Donnerstag, 27. Februar 2020

Bücherliste Februar 2020

Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Je nachdem wie sich das einpflegt werde auch auch auf andere Medien und Formate eingehen, die ich als relevant empfinde. Vorerst ist das Verfahren experimentell, bitte gebt mir daher entsprechend Feedback! Diesen Monat: Cinderella frisst Kinder, Jungs und Sex, Tourismus im 3. Reich, die Geschichte der Bibelexzegese, Sprache und Sein, U-Boot-Taktik, Erdogan und richtige Ernährung.

Außerdem diesen Monat: Besprechungen von Zeitschriften zu Klimadiskursen, Wetter, Rechtsterrorismus, Simone de Beauvoir und das Goldene Zeitalter der Niederlande.

Peggy Orenstein - Cinderella ate my daughter
Peggy Orensteins Buch ist ein Klassiker, dessen Lektüre ich viel zu lange aufgeschoben habe. In dem Buch untersucht die Autorin, welche Phasen Mädchen heute durchmachen - und woher diese kommen. Letztlich geht es einmal mehr um die große "Nature vs. Nurture"-Debatte, also: sind Geschlechterrollen biologisch oder sozial bestimmt? Die wenig überraschende Schlussfolgerung Orensteins: Beides, aber letzteres spielt eine deutlich größere Rolle, vor allem, wo es um die konkrete Ausprägung geht. Ein Schwerpunkt des Buchs liegt dabei auf dem zweiten bis sechsten Lebensjahr, der Prinzessinnenphase. Orenstein leitet die Erkenntnisse ein, dass kleine Kinder - unabhängig vom Geschlecht - keinerlei Konzept eines solchen haben; sie müssen diese Wahrnehmung erst lernen. Das geschieht üblicherweise zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr, und ebenso üblicherweise im Kindergarten. Hier beginnen sich plötzlich Jungs und Mädchen abzugrenzen, und die Mädchen tun das vor allem mit einer ans Fanatische grenzenden Begeisterung für Pink und Prinzessinnen. Orenstein räumt mit den mittlerweile bekannten und oft widerlegten Vorurteilen auf, die dazu im Umlauf sind, etwa, dass es eine natürliche weibliche Vorliebe für Pink gebe, und zeigt, dass der Prinzessinen- und Pink-Wahn aus der Industrie selbst kommt, die darin in den 1970er Jahren eine perfekte Möglichkeit fand, alle Kinderprodukte doppelt zu vermarkten. Sie untersucht den Topos auf seine Botschaften hin und geht generell sehr kritisch mit ihm ins Gericht, ohne aber mit einem gewissen Selbstzweifel die Frage zu stellen, ob es nicht einfach nur ein Entwicklungsschritt ist - bleiben doch die wenigsten Mädchen beinharte Prinzessinnenfans. Letztlich entscheidet sie sich für den Kompromiss, mehr Rollenvorbilder anzubieten - vor allem solche, die positiver und aktiver sind als Prinzessinnen - und die schlimmsten Auswüchse einzudämmen. Die anderen Phasen der Mädchenentwicklung bis hin zur Pubertät werden demgegenüber deutlich kürzer behandelt, kommen aber ebenfalls zu ihrem Recht. Es bleibt auffällig, worauf Orenstein auch wiederholt hinweist, welch eingeschränkten Rollenangebote Mädchen aller Altersklassen gemacht werden, dass sie stets als Abweichung von der Norm gelten und dass sie auch Probleme damit haben, eine gesunde Sexualität zu entwickeln, weil sie zwar durch die Werbe- und Modeindustrie in übersexualisierte Objekte verwandelt werden, eine gesunde Auseinandersetzung mit dieser Sexualität aber dann zugunsten platter Moralpredigten ausbleibt.

