, dass auch Daten und Grafiken „gemacht“ und insofern der Theoriebildung nicht enthoben sind. „Unsere Welt in Daten“, wie die Website heißt, auf die Pinker zum Beleg seiner Thesen oft zurückgreift, ist eben deutlich interpretationsbedürftiger, als jede empiristische Theorie zur Geltung bringen könnte. Wissenschaft schließt immer auch Selbstkritik ein – diese einfache Erkenntnis stünde gerade jenen gut zu Gesicht, die sich öffentlich so vehement auf die Tradition der Aufklärung berufen. (Oliver Weber, FAZ)
Ich bin ja ein großer Fan von Pinkers "The Better Angels of Our Nature" (deutsch); sein Werk "Enlightenment Now!" (deutsch) habe ich bisher noch nicht gelesen. Ich mag den Grundoptimismus den er hat, weil ich den ständigen Pessimismus von wegen "alles ist schlimmer als je zuvor, die Welt geht vor die Hunde, früher war alles besser" und so weiter nicht ausstehen kann. Aber: die methodischen Vorwürfe, die Pinker gemacht werden, sind nicht von der Hand zu weisen. Pinker ist zudem reichlich arrogant, was bei den "Promi-Akademikern" häufig ein Problem ist. Ich denke in diesem Konflikt ist es hauptsächlich eine Frage des Standpunkts. Pinker hat grundsätzlich Recht damit, dass die durchschnittliche materielle Lage weltweit sich gebessert hat. Das kann nicht die Frage sein. Aber umgekehrt liegt auch Hickel richtig wenn er sagt, dass Pinker (und Gates und andere Fortschrittsapologeten) diese Fortschritte etwas arg schönen, denn Armut ist und bleibt ein gewaltiges Problem und hat sich zwar leicht verbessert, gibt aber insgesamt keinen Grund zur Selbstgefälligkeit. 
 
6) Wer über Wertvernichtung spricht, sollte über das Abwälzen von Kosten auf die Allgemeinheit nicht schweigen
Beispiel Gabor Steingart: Er spricht gar von einer Wertvernichtung, die in den Bilanzen der Energiekonzerne RWE und E.ON, die am Donnerstag und am Freitag dieser Woche ihre Geschäftszahlen vorlegten, deutlich abzulesen sei. „Selbst wenn man die 2016 abgespaltene Tochter innogy dazurechnet, erzielt RWE seit 2005, dem Amtsantritt Angela Merkels, keinerlei Wertzuwächse mehr. Das Ergebnis vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen sank um mehr als ein Viertel im Vergleich zum Vorjahr. Vorstandschef Rolf Martin Schmitz hofft auf Entschädigungszahlungen aus dem Bundeshaushalt und rechnet mit Massenentlassungen.“ Und dann kommt der übliche Vergleich mit Sozialismus, DDR, Sowjetunion oder Planwirtschaft – kennt man aus Kreisen der FDP: „Was die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg durch Demontage und die DDR-Planwirtschaft später durch Schlendrian erreichte, schaffte Angela Merkel durch den Versuch, die Energiebasis des größten europäischen Industrielandes per Direktive zu verändern: Der deutschen Volkswirtschaft wurde schwerer Schaden zugefügt“, so Steingart. [...] Würde man diese Gesamtkosten in den Strompreis einrechnen und die Milliarden Euros an Fördergeldern für AKWs raus rechnen – Ökonomen nennen das Internalisierung externer Effekte – müssten wir viel höhere Preise für eine Kilowattstunde berappen. Die Atomenergie und auch die Energie aus Kohle binden gigantische Finanzmittel, personelle Ressourcen und konservieren unwirtschaftliche Großorganisationen der Energiewirtschaft. [...] „Es gibt ja eine Tatsache, die man schon mal gar nicht wegleugnen kann, was das EEG mindestens bewirkt hat: In der Photovoltaik und in der Windenergie. Vor allem in der Photovoltaik haben wir einen Preissturz erlebt, der ohnegleichen ist. Vergleichbar nur mit Speichertechnologie und Prozessortechnologie. Wir können uns das als Steuerzahler oder Stromzahler auf die Fahnen schreiben. Diese Technologie ist durch die Massenproduktion unfassbar günstig geworden. Wir erleben heute einen weltweiten Solarboom. Die einzigen, die sich gerade abkoppeln, sind die Deutschen. Das ist das Absurde daran. Jetzt, wo es richtig preisgünstig ist. Wenn man heute eine Solaranlage baut, dann rechnet sie sich selbst in einer Stadt wie Wuppertal. Man hat nach circa sechs bis sieben Jahren die Investition amortisiert. Danach bekommt man 35 Jahre Strom umsonst. Wir reden von Netto-Renditen zwischen acht und zehn Prozent. Soll mir irgendein Ökonom eine gute Geldanlage empfehlen, die auch nur ansatzweise eine solche Rendite verspricht, und zwar sicher verspricht, mit Steigerungspotential bei steigenden Strompreisen. Von daher finde ich die Aussage von Haucap absurd. Wir sind in Deutschland aktuell bei knapp 38 Prozent Grünstromproduktion“, sagt der Wuppertaler Unternehmer Jörg Heynkes. (GSohn, ichsagmal.com)
Wann immer in der Diskussion um den Klimawandel und Erneuerbare Energien die Frage der Nuklearenergie berührt, haben wir das Problem, dass der Vergleich der Energiekosten kaum realistisch möglich ist. In allen Formen wird ein gewisser Teil der Kosten externalisiert. Bei Atomenergie ist das am Auffälligsten; nicht nur sind die Entwicklungs- und Aufbaukosten praktisch komplett staatlich gewesen (aus der historischen Rolle im Kalten Krieg heraus); wer ernsthaft glaubt, die Energiekonzerne würden je die vollen Kosten für die Müllbeseitigung übernehmen, ist hoffnungslos naiv, einmal davon abgesehen, dass keiner weiß, was wir mit dem Müll überhaupt machen sollen. Auch Erneuerbare Energien externalisieren Kosten. Man denke nur an die EEG. Seit die schrittweise verringert wird, sind die Erneuerbaren in unsicheres Fahrwasser geraten. Dasselbe würde passieren, wenn man die realen Kosten von Nuklearenergie auf die Verbraucher umlegte. Der Energiesektor ist schon allein aufgrund seiner strategischen Bedeutung einer, auf dem Markt (Unternehmen) und Staat sich nicht sauber trennen lassen. Überlappungen sind unvermeidbar. Daher ist die Frage, welche Energiequellen man nutzen will, auch eine inhärent politische und nicht marktwirtschaftliche Frage. 
 
7) Danke, SPD!
Zwei wesentliche Ursachen für die steigende Lohnungleichheit waren die Erosion der Tarifbindung und die Sozialstaatsreformen. Die Sozialstaatsreformen – besonders die Verkürzung von Arbeitlosengeld I auf nur noch ein Jahr (1,5 Jahre für Ältere) und die Einführung von Hartz IV – haben vielen Menschen Angst gemacht, beim Arbeitsplatzverlust schnell ökonomisch und sozial abzustürzen. Diese Angst hat sie sehr viel gefügiger gemacht, auf Lohnsteigerungen zu verzichten, um ihren Arbeitsplatz behalten zu können. Gleichzeitig hat die starke Abnahme der Tarifbindung die Ungleichheit weiter erhöht. Arbeiteten 1998 noch 76 Prozent der Beschäftigten in West- und 63 Prozent in Ostdeutschland in Betrieben mit Tarifbindung, waren es 2017 nur noch 57 Prozent im Westen und 44 im Osten. Die Erosion der Tarifverträge hat besonders den Menschen mit geringen Einkommen geschadet, weil sie dadurch zunehmend in Sektoren ohne starke Tarifbindung arbeiten. So kam sogar eine Bertelsmann-Studie zu dem Ergebnis, dass ein großer Teil der steigenden Lohnungleichheit auf fehlende Tarifverträge zurückzuführen ist. An beiden Punkten setzt die SPD jetzt an: Die Menschen sollen sich wieder darauf verlassen können, dass der Sozialstaat das Lebensrisiko Arbeitslosigkeit besser abfedern kann. Gleichzeitig sollen über eine stärkere Tarifbindung und einen höheren Mindestlohn die Löhne stärker erhöht werden, besonders am unteren Rand. Das wichtigste Instrument des Staates, um die Tarifverträge wieder zu stärken, ist die Allgemeinverbindlicherklärung. Das ist die Möglichkeit, den Tarifvertrag, den einzelne Arbeitgeber und Gewerkschaften für Unternehmen einer Branche ausgehandelt haben, auf die ganze Branche auszuweiten. Das heißt, dass auch Beschäftigte und Unternehmen in den Genuss von Tarifverträgen kommen, die bis jetzt keinen Vertrag haben. (Herdentrieb)
Ich fühle mich bestätigt: in meinem Artikel zur Ungleichheit habe ich ja bereits darauf hingewiesen, dass gewerkschaftliche Organisation und eine aktive Rolle der Gewerkschaften elementare Faktoren in der Reduktion von Ungleichheit sind. Möchte man unter den Beschäftigten für möglichst starke Gewinne an Sicherheit und Einkommen sorgen, sollte man Gewerkschaften fördern. Jeder Versuch, das dem freien Markt zu überlassen, produziert zu viele Verlierer, und jeder Versuch, direkt mit Gesetzen zu intervenieren, ist zu grob und mit der legislativen Brechstange. Die Gewerkschaften sind da bessere, weil flexiblere und distanziertere, Akteure. 
 