Peggy Orenstein - Boys and sex
Neben "Cinderella ate my daughter" ist Orenstein auch für das (von mir bisher ungelesene, aber auf meiner To-Do-Liste stehende) "Girls&Sex" bekannt, für das sie rund 100 Mädchen und junge Frauen interviewte und versuchte, eine aktuelle Bestandsaufnahme des weiblichen Teenagersexuallebens aufzustellen. Nun hat sie sich auch dem anderen Geschlecht zugewandt und mit "Boys&Sex" mit über 100 Jungs und Männern geredet. In Form von ausführlichen Berichten und Kurzbiographien zeigt sie verschiedene Aspekte der adoleszenten männlichen Sexualität im Jahr 2020 auf. So untersucht sie klassische "jocks", die im Football-Team spielen, andere Profisportler, selbst erklärte Feministen, geläuterte Sexualstraftäter, Schwarze, Asiaten, Homosexuelle und Transsexuelle. In jeder Kategorie kommen einige Exponenten ausführlich zu Wort, während Orenstein die Aussagen kategorisiert und einordnet. Das funktioniert recht gut, as far as it goes. Denn strukturell plagen einige Probleme das Buch. Man muss gleich zu Beginn die Beschränkungen des Buchs deutlich machen, die Orenstein auch nicht zu verheimlichen versucht. Genau wie "Girls&Sex" befragte sie ausschließlich Jungs und Männer aus dem akademischen Milieu, sprich: Highschool- und College-Studenten. Diese drücken sich natürlich vergleichsweise gewählt aus, haben recht große Reflexionsfähigkeit und, vor allem, gehören zu einer recht eingeschränkten sozialen Schichtung. Das macht Orensteins Werk nicht überragend allgemeingültig. Problematischer empfinde ich jedoch ihren Fokus auf die Hookup-Culture. Ja, die ist sicherlich aktuell ein großes Phänomen in den USA (und praktisch nur dort!), aber dieser Fokus nimmt eine zentrale Rolle ein, die viele andere Aspekte verdrängt. Die Konzentration auf typische "Overperformer" im sexuellen Bereich konzentriert Orensteins Wirken auch praktisch ausschließlich auf gut aussehende, im Anbahnen sexueller Kontakte erfolgreiche Männer. Weder kommen typische Außenseiter wie Nerds (was angesichts des ganzen #Gamergate-Debakels mehr als angebracht gewesen wäre) noch Incels (was angesichts deren hervorgehobener Rolle in der Rechtsradikalisierung in Trumps Umfeld mehr als angebracht gewesen wäre) zur Sprache, oder einfach nur durchschnittliche, monogam lebende Typen. Das ist angesichts der Konzentration auf die Hookup-Culture nur folgerichtig, aber diese wird von Orenstein zu einem allgemeingültigen Phänomen gemacht, das sie nur eingeschränkt ist. Ihre Ergebnisse sind daher weniger "Boys&Sex"; der Untertitel ihres Buches verdient größere Aufmerksamkeit, als er in der Promotion bekommt. Aber: Die Ergebnisse sind trotz allem spannend. Wir können sehen, welche Folgen die Hookup-Culture für beide Seiten hat, wie selbst Männer, die innerhalb eines Jahres mit über 40 verschiedenen Frauen Beziehungen unterhalten, dadurch vor allem wahnsinnig unbefriedigenden Sex erhalten, und wie toxische Maskulinität jede intime, gewinnbringende Beziehung unmöglich macht - ob zwischen Männern und Frauen einerseits oder zwischen den "Bros" andererseits. Und in dieser Beziehung ist die Lektüre ebenso zeitgemäß wie fruchtbar.