8) Der Troll-Terrorist
Ein neuer Typus Terrorist ist entstanden und entsteht noch. Ein Troll-Terrorist, der den Massenmord als Instrument einer hypermedialen Inszenierung betrachtet. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer schrieb in einem Tweet: "Dafür kann es keine Erklärung … geben", und das mag im Schock geschrieben sein oder nicht, aber das exakte Gegenteil ist der Fall: Dafür gibt es eine Erklärung, denn der Terrorist von Neuseeland dachte und handelte nach einem Muster, das uns bereits begegnet ist und noch begegnen wird. Dieser Text ist der Versuch, sich dieser Erklärung anzunähern. [...] Der Begriff Troll-Terrorist mag übertrieben oder geschmacklos erscheinen, und ich kann verstehen, wenn man ihn ablehnt. Aber eine bestimmte Form der Netzkultur findet sich sehr eindeutig in den Zeilen des Schriftstücks, bei der Tat selbst und ebenso in der Art der Verbreitung, etwa auf 8chan. [...] Das Manifest muss in Kenntnis dieser kulturellen Prägung des Verfassers gelesen werden, und daraus folgen verschiedene Regeln für die Analyse des Textes:
  • Jeder Satz kann ironisch gemeint sein, nur zur Provokation geschrieben oder um Verwirrung zu stiften, denn öffentliche Verwirrung gehört zu den wichtigsten Zielen des Trolls.
  • Trotzdem scheinen für Insider und andere Sachkundige die tatsächlichen Inhalte durch, denn die gibt es natürlich trotzdem, es handelt sich um ein echtes Manifest.
  • Weil das Dokument relativ lang ist und vermutlich unter Zeitdruck geschrieben wurde, taugt als Annäherung an die tatsächliche Haltung des Verfassers am besten die Konsistenzprüfung: Findet sich eine Aussage häufiger, auch in verschiedenen Kontexten und aus verschiedenen Blickwinkeln, ist sie mit größerer Wahrscheinlichkeit ernst gemeint.
  • Und schließlich kann man das Dokument vor allem dort als stimmig betrachten, wo es im Einklang mit der terroristischen Tat steht. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Die Überlappungen zwischen dieser Troll-Community aus den chan-Foren und den Gewalttätern aller Couleur - ob Terrorismus, Gewaltdrohungen o.Ä. - sind ziemlich frappant und bereits bei der #Gamergate-Affäre aufgefallen. Es handelt sich um eine Radikalisierung einer bestimmten Untergruppe junger Männer, so wie der islamistische Terrorismus sich ebenfalls einer bestimmten Gruppe junger Männer bedient. Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren und Einflüssen, die hier eine Rolle spielen und die sich auch nur bedingt vergleichen lassen, aber eine Gemeinsamkeit besteht meines Erachtens nach in der Krise der Männlichkeit, die ein weltweites Phänomen ist. Die entsprechende Untergruppe wird durch die Verlockungen der jeweiligen Ideologie angezogen. 
 
9) Der Schwachpunkt der selbsternannten Sprachwächter
Es lohnt es sich, das Kampfwort »Gender-Unfug« etwas genauer zu betrachten und seine Verwender*innen bei genau diesem Wort zu nehmen. Der Versuch, Sprache davor zu schützen, dass sie sich verändert, entspringt nicht der Liebe zur Sprache, wie ihre Vereinsmeier*innen glauben machen wollen, sondern der Liebe zum Hergebrachten, zum Immer-so-Gewesenen. Es ist kein Obrigkeitsakt, wenn eine Behörde beschließt, in Zukunft nicht nur generisch Männer anzusprechen. Die Behörde reagiert damit auf eine bereits stattfindende Veränderung der Sprache, sie bildet soziale und politische Realität ab. Die Unterzeichner*innen von Sprach-Stillstands-Petitionen aber fürchten sich buchstäblich vor dem Unfug: also davor, dass die Dinge aus den Fugen geraten. Sie fürchten sich davor, dass Menschen sich nicht mehr fügen, zum Beispiel darin, nicht genannt und nicht angesprochen zu werden. Sie fürchten sich davor, dass nicht nur die Sprache, sondern die Welt aus den Fugen gerät: ihre vertraute Welt, in der alles an seinem Ort ist. In der immer die oben sind, die immer schon oben waren, und die draußen, die immer schon unten waren. Von diesem Unfug kann es daher gern mehr geben. [...] Warum benutzen die Sprachschützer*innen die schreckliche Metapher von der »Vergewaltigung der Sprache«? Sie findet sich auf der rechten Meinungsseite »Tichys Einblick«, deren Chef zu den Erst-Unterzeichnern des Aufrufs gehört, und auch die CSU-Politikerin Bär verwendet sie. Wie hässlich, geschmacklos und verletzend kann ein Sprachbild sein? »Man kann Sprache nicht vergewaltigen«, schreibt meine Kollegin Alena Schröder. Man kann nur die Traumata anderer für billige Effekte einsetzen. Der Eindruck, dass es ihr nicht um die Unversehrtheit der Sprache geht, drängt sich auch bei Sibylle Lewitscharoff auf: »Eros hat seine Launen und Abgründe«, schreibt sie in ihrem Text zu »Sprachpolizei und Gender-Unfug«, und weiter: »Die Preisgabe des Körpers ist ein heikel Ding. Die Sprachdrift, die sie begleitet, verträgt keine starre Reglementierung. Männer wissen oft nicht mehr recht, was sie sagen und wie sie es sagen sollen, wenn sie eine Frau begehren. Die Krux ist: Sie werden zu unentschlossenen Hasenfüßen. Doch der durch und durch gezähmte Mann, der nichts riskiert, ist so erotisch wie eine Blindschleiche.« (Till Reather, SZ)
Die Erotisierung und Objektifizierung der deutschen Sprache alleine ist ein lohnendes Studienobjekt bei diesen Leuten, fürchte ich. Wie man sich so auf überkommende Äußerlichkeiten fixieren kann bleibt mir schleierhaft. Männer wissen oft nicht mehr, was und wie sie sagen sollen, dass sie eine Frau begehren? Das liegt sicherlich nicht am Sprachwandel und Genderstern. Es geht um eine Weigerung, sich zu ändern. Und das kommt dem Kern auch viel näher. Die selbst ernannten "Sprachschützer" empfinden die Änderung der Gesellschaft als Bedrohung; sprachliche Änderungen sind da nur eine von vielen entsprechenden Ausprägungen. Das führt wieder zurück zu dem Gespräch, das ich mit Stefan Pietsch geführt habe. An Überkommenem festhalten, Traditionen bewahren zu wollen, ist ja grundsätzlich kein Problem. Zum Problem wird es, wo ein Gegensatz zwischen dem "Natürlichen" auf der einen und der aufoktroyierten, als künstlich-fremd empfundenen auf der anderen Seite aufgemacht wird. Die Tradition von gestern ist die bedrohliche Veränderung von vorgestern. Änderungen die Legitimität abzusprechen ist genauso falsch und gefährlich, wie jegliche Tradition als illegitim abzustempeln. 
 
10) Alt und unklug
Christian Lindner hat mittlerweile klargestellt, wie er das mit den "Profis" gemeint hat. Nämlich nicht so, dass die Schüler Laien sind und die Politiker Profis. Vielmehr will er damit gesagt haben, dass man die Klimarettung den Ingenieuren und Erfindern überlassen sollte. Was wiederum zeigt, dass er entweder keine Ahnung hat oder keine haben will. Weil jeder, der sich mit der Materie ein wenig beschäftigt – wie zum Beispiel die Schülerinnen und Schüler –, weiß, dass wegen des Zeitdrucks neue Erfindungen und Treibstoffe allein bei Weitem nicht ausreichen werden, um die minimalen Klimaziele zu erreichen. Hätte man vor dreißig Jahren auf die ersten Klimawarner gehört, so hätten Veränderungen nur in den Maschinen wahrscheinlich ausgereicht. Heute müssen Verhaltensänderungen der Menschen hinzukommen. [...] Die Politik sollte damit aufhören, diese jungen Leute zu maßregeln oder mit Lob einzulullen, sie sollte ihre Arbeit machen. Was nämlich die Bundesregierung gerade tut beziehungsweise unterlässt, ist ein ausgemachter politischer Skandal. Vor vier Jahren hat diese Koalition den Pariser Vertrag unterschrieben, der nicht weniger bedeutet als eine mittlere Revolution unserer Lebens- und Produktionsweise. Dies jedoch wurde der Bevölkerung verschwiegen. [...] Und heute, da es klimapolitisch zum Schwur kommt, da es konkret um Energie-, Agrar- und Verkehrswende geht, wirbt die Regierung nicht etwa verspätet doch noch für die Politik, die sie versprochen hat. Stattdessen beschimpft sie Ökologen und die Freitagsbewegung und tut so, als müsse nach dreizehn Jahren grüner Ökokratie mal endlich wieder Maß und Mitte Einzug halten. Nur, mit dem ewigen Anmoralisieren der Ökologen bringt man kein einziges Kohlendioxid-Molekül aus der Atmosphäre. Dass die Schülerinnen und Schüler auf diese etwas irrwitzige Kommunikation der "Erwachsenen" nur mit moderaten Demonstrationen reagieren, zeugt von ihrer Reife. (Bernd Ulrich, Zeit)
Ich halte Lindners Äußerung ja grundsätzlich für sinnig. Ohne die Unterstützung von Experten, ohne entsprechende Ideen, wird nicht allzuviel möglich sein. Aber Ulrichs Kritik ist absolut richtig. Denn es sind ja gerade Lindner und seine Spießgesellen, die 30 Jahre lang NICHT auf die Experten und Profis gehört haben und auch weiterhin keinerlei Anstalten machen, dies zu tun. Der ganze Spruch von den Profis ist letztlich nur ein Ablenkungsmanöver. Dabei wäre, und das sage ich immer wieder, ein Korrektiv der oftmals von reichlich dämlichen Partikularinteressen bestimmten Grünen (ich sage nur Homöopathie...) dringend notwendig und mehr als hilfreich. Aber die völlige Überzeichnung der aktuellen Stagnation als irgendwie radikale Agenda, der man sich entgegenstemmen müsste, blockiert jegliche Änderung - und wird dazu führen, dass, wenn sich Handlungen dann nicht mehr weiter aufschieben lassen, entweder irgendein unüberlegter Unsinn mit der heißen Nadel gestrickt wird oder eben dann die einzigen, die einen Plan haben, egal wie doof der Plan ist, diesen umsetzen können.

11) Medicare for America, Beto O’Rourke’s favorite health care plan, explained
In his early days as a presidential candidate, Beto O’Rourke has walked away from supporting single-payer Medicare-for-all and into the arms of another health care plan: Medicare for America. That plan, introduced last year by Reps. Rosa DeLauro (D-CT) and Jan Schakowsky (D-IL), was founded on the previous work of the Center for American Progress and Yale professor Jacob Hacker. It is the Democratic establishment’s alternative to the single-payer approach favored by Sen. Bernie Sanders (I-VT) and the democratic socialist left. It would not move every American into a government health care plan over the next few years, as the Medicare-for-all bill authored by Sanders would. Employer-based insurance, which covers half of all Americans, would be preserved, though workers would have the option of leaving their work plan to join the new Medicare program. Over a long enough timeline, however, Medicare for America would likely cover most and maybe all Americans under a single government plan. The uninsured and people on Medicaid or Obamacare would be moved into the new public coverage right away, and newborns would be enrolled automatically in the plan as well. O’Rourke has quickly become the bill’s most prominent proponent, citing it on the campaign trail as the best path to universal coverage despite his earlier support for single-payer health care. He is selling it as the more politically palatable solution. (vox.com)
Es ist faszinierend zu sehen, wie sich in der Healthcare-Debatte das Overton-Fenster verschiebt. In der Obama-Ära wurde der ACA als quasi radikalste, und am weitesten außen liegende, Alternative gesehen. Nun, zwei Jahre später, gilt sie in der gesamten Partei als inakzeptabel weit rechts außen. 2010 waren sich alle führenden Democrats einig, dass auch nur die Inklusion einer "public option" das Scheitern des Gesetzwerks bedingen würde. Heute ist eine public option die moderateste Option, die diskutiert wird. Und die Republicans haben sich das selbst zuzuschreiben. Hätten sie nicht an ihrer extrimistischen Maximallösung festgehalten, Obamacare ersatzlos abschaffen zu wollen, wäre der Boden nun bei weitem nicht so fruchtbar für weitreichendere Lösungen.

Sonntag, 24. März 2019

Rinks und lechts - Ein Streitgespräch über politische Standortbestimmungen

Hier im Blog gibt es immer wieder Streitigkeiten darüber, wer oder was eigentlich links, rechts oder mittig ist. Stefan Pietsch und Stefan Sasse haben deswegen beschlossen, ein offizielles Streitgespräch zum Thema zu führen, in der Hoffnung, wenigstens für die Diskussion im Blog etwas Klarheit ins ideologische Durcheinander zu bringen.

Stefan Pietsch: In Deutschland stand wegen seiner Geschichte der Begriff des Rechten lange auf dem Index. Erst allmählich ist eine Einteilung, wie sie in den meisten Demokratien üblich ist, auch bei uns akzeptabel. Persönlich geben mir solche Definitionen wenig, im Politikstudium wird klassisch von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus gelehrt. Die drei Grundrichtungen der politischen Einstellung gibt es jedoch höchst selten in Reinkultur. Als Kind eines sozialliberalen Elternhauses war ich lange dem SPD-Spektrum zugeneigt, doch die, ja, Rücksichtslosigkeit gebenüber den zutiefst menschlichen Aspekten des Miteinanders hat mich zu jemanden werden lassen, der sich als liberal-konservativ bezeichnet.

In meiner Wahrnehmung gibt es zwei Typen von links gestrickten Menschen. Da ist der Typus Steinbrück, Gerhard Schröder oder für die noch älteren Semester Klaus von Dohnanyi, die das Edle und Aufrechte der linken Szene verkörpern. Leider stirbt dieser politische Schlag zunehmend aus. An seine Stelle tritt eine Melange aus idealistisch gesinnten Altkadern wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, denen jede Eleganz abgeht, welche aber die Sehnsüchte lebensunerfahrener junger Menschen bedienen. Und es gibt eine neue Bohème im Gefolge der Grünen, die einen seltsamen Protetantismus von Verboten und strengen Geboten pflegen, das Ideal eines modernen Menschen entwerfen, der aber wie in jeder Religion nur die wenigsten zu folgen vermögen. In dieser atheistischen Version des guten Menschen avanciert jeder, der nicht zumindest in Teilen vegan lebt, sich nicht sofort nach genderneutraler Bezahlung erkundigt und armen Migranten nicht sofort mit offenen Armen begegnet, zu einem subversiven Subjekt des Ewiggestrigen.

Ich sprach anfangs von den menschlichen Aspekten, die heutige Linke nicht selten ausblenden und erwähnte bereits früher, dass in diesen Milieus Begriffe wie Eigenverantwortlichkeit, Vertrauen und Glaubwürdigkeit sowie Rechtsstaatlichkeit auf einem imaginären Index stehen. Weder finden sich diese Worte in politischen Reden, noch werden sie in Diskussionen als Grundlage allen überhaupt nur registriert. Doch ohne diese Eigenschaften und Regeln ist ein ziviles Zusammenleben nicht möglich.

Stefan Sasse: Die Begriffe "links" und "rechts" sind, wie du richtig erkenntst, nicht übermäßig aussagekräfigt. Ich verwende für Standortbestimmungen daher auch häufiger die Achse "progressiv <----> konservativ", und habe als Alternative einmal vorgeschlagen, "offen" und "geschlossen" zu verwenden. Denn die Überlappungen innerhalb der Lager sind ja oft die Crux an der Geschichte. Wenn etwa die LINKE die NATO und die EU ablehnt, und die AfD das auch tut - ist das dann links oder ist es rechts? Aus dieser Verwirrung kommen ja dann auch diese Blödsinnsargumentationen wie dass die NSDAP in Wahrheit eine linke Partei sei, oder ähnlicher Käse.

Dazu kommt die verbreitete Neigung, dem Lager, dem man selbst zuneigt, positive Eigenschaften zuzuschreiben. Du machst das ja in deinem Eingangsstatement ähnlich: Es gibt zwei Arten von Linken, die mit denen du wenigstens teilweise übereinstimmst (die Guten) und die, die du ablehnst (die Schlechten). Und das ist völlig normal, weil die Begriffe eben nicht eindeutig geklärt sind.

Ich selbst sehe mich beispielsweise auch nicht als links. Das liegt vermutlich daran, dass mit dem Wort ein gewisser Ballast an Positionen mitkommt, die ich nicht teile, ähnlich wie das bei dir und Erwin Gabriel mit dem Begriff "rechts" der Fall ist. Du hast allerdings damit recht, dass "rechts" im politischen Diskurs gerade enttabuisiert wird. Wir sind noch nicht so weit, dass die CDU sagen könnte, sie wolle nach rechts rücken, aber der Begriff braucht nicht mehr die heißen Beißzangen wie früher.

Vielleicht sollten wir daher damit beginnen, eine Art Konsens zu schaffen, was unzweifelhaft unter rechts und links fällt. Und das ist in meinen Augen nicht viel. Ein grundlegendes Bekenntnis zum Sozialstaat etwa findet sich in beiden Lagern. Individualismus gegen Kollektivismus lässt sich auch nicht nutzen, weil links wie rechts kollektive Ideen haben (auf der Rechten im Rahmen von "Volk", auf der linken eher klassenorientiert). Auch eine Schiene von national vs. international ist wenig aussagekräftig.

Am ehesten scheint mir daher eine Teilung bei den Werten möglich zu sein, womit wir wieder in der Schiene "progressiv vs. konservativ" sind. Auf der Rechten ist man eher am Traditionellen ausgerichtet, am Althergebrachten, am Natürlichen, am Bewährten. Auf der linken sieht man die aktuelle Gesellschaft als defizitär und versucht, sie zum besseren zu ändern. Beide sehen ihre jeweiligen Werte als Bedrohung; die Rechte sieht in den linken Vorstellungen eine Gefährdung der natürlichen Ordnung, während linke eine Tradierung unterdrückerischer Systeme sehen. Aber sonderlich konkret ist das alles nicht. Wie siehst du auf diese Thematik?

Stefan Pietsch: Jede politische Standortbestimmung hat so ihre Tücken. Parteien wie die LINKE und die AfD sind in Teilen eher reaktionär, wenn in Programmatik und Vorstellungen Verhältnisse angestrebt werden, die vielleicht vor Jahrzehnten gegeben waren. So sind für mich Ideen von einem völligen Verbot der Abtreibung, von einer kulturell homogenen Gesellschaft oder von Spitzensteuersätzen von 60, 70 Prozent nebst Rückkehr zum Anrechnungsverfahren schlicht reaktionär. Alle diese Positionen sind auf die Restauration vergangener Verhältnisse gerichtet. Der eine wird manchem zustimmen und anderes vehement ablehnen, aber das Merkmal bleibt.

Dann gibt es jedoch andere Themenfelder, wo sich Positionen nur mit dem klassischen Schema des Konservativen, Liberalen und Sozialistischem umschreiben lassen. Der Schutz ungeborenen Lebens scheint eher ein konservatives Merkmal zu sein, die Berechnung des potentiellen Steuerbetrages allein vom Existenzminimum aus dagegen etwas eindeutig sozialistisches. Was folgt daraus? Deine Vorschläge ergänzen das Schema ohne das Alte vollständig ersetzen zu können.

Ich finde die Einteilung in Links und Rechts nicht grundsätzlich falsch und auch nicht die Zuschreibung auf Personen. Menschen wollen Orientierung und solche Schemata bieten diese. Unter der politischen Gesäßgeographie können sich die meisten etwas vorstellen und seien es voreingenommene Bilder. Das gilt nicht für Einteilungen wie „progressiv“ und „nicht-progressiv“, das ist etwas für politologische Seminare. Deswegen habe ich kein Problem, mich heute unter rechts einzuteilen, obwohl ich mich in der Mitte der Gesellschaft stehend empfinde. Demoskopische Erhebungen, die ich von Zeit zu Zeit ausfülle, überraschen mich. Entgegen der eigenen Erwartung befinde ich mich nur mit einem Teil meiner Ansichten in der Minderheit, mit anderen in der Mehrheit. Das wird den meisten so gehen.

Was macht also jemanden zum Rechten? Ein typisches und gleichzeitig klassisches Merkmal der Unterscheidung ist das Maß der Überwachung, das der politisch Interessierte dem Staat zubilligt. Während Rechte im Bereich Sicherheit, Migration, Internet und sozialer Sicherheit nach der Allgegenwart des Staates rufen und sich in wirtschaftlichen Fragen libertär verhalten, findet sich das Spiegelbild dazu auf der Linken. Beide Seiten haben also ein ambivalentes Verhältnis zum Staat und seinen Aufgaben. Als liberal geprägter Mensch stehe ich libertär zu beiden Seiten und bin daher nicht klassisch rechts. Ich halte nichts davon, Menschen Vorschriften über ihre Lebensweise zu machen oder Sozialhilfeempfänger zu überwachen.

Allerdings, und da bin ich eindeutig konservativ, glaube ich an die Stabilität von zwischenmenschlichen Beziehungen. Eine Gemeinschaft besteht nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Pflichten, die sich nicht in Gemeinschaftszahlungen erschöpfen. Wenn Menschen andere schädigen – durch schlechte Erziehung, durch Abtreibung, durch Ausnutzen von sozialen Regelungen – braucht es staatliche Korrektive. Diese bestehen in Prüfungspflichten für Minderjährige, für abtreibungswillige Schwangere und Budgetzuteilungen für Transferempfänger. Und ich muss küssende schwule Paare nicht, sagen wir, ästhetisch finden ohne ihnen trotzdem emotional das Recht zuzugestehen, so zu leben.

Stefan Sasse: Ich möchte das alte Schema auch eher ergänzen als ersetzen. Ich stimme dir außerdem in deiner Unterscheidung von reaktionär und konservativ absolut zu. Auch deine eigene politische Standortbestimmung zeigt die Grenzen des Systems und dass es ergänzende Metriken braucht. Wahrscheinlich muss die Rechts-Links-Achse für jedes Themengebiet einzeln benannt werden. Etwa wie du es bei den Fragen der Freiheitsrechte tust. In manchen Fällen verbitten sich die Linken jede Einmischung des Staates, in anderen die Rechten, und umgekehrt finden Linke in manchen Bereichen starke Regulierungen völlig in Ordnung, während in gegenteiligen Fällen die Rechten sich wünschen, dass der Staat aggressive Einmischung betreibt. So etwas wie Abtreibung ist ein wunderbares Beispiel, wo diese Grenzlinien verlaufen, oder umgekehrt eine Frage wie die Zuckersteuer oder so was.

Ich denke dass es wichtig ist, dass wir diese Spektren klar voneinander abgrenzen. In dieser Sichtweise wäre quasi der Wunsch nach Stabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, wie du das so schön formulierst, konservativ, während ein Verbot von Abtreibung und eine Einschränkung der Frauenerwerbstätigkeit reaktionär wären. Was hältst du denn für die Gegenstücke auf der Linken?

Stefan Pietsch: Das Thema Abtreibungen wird auch von konservativer Seite von verschiedenen Werten überlagert, insbesondere die christliche Sicht auf den Lebensschutz. Ich kenne Konservative, die, z.B. Frauen, eine liberale Einstellung zum Abtreibungsrecht vertreten, dafür aber Familie sehr hoch hängen. Das Gegenstück auf linker Seite wird derzeit in einiger Vehemenz debattiert. So treten maßgebliche Vertreter der Democrats wie die deutschen Jusos in Gänze dafür ein, Abtreibungen bis zur Geburt zuzulassen. Eine solche Haltung geht weit über jeden Common Sense hinaus. Das ist extremistisch und gleichzeitig bedauerlich, dass Linke sich davon nicht distanzieren.

Aber im Allgemeinen haben viele Rechte heute mit der Linken das Problem, dass sie die andere Seite schlicht als weltfremd und idealistisch empfinden. Anders als zu früher geht es nicht mehr um Werte, sondern der Glaube, im Besitz der endgültigen Wahrheit zu sein. Die von mir zu Beginn genannten Sozialdemokraten waren noch Zweifelnde, welche des öfteren die Erfahrung gemacht hatten, falsch zu liegen. Viele Vertreter der Grünen, Aktivisten von Grundeinkommensbefürwortern bis zur neuen Klasse der "Fridays for Future"-Bewegung sind keine Zweifelnden mehr, sondern moderne Kreuzritter, bereit, jeden zu bekehren oder an den öffentlichen Pranger des Wahrheitsleugners zu stellen. Ein alter Sozialdemokrat dieser Tage schrieb hier vor kurzem: Bedenke, dass der andere möglicherweise Recht haben könnte. Eine solche Zurückhaltung stirbt auf der Linken zunehmend aus und es verwundert mich daher nicht, dass der klassische Bereich des Linken schrumpft.

Am Ende ist es diese Selbstgewissheit gepaart mit der moralischen Herabwürdigung des anderen, die heute viele Menschen von Rechts bis zur Mitte abstößt. Was für die moderne Linke das verbindende Element ist, isoliert sie auch. Und wie jede ins Extreme neigende Ideologie geht die moderne Linke über die gravierenden inneren Widersprüche hinweg, negiert sie. Ein Beispiel: Inspiriert vom emanzipatorischen Ansatz wird das Weibliche als die überlegende Lebensform dargestellt, dem wegen paternalistischer Strukturen der gesellschaftliche Siegeszug, die Übernahme von politischen Ämtern und Unternehmensposten verwehrt wird. Doch warum das Weibliche dann doch zum Opfer wird, wenn es doch so überlegen ist, das wird mit einer Generalnorm weggewischt. Dass eventuell die Mehrheit der Frauen andere Lebensmodelle bevorzugt als ihre Vordenkerinnen propagieren, kommt nicht vielen auf der Linken in den Sinn. Für mich als Liberal-Konservativen bildet da die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder ein angenehmes Gegenstück.

Stefan Sasse: Es gibt aber auch gerade in den USA genug Konservative, eine extremistische Anti-Haltung zum Abtreibungsrecht vertreten. - Aber geschenkt, wir reden von Deutschland. Ich finde Begriffe wie "common sense" (oder "gesunder Menschenverstand") problematisch, gerade bei ethischen Fragen. Was heute common sense ist, kann in zehn Jahren schon als rückwärtsgewandt gelten - oder als irre. Je nachdem.

Was deine "ich könnte falsch liegen"-Einstellung angeht, stimme ich dir völlig zu, dass das ein positiver Zug ist. Aber deine Beispiele sind merkwürdig. Kristina Schröder etwa fällt dir ja weniger positiv auf, weil sie Raum für Fehler lässt, sondern weil sie deine Meinung abbildet. Denn Selbstgewissheit, gepaart mit moralischer Herabwürdigung, ist wahrlich kein linkes Alleinstellungsmerkmal. Oder muss ich dich an zahlreiche herablassend-moralisierende Kommentare deinerseits über die Haltung von Linken zu Schulden und Wirtschaftspolitik erinnern, in der du mit der Aura der Unfehlbarkeit (dank ausufernder Erfahrung in Führungspositionen) die Welt erklärst? Es ist en vogue, uns Progressiven das Moralisieren vorzuwerfen, aber sowohl Liberale als auch Konservative können das auch sehr gut selbst. Ihr kleidet es halt nur in "common sense".

Aber ich fürchte, wir treten gerade abseits des eigentlichen Argumentationspfads. Was ich für einen wichtigen Diskussionspunkt halte ist weniger, warum wir Progressiven aus deiner Sicht und ihr Konservativen aus meiner Sicht falsch liegt, sondern wo die akzeptablen Grenzen liegen. Denn wir lehnen zwar gegenseitig unsere fiskalpolitischen Einstellungen ab, sind uns aber glaube ich einig darin, dass sie vertretbare politische Positionen darstellen. Sowohl eine stärker kreditfinanzierte staatliche Investitionspolitik als auch eine eher den Prinzipien des Ordoliberalismus verhaftete Wirtschaftspolitik sind ja ohne Systemwechsel durchsetzbar.

Gleiches gilt auch für das Abtreibungsrecht. Wenn es eine Mehrheit für Abtreibungen bis in den zehnten Monat gäbe, würde die Bundesrepublik nicht in ihren Grundfesten erschüttert, und wenn man sie auf die ersten sechs Wochen beschränkte auch nicht (auch wenn wir beide das sicherlich ablehnen würden). Wo also liegen die Grenzen dessen, womit man sich rechts wie links noch innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegt?

Stefan Pietsch: Ich denke die wenigsten Rechten, wenn ich das an dieser Stelle als Sammelbegriff für Konservative und Liberale nehme, empfinden sich ob ihrer politischen Haltung und moralischen Werte als bessere Menschen. Das jedoch wurde mir so schon des Öfteren in Blogs von Linken entgegen geschleudert. Und auch die den Grünen zugeneigten Milieus kommen gerne mit dem moralischen Impetus.

Ich werfe jungen Menschen nicht vor, dass sie wenig Lebenserfahrung haben. Ebenso wenig wie ihren Idealismus. Der ist so notwendig wie die Erfahrung der Alten. Ohne Idealismus und Enthusiasmus wäre unsere Welt arm. Doch es gibt zwei Verhaltensweisen, die nicht allein in Debatten besonders ärgerlich sind, das Diskutieren ohne Rücksicht auf Geschichte und Ignoranz. Auch Neoliberale entziehen sich nicht der Logik und Evidenz von Keynes' Konjunkturtheorie. Es gab in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte zahlreiche Versuche, diese anzuwenden und sie waren weitgehend erfolglos. In den Siebziger und Achtzigerjahren bauten sich so erhebliche Staatsdefizite auf, die liberalen Verschuldungsregeln des Grundgesetzes wurden oft gebrochen. Die Schuldenbremse ist das Ergebnis dieser Erfahrungen. Wer also daran auch nur argumentativ rütteln will, muss Sicherheiten bieten, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Doch kein Linker lässt sich nur ansatzweise auf solche Schlussfolgerungen ein.

Ich schätze an Kristina Schröder das, was ich generell an Menschen schätze. Sie war ein Vorbild als Ministerin (Dienerin). Gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag und der Koalitionsvereinbarungen exekutierte sie den politischen Willen der Regierungsspitzen, selbst gegen eigene Überzeugungen. Entsprechend ihren Überzeugungen ging sie aus der Politik und widmet sich heute auch der Erziehung ihrer Kinder. Eine Frau mit Haltung, unaufdringlich und Gemeinschaftssinn wie Verantwortungsgefühl.

Deine Frage lässt sich kaum beantworten. Das Grundgesetz lässt der Politik so viel Spielraum, weil dessen Väter nicht absehen konnten, wohin sich die Weltläufe entwickeln würden. Demgemäß haben beide Seiten ein großes Feld, wo sie sich austoben könnten. Das reicht jedoch extremistisch veranlagten Parteien wie der AfD und den LINKEN nicht, die in einem gewichtigen Teil ihrer Ideen nicht ganz auf dem Boden der Verfassung stehen oder sie leichter Hand schlicht ignorieren. Nein, ich glaube so nähern wir uns nicht der Unterscheidung. Nach meinem Dafürhalten lassen sich Links und Rechts heute weniger durch einzelne politische Positionen, sondern durch generelle Haltungsfragen abgrenzen, so welche Bedeutung der Eigenverantwortung eingeräumt wird. Siehst Du darin einen Ansatzpunkt?

Stefan Sasse: Du argumentierst letztlich, dass das Beharren auf Begrenzung der Schulden ökonomischer Rationalität entspricht, aber gleichzeitig ist es immer auch moralisch aufgeladen. Ich habe kein Problem damit wenn du mir sagst, dass ich moralisch argumentiere (und für mich in Anspruch nehme, die richtige Moral zu vertreten; wäre man nicht von der Richtigkeit der eigenen Moral überzeugt, hätte man sie ja nicht). Was mich stört ist die Behauptung, dass NUR die Linke moralisch wäre. Und eine Variante davon scheint mir auch die Vorliebe für Schröder hier zu sein. Haltung hat auch Lafontaine. Du magst Schröders Haltung halt. Das ist ja völlig ok. Ich habe witzigerweise auch mal zwei Loblieder über sie geschrieben, damals 2010/2011, bevor ich bemerkt habe, dass sie falsch lag. Da bewunderte ich sie für dasselbe wie du. - Aber das ist mal wieder eine Stilkritik.

Das Grundgesetz hatte auch Mütter, wenngleich nicht viele ;) Ich denke wir sind uns einig beim Spielraum, den das Grundgesetz einräumt. Der ist grundsätzlich hoch, und sicherlich höher, als es im öffentlichen Diskurs jeweils behauptet wird. Ich hasse das Argument, dass das Grundgesetz diese oder jene Politik ausschließe, immer mit Verweis auf die ersten 20 Artikel, als ob man das daraus so einfach ableiten könnte! Aber ja, sowohl LINKE als auch AfD operieren in manchen Bereichen ziemlich an den Rändern dieses Spielraums herum. Insgesamt aber sind beide Parteien (noch) innerhalb des Konsenses, zumindest überwiegend.

Und damit kommen wir zur Unterscheidung. Ich sehe die Eigenverantwortung definitiv als ein Unterscheidungsmerkmal, aber ich tue mich schwer, es für die Links-Rechts-Unterscheidung zu nutzen. Das ist eher was, was die Liberalen vom ganzen Rest abhebt. Sozialdemokraten, Sozialisten und Grüne auf der einen und Konservative und - wie nennen wir sie? Illiberale Demokraten, à la Orban? - auf der anderen Seite sind sich ja durchaus ähnlich in der grundsätzlichen Einschätzung, dass die Gesellschaft eine gewisse Rolle spielt und die Eigenverantwortung innerhalb dieser Gesellschaft ihre Grenzen und Stützen findet. Bei Konservativen ist das eher die Familie, weiter rechts außen das "Volk", auf der linken sind es verschiedene Formen des Staatswesens und der Gesellschaft als nebulösem Ganzen (Stichwort "Solidarität"), die da entsprechend begrenzend wirken. Die einzigen, die wirklich alle diese Aspekte ablehnen, sind die Liberalen, und die waren immer schon nur eine Splittergruppe. Und da fangen wir noch gar nicht von den inhärenten Widersprüchen an, die etwa Monopolisierung und Kapitalakkumulation und die Fortschreibung von Klassenprivilegien da haben; aber das führt zu weit. Als Rechts-Links-Unterscheidung alleine finde ich es aus diesen Gründen eher problematisch.

Ich denke ergiebiger ist da zu schauen, wer als Teil der In-Group definiert wird. Ich habe ja oben bereits anklingen lassen, dass auf der Rechten eher national-ethnische Kriterien vorherrschend sind (weswegen sich die CDU ja auch mit der Migrationsrechtsreform und den Flüchtlingen so schwer tut), während auf der Linken eher klassen- und solidaritätsorientierte Aspekte vorherrschen, à la "du gehörst zur Gruppe wenn du dich zugehörig fühlst", was im anderen Extrem dann wieder sehr beliebig und schwammig werden kann. Was denkst du über diese Achse? Es wäre auch eine, auf der die Liberalen tatsächlich ziemlich genau in der Mitte sitzen, was dir attraktiv sein dürfte. ;)

Stefan Pietsch: Wir scheinen Konsens zu haben, was die Bewertung der AfD und der LINKEN an den Polen des alten Spektrums betrifft. Die LINKE operiert mit ihren steuerpolitischen Vorschlägen und Enteignungsfantasien so an den Grenzen der Verfassung, dass im Falle der Umsetzung über jeden Eingriff in Karlsruhe entschieden werden müsste. Schon das ist für einen bürgerlich denkenden Menschen eine absolute Absurdität. Und eine Partei, die deutsche Staatsbürger im Ausland entsorgen möchte, ist ohnehin nicht von dieser Verfassung.

Das rechte Bürgertum hält Moral mehrheitlich für keine Kategorie der Politik, wertbasiert dagegen schon. Konservative wie Liberale vertrauen auf Regeln des Zusammenlebens, weswegen Tabubrüche so unbeliebt sind. Aber Deine Namensnennung bringt mich auf einen sehr guten Vergleich, der gravierende Unterschiede zwischen Links und Rechts deutlich macht. Zwei Politiker, der eine ein sogenannter Wertkonservativer, der andere ein moderner Linker. Ihre gemeinsame Geschichte beginnt im Jahr 1990, als beide im Abstand von weniger als 6 Monaten Opfer eines Attentats werden.

Es ist klar, von wem die Rede ist. Wolfgang Schäuble hat den Großteil seines politischen Lebens in der gestaltenden Politik zugebracht, er hat gedient, er hat sich zurückgenommen, obwohl er der talentierteste Politiker seiner Generation in der CDU war. Er hielt seine Partei nach dem Machtverlust zusammen und stützte auch die Regierung in einer die Grundfesten des Konservativen berührende Frage in der Eurokrise. In einer Frage von Moral hat er sich für seine Werte entschieden, als er mit dem spendenumwitterten Altkanzler Helmut Kohl brach. Niemand hat je bezweifelt, dass dies aus zutiefst moralischen Gründen geschah.

Auf der anderen Seite Oskar Lafontaine, der immer der populistische Oppositionspolitiker blieb, wo die Geschichte immer hinterher passt. Seinen ersten Landeswahlkampf führte er gegen die damals aufstrebenden Grünen, in dem er sich, mit dem populären Umweltpolitiker Jo Leinen an seiner Seite, als der bessere Grüne gerierte. Fünf Jahre später war die Sache anders, damals machten die rechtsextremen Republikaner Furore und der saarländische Ministerpräsident wandelte sich zu einem Nationalisten light. Er stürzte nicht nur fulminant einen taumelnden Parteichef, sondern half bei der Zerstörung gleich zweier linker Parteien tatkräftig. Sowohl der Niedergang der SPD wie der der LINKEN sind mit dem Namen Lafontaine verbunden. Vor seinem spektakulären Rücktritt im Frühjahr 1999 machten Gerüchte die Runde, er wolle den eigenen Kanzler in die Resignation treiben. Als er den Dienst nach wenigen Monaten quittierte, in denen er die halbe Welt gegen sich aufgebracht hatte, erklärte er sich nicht der Öffentlichkeit. Erst später kamen Behauptungen auf, er sei unter anderem wegen der Kriegspolitik der Regierung zurückgetreten. Zweifel sind erlaubt, kein Kabinettskollegen von damals kann sich an entsprechende Äußerungen diesbezüglich vom Finanzminister erinnern.

Das sind Haltungsfragen. Rechte akzeptieren die Brüche des Lebens eher. Dick Cheney haderte nicht mit der Homosexualität seiner Tochter, er hielt sie aus der Politik heraus. Linke neigen nicht selten dazu, nachträglich Brüche zur Konsequenz zu erklären. Ein typisches Muster dafür zeigt sich in der Annexion der Krim. Erst wird geleugnet und nachdem Fakten geschaffen sind, wird die unmoralische Tat zur wertorientierten Konsequenz verklärt.

Damit sind wir bei einem weiteren Vorhalt: anders als Du es darstellst, hat die Linke den Begriff der Solidarität gekapert und ihn in sein Gegenteil verkehrt. Sowohl Begriff als auch das gemeinte Verhalten stammen aus dem bürgerlichen familiären Empfinden. Familienmitglieder stehen füreinander ein, aber werden auch in dem Verbund diszipliniert. Jede familiäre Solidarität hat ihre Grenzen. Für die Linken zählt die Familie wenig bis nichts, das Ideal ist der alleinlebende Individualist und jeder vermeintlich Bedürftige oder Benachteiligte genießt die grenzenlose gesellschaftliche Solidarität der Gemeinschaft, finanziert nach dem Robin Hood-Prinzip. In einem solchen System muss jede Frage nach Eigenverantwortung zwangsläufig untergehen. In öffentlichen Debatten lebt die Linke von der ewigen Putzfrau, die trotz Fleiß keinen Lebensabend in Würde verbringen kann – so als würde der Wohlstand der Nation von fleißigen Putzfrauen abhängen, die es natürlich in Afrika nicht gibt. Und auf der anderen Seite wird gefallenen öffentlichen Personen des Bürgertums wie Uli Hoeneß oder zu Gutenberg nicht geglaubt und diese ins Feuer der ewigen Verdammnis geworfen.

Stefan Sasse: Wo liegt denn der Unterschied von "Moral" und "Wert"? Das ist doch pure Semantik. Und ich bin wahrlich kein Lafontaine-Fan (mehr), aber die negative Art, wie du ihn darstellst, könnte ich sicherlich auch auf Wolfgang Schäuble umlegen. Der Mann hat immerhin Schmiergelder persönlich im Aktenkoffer entgegengenommen; wenn das die überlegende Wertebasis der Konservativen ist, weiß ich auch nicht. Vielleicht akzeptieren wir einfach, dass diese Zuschreibungen auf unseren Präferenzen beruhen und weniger auf objektiv feststellbaren Charaktermerkmalen? "Politiker X ist ein Musterbeispiel für Moral/Wertebasis, weil ich mit seinen/ihren Positionen übereinstimme" ist schließlich letztlich eine Nullaussage.

Ich kann daher natürlich auch deine Invektive gegen "die Linken" so nicht akzeptieren, und ich könnte leicht eine über Konservative schreiben. Aber wozu soll das führen? Ob es jemals eine "reine" Form des Begriffs der Solidaridät gab, der von der Linken auf gemeinste Weise gekapert und missbraucht wurde, ist für unsere Zwecke reichlich irrelevant. Der Begriff hat eine neue Bedeutungsebene angenommen, und die Bruchlinien zwischen beiden Seiten sehen wir ja beide - auch wenn wir uns naturgemäß in der Bewertung uneins sind.

Aber das ist ja grundsätzlich in Ordnung. Ich würde vielleicht noch eine andere Stoßrichtung dieser Debatte eröffnen. Man erkennt denke ich die gemäßigte Rechte und Linke auch daran, inwiefern sie Siege der anderen Seite anzuerkennen bereit sind. Die Beispiele aus der bundesrepublikanischen Geschichte sind ja hinreichend bekannt: Marktwirtschaft und Westbindung werden von der SPD, die Reformen der 1970er Jahre (wie das Betriebsverfassungsgesetz, das Scheidungsrecht u.v.m.) und die Ostpolitik von der CDU anerkannt und als Basis genutzt. Ein wichtiger Bestandteil ist die grundsätzliche Akzeptanz der Legitimität des politischen Gegners. Wir mögen uns ständig bei bestimmen Themen in die Haare kriegen, aber wir akzeptieren das Ergebnis des demokratischen Prozesses. Die Ränder tun das nicht; hier gelten dann "Meinungsmache", "Lügenpresse", "Korruption" oder "Verrat" als Merkmale dafür, dass der "wahre Volkswille" (den natürlich nur der jeweilige populistische Rand fehlerfrei zu lesen in der Lage ist) hintergangen wurde.

Stefan Pietsch: Meiner Ansicht nach führt Dein Aspekt der Anerkennung gegenseitiger Erfolge nicht weit. Schließlich hat das zum einen eher mit Realpolitik zu tun, zum anderen steckt dahinter auch viel Legende. Und wir sollten den Fokus nicht nur auf Deutschland und die USA richten. So führtest Du vorher an, das Nationale sei ein Merkmal der Rechten und übersiehst dabei, dass Linke sich vom griechischen Premier Tsipras über die italienische 5-Sterne-Bewegung bis hin zu Mélenchon stark nationaler Elemente bedienen. Die Linke scheint immer zwischen Extremen zu pendeln.

Wie erklärst Du Dir, dass dem linken Lager seit 1990 die Wähler davonlaufen und die Zugewinne wie idealistisch gesinnte Jugendliche diese Verluste nicht ausgleichen konnten? Wie ist zu bewerten, dass die Linke in der westeuropäischen Geschichte gefühlt 20% der Zeit regiert hat und die politische Rechte die natürliche Regierungswahl ist? In Frankreich konnten die Sozialisten gerade 3 Regierungszeiten den Präsidenten stellen, und bevor sich die Wähler für Macron entschieden, war der Konservative François Fillon der natürliche Nachfolger, der trotz Skandalen 20% im ersten Wahlgang erreichte. Daran setzte ich mit meinem Vergleich an: Lafontaine gefiel sich im politischem Leben als derjenige, der es hinterher besser wusste, während Rechte sich bewusst sind, im Handeln sich auch die Hände schmutzig zu machen. Nebenbei: der Vorgang über die Spendenannahme ist bis heute umstritten.

Werteorientierung findet sich nach Innen, die Moralmonstranz nach Außen. Es gibt Zeitgenossen, die wegen ihrer inneren Überzeugungen auf einen SUV als motorisierten Untersatz verzichten. Das ist ehrbar und niemand stört sich daran, für manche ist das genau ein Antrieb. Der Moralgetriebene klagt die Gesellschaft an, wie überhaupt die Mitmenschen noch Auto fahren können angesichts der verherrenden Schäden. Die Linke ist durchsetzt von letzterem und jedes Verhalten und jede Entscheidung muss moralisch überhöht werden. Dabei sind die Beispiele Umweltschutz, Rente, Mindestlohn, Besteuerung völlig austauschbar. Am Wohlsten, das hat der Parteitag der SPD zur Europawahl wieder gezeigt, fühlen sich Linke, wenn sie, losgelöst von realen Verhältnissen, Forderungen in die Welt setzen können. Im Nationalen zählt hierzu zweifellos die Debatte um eine Mindestrente. Doch der Slapstick schlechthin war für mich, als 2015 Tspiras in Griechenland sich erst ein Wählervotum holte, keinesfalls einschränkenden Reformen sein Placet zu geben, um binnen Wochenfrist von den EU-Partnern eingenordet zu werden.

Noch zu den eingangs erwähnten Legenden: die Linke klebt bis heute an der Geschichte, die von Willy Brandt eingeleitete Entspannungspolitik sei ursächlich für die Auflösung des Ost-West-Konflikts. Historisch ist das nicht haltbar. Weder haben die Greise im Politbüro der KPdSU aus Altersweisheit und Zeichen der Entspannung Michail Gorbatschow ins Amt des Generalsekretärs gehievt, noch gab Honecker die Macht ab, weil er vertrauenswürdige Partner im Westen gefunden hatte. Auf der anderen Seite haben weder Helmut Kohl noch Franz-Josef Strauß ihr Handeln so überhöht, dass Anerkennung der DDR und Millionenkredit nun den Sozialismus über die Klippe gekippt hätten.

Stefan Sasse: Dass die Ostpolitik überhöht wird ist völlig richtig, aber das ändert ja nichts daran, dass sie seinerzeit auf Seiten der Rechten fanatisch abgelehnt wurde. Die CDU war damals schnell mit dem Vorwurf des Landesverrats bei der Hand, das musst du nicht beschönigen. Die Erkenntnis, dass man sich beim Regieren die Hände schmutzig machen muss, kommt Konservativen nämlich auch auf zauberhafte Weise immer dann, wenn sie an der Regierung sind, und wird dann in der Opposition vergessen. - Aber wie gesagt, ich würde wirklich gerne versuchen, die persönliche Bewertung der Themen rauszuhalten.

Du sprichst allerdings eine tatsächliche, reale Unterscheidung zwischen Links und Rechts an, die sogar die populistischen und extremen Pole betrifft. Ich habe 2011 darüber geschrieben, dass die Konservativen sehr gut im pragmatischen Akzeptieren von Kompromisslösungen sind, und dass die Linken stets zwischen Triumph und Verrat oszillieren und dass das massiv dazu beiträgt, dass sie so wenig an der Regierung sind. Linke hassen Kompromisse. Das ist auch die größte politische Schwäche dieser Seite des politischen Spektrums. Sebastian Haffner hat bereits 1982 die gleiche Beobachtung gemacht, als er in seinem Buch "Überlegungen eines Wechselwählers" die Rechte und die Linke mit Händen eines Rechtshänders verglich: gearbeitet wird hauptsächlich mit der rechten Hand, während die linke unterstützend gebraucht wird, irgendwie so ging die Metapher. Und er endete mit der fein-ironischen Feststellung, man solle nie vergessen, dass es auch Linkshänder gibt.

Die größten Erfolge der Linken finden nie statt, wenn ideologisch reine Vertreter an der Macht sind, die Lafontaines, Bebels und McGoverns. Erfolge in Regierungsarbeit werden dann erreicht, wenn die seltene Kombination eines pragmatischen, kompetenten Linken kommt. Die Brandts, Roosevelts und Obamas. Das liegt aber auch an einer Grundmechanik dieser beiden Seiten. Linke wollen den Status Quo verändern. Das ist der Kern, das Id ihres ganzen Daseins. Konservative wollen den Status Quo bewahren. Ich meine, das ist schon im Wort. Veränderungen blockieren ist aber IMMER einfacher als sie aktiv herbeiführen. Deswegen halten Konservative problemlos 16 uninspirierte Regierungsjahre aus, solange nur alles im Großen und Ganzen stabil bleibt, während Linke häufig nach ein oder zwei Regierungsperioden völlig ausgebrannt sind und dem Irrglauben anhängen, sich in der Opposition "regenerieren" zu müssen. Das ist und bleibt die Achillesferse.

Und wie gesagt, das erstreckt sich auch auf die Ränder. Die Basis von Rechtsradikalen oder Rechtspopulisten ist wesentlich eher bereit, an die Regierung zu gehen und dort irgendwelche Ziele umzusetzen und Niederlagen zu akzeptieren als die Linke. Ich halte es für unvorstellbar, dass Bernie Sanders' Basis bereit wäre ein ähnliches Ausmaß an Niederlagen für einige symbolische Siege hinzunehmen wie Donald Trumps.

Stefan Pietsch: Die Metapher gefällt mir. Die Frage ist aber, warum sich die Linke nicht verändern kann. Es gehört zur Normalität des Lebens, dass Unterstützergruppen wegsterben oder verschwinden. So war lange das Ziel Linker, Menschen den Aufstieg zu jenen zu ermöglichen, die bereits auf dem Sonnendeck liegen. Diesen Anspruch haben linke Parteien weitgehend aufgegeben. Mehr noch: seit den revolutionären Zeiten des Jahres 1990 haben sich die konservativen Parteien gewandelt, sind zu gestaltenden Kräften geworden mit erheblichem Veränderungswillen. Während in Deutschland die SPD in den Wendejahren trotz politischer Opposition weitgehend ermattet war und keine Ideen für die Gestaltung des vereinigten Deutschlands zu entwickeln vermochte, trudelten auch die Schwestern in Spanien, Frankreich und Italien in die Agonie.

Es war die ermattete CDU, die Mitte der Neunzigerjahre lange gewachsene Probleme im Steuer- wie Sozialrecht angehen wollte. Es waren diese Konservativen, welche die europäische Integration vorantrieben und eine vorsichtige Neupositionierung der Außenpolitik angingen, wo SPD und Grüne bremsten. Wo sich Labour und Dems fragten, warum sie immer gegen die Rechten verloren, wandelte die kontinentaleuropäische Linke auf den Pfaden der Restauration. Frankreich führten in Zeiten der Cohabitation unter Premier Lionel Jospin die 35-Stunden-Woche ein und weitete die Frühverrentung aus. In Italien fragte die Linke nach den postsozialistischen Pfaden, nachdem gerade das sozialistische System kollabiert war und ermöglichte den in der Korruption versunkenen Konservativen die schnelle Rückkehr an die Macht.

Spätestens mit dem (Teil-) Machtverlust 2005 wandelt auch die deutsche Linke auf den Pfaden der Restauration. Im Steuer- und Sozialrecht werden Vorschläge der Achtzigerjahre hervorgekramt, während in Fragen der europäischen Integration, der Militarisierung und der Migrationspolitik einem naiven Ansatz gefolgt wird. Realpolitiker wie Sigmar Gabriel wurden auf die hinteren Bänke verdrängt. Es ist also genau anders wie Du es darstellst, Rechte und Linke haben die Rollen gewechselt. Heute sorgen sich die Rechten darum, den Kamin für den sozialen Aufstieg freizuhalten und die Linken machen sich zur Schutzmacht, jener, die ihren Status nicht mehr eigener Leistung, sondern Alter und Organisationskraft verdanken. Meine These: den Menschen gefallen zwar einzelne sozialpolitische Vorstellungen, aber ihr Leben wird nicht davon tangiert. Deutschland ist kein Volks von Putzfrauen und Dachdeckern. Wann also beschäftigt sich die Linke wieder mit Zukunftsfragen?

Stefan Sasse: Ich kann dir in der Diagnose der Malaise der Linken kaum widersprechen. Es ist ja kein Zufall, dass ausgerechnet jemand wie Macron zur Lichtgestalt aufsteigen konnte. Wir haben das Thema im Rahmen meiner Serie zu Glanz und Elend der Sozialdemokratie ja bereits einmal durchdekliniert. Möglich, dass der klassischen Linke tatsächlich der Dampf ausgegangen ist, wo es ironischerweise die Konservativen geschafft haben, sich zu erneuern. Eben auch ein Zeichen jenes Pragmatismus. Ich würde aber an deiner Stelle nicht zu sehr in Siegestaumel verfallen. Die Konservativen schicken sich gerade an allen Fronten an, den Untergang der Sozialdemokratie nachzudeklinieren. Eine konservative Kanzlerin hat, teils gegen die eigene Wählerschaft und Parteibasis, notwendige Änderungen durchgesetzt. Und alles, was jener Parteibasis und Wählerschaft einfällt, ist ein Zurück zu den Rezepten und Debatten der 1980er Jahre. Homoehe ja oder nein. Deutschland Einwanderungsland ja oder nein. Und so weiter.

Auf der Linken sehen wir gerade einen Kampf an mehreren Fronten. Die klassische Sozialdemokrate versucht, ihre fortbestehende Relevanz unter Beweis zu stellen (nicht sehr erfolgreich). Die - ich nenne sie einfach mal so - demokratisch-sozialistische Linke hofft, sie zu beerben, und endlich, vom Ballast der Zentristen und Reformer befreit, zu den Wurzeln zurückzukehren oder aber endlich dahinzukommen, wohin man schon immer wollte (Corbyn, Sanders, Lafontaine). Das klappt in manchen Ländern deutlich besser als in anderen. Und dann gibt im weitesten Sinne sozialliberale Bewegungen, die ebenfalls das Erbe antreten wollen; das sind etwa die Grünen Parteien, die Piraten, das sind die Democrats, das ist in einer gewissen Weise Macron. Das Gute ist, dass sich nirgendwo eine neokommunistische oder neostalinistische Linke abzeichnet, zumindest noch nicht.

Der Rechten könnte so was durchaus noch bevorstehen. Die Libertären bzw. Liberalen dürften ziemlich eindeutig eine kleine, aber einflussreiche Gruppe bleiben (so sich überhaupt auf der Rechten einordnen lassen, das geht in den USA etwa deutlich besser als in Deutschland). Aber der Kampf zwischen Reaktionären und Konservativen ist noch lange nicht entschieden, und was uns in Deutschland bisher erspart blieb, wofür es aber keine fortgesetzte Garantie gibt, ist eine Partei auf der Rechten, die sich christlich-fundamentalistisch gibt (also so was wie die PiS oder die Republicans) und dadurch ganz neue Überlappungen erlaubt.

Ich denke, und das könnte auch der Versuch eines Fazits sein, dass das gesamte politische System effektiv seit dem Fall des Ostblocks in Bewegung gekommen ist. Vielleicht sehen wir gerade so etwas wie den Höhepunkt dieser Entwicklung, bevor sich alles erneut auf zwei grundsätzlichen Achsen stabilisiert. Vielleicht ist es auch erst der Anfang. Vielleicht kommt auch eine Totalzersplitterung oder ein genereller Untergang des liberal-demokratischen Systems. Wir leben in interessanten Zeiten, und interessante Zeiten sind immer gefährliche Zeiten.

Stefan Pietsch: Eine stabile Demokratie lebt von einem gut austarierten politischen System, das alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen abbildet. Der Niedergang der Sozialdemokratie hat in maßgeblichen Demokratien wie Italien, den Niederlanden und Deutschland eine Lücke gerissen. In Frankreich und Griechenland wurde der Ausfall von PS und PASOK gut kompensiert, während in Spanien und Österreich die Mitte-Links-Parteien ihre Stellungen halten konnten. Dennoch habe ich den Glauben verloren, dass sich die Sozialdemokratie im Kern Europas nochmal erholen könnte.

In Deutschland hat sich die Union so verschoben, dass sie sicher bis Mitte des kommenden Jahrzehnts die einzige kanzlerfähige Partei sein wird. Sie stabilisiert das Bürgertum und bildet das System, um die die anderen Parteien kreisen. Die spannende Frage wird sein, wie sich bis 2030 das politische System anpassen wird, wenn die demographischen Veränderungen neue Milieus herausbilden werden. Eine wachsende Schicht von Alten, die einen vermögend, die anderen ärmer. Immer mehr bestens ausgebildete junge und mittelalte Menschen mit wahrscheinlich deutlich höheren Realeinkommen als jetzt stehen einem stärkeren Prekariat gegenüber. Und die Herausforderungen durch den Klimawandel werden Wirtschaft und Gesellschaft verändern, das Thema bildet möglicherweise die Haube über dem politischen Treibhaus.

In dieser neuen Gemengelage erscheint die Zukunft von SPD, LINKE und AfD höchst unsicher, Grüne und Liberale könnten weiter wachsen. Die Konservativen haben in den meisten westlichen Demokratien die Herausforderungen zur Veränderung und Anpassung angenommen. In Deutschland will niemand in der Union zurück zu den Zeiten um die Jahrtausendwende, da hilft der angeborene Pragmatismus des Bürgertums, den der Konservatismus immer am besten abzubilden wusste.

Stefan Sasse: Ja, das scheint mir die Trennlinien ordentlich zu umreißen. Ich denke wir kommen beide am selben Ende heraus: Wir erkennen die Bedeutung unserer jeweiligen Gegner für das Gesamtgefüge. Aber keiner von uns beiden wäre unglücklich, würde dieser seine Rolle aus der Opposition heraus ausüben. In diesem Sinne: Danke für das Gespräch!

Dienstag, 19. März 2019

Modern Monetary Framing

An der Peripherie des linken Lagers in den USA gewinnt gerade die so genannte "Moderne Geldtheorie" (Modern Monetary Theory, MMT) an Popularität. Dabei handelt es sich um eine ziemlich umfassende Wirtschafts- und Geldtheorie, die radikal mit diversen Konsensregeln bricht. Grob vereinfacht besagt MMT, dass Defizite irrelevant sind und dass Staaten, die über ihre eigene Währung verfügen (wie die USA) ihre Ausgaben durch Ausgabe dieser Währung decken können (und sollen). Steuern sind für MMT nur ein Weg zur Kontrolle der Inflation (indem ein Teil des ausgegebenen Geldes wieder eingezogen wird) und der Umverteilung. Finanzieren kann der Staat grundsätzlich erst einmal alles. Auch die Aufnahme von Schulden - respektive das Ausgeben von Schuldpapieren - dient nur der Steuerung des Leitzinses und damit der Inflationskontrolle, nicht der Finanzierung des Staates. Das ist, um es höflich auszudrücken, ein radikales Konzept. Diverse Ökonomen, Politiker und Journalisten haben deutlichere Begriffe gefunden.

Ich will an dieser Stelle nicht diskutieren, wie sinnig oder unsinnig MMT ist. Das liegt weniger daran dass ich denke, dass dies überflüssig ist, sondern vielmehr, dass mir die Sachkenntnis fehlt. Wenn sich also jemand bemüßigt fühlt, MMT aus wirtschaftlicher Sicht zu untersuchen, veröffentliche ich gerne den entsprechenden Artikel. Eine etwas ausführlichere Erklärung als meine findet sich im Handelsblatt, sozialistischer Umtriebe traditionell eher unverdächtig. Ich möchte das nur gleich als Bemerkung voranstellen, dass dies nicht mein Thema ist, weil ich keine qualifizierten Anmerkungen machen kann. Worum es mir stattdessen geht, ist eine andere, fast spannendere Betrachtung von MMT: die politische Seite.

Aktuell ist die Theorie, wie eingangs beschrieben, ein völliges Randphänomen. Ihre prominenteste Vertreterin ist Stephanie Kelton, Wirtschaftsprofessorin an der Missouri-Kansas City-Universität. Sie gehörte 2016 zu Bernie Sanders' Beraterstab und pflegt weiterhin enge Verbindungen zum linken Rand der Democrats, etwa zu Jungstar Alexandria Ocasio-Cortez, die sich jüngst prominent auf Kelton und MMT bezog. Neben den üblichen Verdächtigen wie dem Wall Street Journal oder dem Mainstream der Wirtschaftswissenschaftler kritisieren auch viele progressive Ökonomen Kelton und MMT.
Am öffentlichkeitswirksamsten war in den letzten Wochen wohl der Streit, den Kelton und Paul Krugman in ihren jeweiligen Kolumnen bei Bloomberg News und der New York Times ausfochten (Krugmans Kritik und die Antwort von Stephanie Kelton). Exemplarisch finden sich auch eine weitergehende Kommentierung durch den Chefökonomen von "The Week", Jeff Spross, und ein Generalangriff ("economic hubris") durch den progressiven Ökonomen Noah Smith. Auch hier gilt: Ich kann wenig Substanzielles zu diesem Streit beitragen, weil mir die Sachkenntnis fehlt und verweise an dieser Stelle auf die einschlägig gebildeten Kommentatoren.
Mich interessiert das politische Potenzial dieser Idee, denn wenn wir realistisch sind, werden die ökomischen Argumente in der Debatte ohnehin keine Rolle spielen, schon allein, weil sie fast niemand versteht. Stattdessen ist MMT politisch deswegen relevant, weil es den Democrats (und allen anderen progressiven Parteien weltweit) einen Ausweg aus einer Zwickmühle bietet, in der sie seit mittlerweile vier Jahrzehnten feststecken. Ich kann es nicht besser formulieren als Kevin Drum:
An interesting contrast between liberals and conservatives is playing out right now. Conservatives, as you probably recall, faced a problem 40 years ago: their concern over budget deficits always made them the bad guy. Democrats could spend with abandon, but Republicans had to be skinflints—and voters don’t like skinflints. Then, 40 years ago, Jude Wanniski published The Way the World Works and conservatives rushed to embrace his new gospel of supply-side economics. Tax cuts would supercharge the economy so powerfully that they could banish deficits even if spending went up. It was a free lunch so seductive that it remains conservative dogma to this day. Today the roles are reversed: liberals have big spending ideas and are tired of having to face deficit constraints that nobody else cares about. This time, the fiscal white knight galloping to the rescue is called Modern Monetary Theory, which says that taxes aren’t really necessary to fund the government. Basically, all government spending is funded by printing money.
Und das ist das Entscheidende. Wenn eine Generation von Politikern der Democrats an die Macht kommt, denen ausgeglichene Haushalte grundsätzlich nicht wichtig sind, bietet ihnen MMT die notwendige akademische Deckung, völlig ungeachtet dessen, wie belastbar sich die Theorie in der Wirklichkeit erweisen wird.

Der Vergleich, den Kevin Drum oben angestellt hat, ist dazu der Schlüssel. Die Republicans wollten unter Reagan sowohl ihre geliebten Steuersenkungen durchsetzen als auch ihre Militärausgaben haben, und das alles, ohne der eigenen Wählerschaft die Sozialleistungen zu kürzen. Die Antwort waren die Vodoo-Ökonomen, die in wissenschaftlich aussehenden Grafiken behaupteten, dass die magische Kraft dieser Politik die Steuereinnahmen so stark erhöhen werde, dass ein selbsttragender Aufschwung entstehen würde und...wir kennen das. Acht Jahre später war das Defizit explodiert, und George H. W. Bush verlor seine Präsidentschaft unter anderem, weil er die Illusion nicht mitmachte und unter Mithilfe der Democrats den Haushalt sanierte.

Das war das letzte Mal, dass ein Republican das tat. George W. Bush ließ das Defizit, das durch die Politik eines ausgeglichenen Haushalts (im Windschatten eines Wirtschaftsbooms und den zuvor von Papa Bush durchgeboxten, unpopulären Steuererhöhungen, zugegebenermaßen) von Bill Clinton im Sinkflug befindlich war, erneut explodieren. Die Finanzkrise zwang dessen Nachfolger Obama zu einer weiteren Explosion, ehe er seinem zentristischen Instinkt nachgab und den Rest seiner zwei Amtszeiten die Verschuldung wieder einrenkte. Und dann kam Trump, und mit ihm Steuersenkungen auf Pump, die durch die magische Kraft dieser Politik...und so weiter. Long story short: die Republicans kümmern sich seit Reagan effektiv nicht um Defizite, sondern benutzen sie als Knüppel, um aus der Opposition heraus die Democrats zu attackieren.

MMT bietet für die Democrats nun die Möglichkeit, dasselbe von links zu tun. Die beiden beherrschenden Themen des Vorwahlkampfs sind aktuell die Umsetzung einer Gesundheitsreform - irgendeine Form von Medicare for All, also der Schaffung eines staatlichen Gesundheitssystems - und der Green New Deal - irgendeine Form von Maßnahmenbündel, gerne verbunden mit Jobbeschaffungs- und Infrastrukturmaßnahmen, die eher peripher etwas mit Klimaschutz zu tun haben. Beide haben gemeinsam, dass sie extrem teuer sind. Steuererhöhungen sind in den USA noch unpopulärer als in den meisten anderen Ländern und verbieten sich praktisch vollständig, um diese Projekte gegenzufinanzieren, ganz egal, wie oft man "tax the rich!" ruft. Selbst wenn die Millionäre deutlich stärker belastet würde, deckte dies die Ausgaben nicht. Will man bei ausgelichenem Haushalt so etwas auflegen, blutet die Mittelschicht. Politisch ist das nicht zu machen.

Und an dieser Stelle kommt eben MMT ins Spiel. Die Democrats können tun, was die Republicans 1980 taten: den Kuchen behalten und gleichzeitig essen. Wenn Defizite irrelevant sind und wenn Steuern nur der Inflationskontrolle und Umverteilung dienen, dann spricht überhaupt nichts dagegen, den Green New Deal zu finanzieren, Medicare for All mit Platinummitgliedschaft für alle aufzulegen und, weil man gerade dabei ist, die Steuern der Mittelschicht zu kürzen. Es ist die eierlegende Wollmilchsau.

Spätestens jetzt würde Stephanie Kelton, die ja eine ernstzunehmende Wirtschaftswissenschaftlerin ist, aufschreien und Widerspruch einlegen. So einfach funktioniert MMT natürlich nicht. Würde man das so machen, wie ich das gerade beschrieben habe, wäre der inflationäre Druck kaum aufzuhalten. Nur ist das zu diesem Zeitpunkt in unserer imaginären Debatte egal. Denn statt Kelton haben wir nun eine Reihe von deutlich skrupelloseren Gestalten, die mit einigen wenigen, eingängigen Grafiken die Debatte bestimmen. Es wären die progressiven Spiegelbilder von Larry Kudlow und Arthur Laffer.

Der Vergleich ist alles, aber nicht weit hergeholt. Was heute der völlige Mainstream der Wirtschaftswissenschaften ist, war in den 1950er und 1960er Jahren eine völlig randständige Erscheinung, die in einigen radikallibertären Thintanks diskutiert und am Rand der republikanischen Partei diskutiert, aber von fast niemandem erstgenommen wurde. Es brauchte das zunehmend öffentliche Scheitern der klassischen keynesianischen Konzepte (oder dem, was die damalige Politik darunter verstand) und die Talente einiger Proponenten dieser Theorien, allen voran Milton Friedman, um die Theorie gesellschaftsfähig zu machen. Alles, was dann zum Durchbruch fehlte, war ein radikaler Bannerträger der Partei, der unbefleckt von Sachkenntnis und unbeirrt von Komplexitäten die von den Vulgärökonomen vereinfachte Version dieser Theorie propagiert. Das waren Reagan, Kudlow und Laffer.

In unserem Szenario nähme Kelton effektiv die Rolle Friedmans ein; Kudlows und Laffers sind aktuell unbesetzt. Auch ein progressiver Reagan lässt noch auf sich warten. Vielleicht ist es Bernie Sanders, der 2020 diese Rolle übernehmen wird. Vielleicht wird es erst 2024 passieren. Vielleicht greift sich Alexandria Ocasio-Cortez diesen Mantel. Vielleicht passiert es auch nie.

Falls bislang der Eindruck entstanden sein sollte, ich fieberte auf diese Entwicklung hin: nein, absolut nicht. Ich teile Noah Smiths Einschätzung, dass sich hier eine gefährliche neue Hybris zusammenbraut, die verheerende Folgen haben könnte. Reagans Wirtschaftspolitik war nicht gerade langfristig segensreich, um es milde auszudrücken. Ich erwarte nicht, dass ein Umschwung ins andere Extrem notwendigerweise besser ist. Aber das ist nur mein Bauchgefühl, weil mir die Sachkenntnis fehlt, MMT als wirtschaftliches Konzept durchzudeklinieren.

Ich bin aber deutlich zuversichtlicher, dass MMT als politisches Konzept Erfolg haben kann. Letztlich agiert die Theorie als ein Hebel zum Verschieben des Overton-Fensters, als "Modern Monetary Framing". Genauso wie der "Green New Deal" wird eine Popularisierung der Theorie dazu führen, dass zig schwammige, unterschiedliche Interpretationen dessen bestehen, was MMT eigentlich genau ist, und dass der einzig verbindende Faktor die Bereitschaft ist, zur Finanzierung des Staates wesentlich großzügiger auf Defizite zurückzugreifen als bisher. Das muss nicht zwingend schlecht sein. Aber es ist eine politische Dynamik, mit der man für die kommende Dekade rechnen sollte.