Julia Boyd - Travellers in the Third Reich: The Rise of Fascism through the eyes of Everyday People
Es gibt Bücher, deren Titel eindeutig vom Verlag und nicht vom Autor vergeben wurden. Das hier ist so eines. "Travellers in the Third Reich: The Reaction of Lack Thereof to the Rise of Fascism through the eyes of the British Aristrocracy and Upper Middle Class" wäre der wesentlich treffendere Titel gewesen. Grundsätzlich hätte man sich das denken können. Wer schließlich hat in den Dreißiger Jahren das Geld und die Inklination, nach Deutschland zu reisen? Spannend bleibt Boyds Idee trotzdem: Wie nahmen Reisende, vor allem Touristen, aber generell nicht in staatlicher Funktion unterwegs befindliche Menschen das Dritte Reich wahr? Auch wenn Boyd den Versuch einer solchen Kategorisierung zugunsten ausführlicher Zitate aus den entsprechenden Berichten und Tagebüchern gar nicht unternimmt, so kristallisieren sich doch klare Gruppen heraus. Da wären etwa die Ahnungsvollen, die sensibel und intellektuell aufrichtig genug sind, um von Anfang an zu sehen, worauf das hinausläuft. Ihre Biographien sind es auch, die die deutschen Ausreden von "wir haben das alles nicht gewusst" Lügen strafen. Wenn etwa ein britischer Wanderer bei seiner Deutschlandtour 1934 (!) Dachau meidet und möglichst schnell München verlässt und in seinem Tagebuch den Abzählreim "Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm" zitiert, dann lässt das die späteren Beteuerungen der Einwohner nach elf weiteren Jahren, nichts gewusst zu haben, noch unglaubwürdiger erscheinen als ohnehin. Diese Gruppe aber ist recht klein. Dann sind da die Fans. Eine hervorgehobene Stellung nimmt hier Unity Midford ein, eine skurrile Person, die sich zu einem begeisterten Fangirl Adolf Hitlers mutiert und so etwas wie seine Maskottchen-Engländerin wird. Aber auch eine erschreckende Zahl weiterer Engländer mit hervorragendem bürgerlichen Leumund zeigen sich absolut begeistert von den Nürnberger Parteitagen, die sie als Tourismus-Event besuchen, oder den Touren durch das Konzentrationslager Dachau, in denen die Nazis interessierten Touristen das Lager vorführen (mit als Gefangenen verkleideten Wärtern, versteht sich). Aber auch diese Gruppe bleibt überschaubar. Die weitaus größte Gruppe sind die Ignoranten, die zwar die Auswüchse des Dritten Reichs wie die ganzen "Juden verboten!"-Schilder schon irgendwie unschön finden, aber hauptsächlich deswegen, weil die das schöne Märchendorf-Panorama der Voralpen ruinieren. Sie sind die mit Abstand größte Gruppe. Hier finden sich Akademiker, die 1938 nach der Reichskristallnacht mahnen, man solle nicht gegen Studentenaustausche sein, weil die Auseinandersetzung mit den Nazis vor Ort "Toleranz gegenüber anderen Zivilisationen" fördere (wer Parallelen zum heutigen Umgang mit Rechtsextremen findet, darf sie behalten). Hier finden sich Adelige, die in den Deutschen Gleichgesinnte in der Beurteilung Ghandis finden. Hier sind Wagner-Fans, die zwar mit aller Macht versuchen, den Nazis aus dem Weg zu gehen, aber gleichzeitig nicht bereit sind, persönliche Opfer zu bringen und sich nicht für die Regimepropaganda einspannen zu lassen, der zu entkommen unmöglich ist. Spannend zu sehen ist auch, wie lange das muntere Treiben geht. Die Reisetätigkeit erlahmt erst mit der Sudetenkrise und, vor allem, der Reichspogromnacht. Davor lassen sich nur die wenigsten überzeugen, auf ihre Reisen nach Deutschland aus politischen Gründen zu verzichten. Ein ganz besonderes Genre sind jene Engländer, die begeistert versuchen, das neue Deutschland im Geist der Völkerverständigung zu verstehen und die in ein Arbeitslager der Nationalen Arbeitsfront gehen und dort zusammen mit den Dienstpflichtigen zwei Wochen im Autobahnbau schuften, oder die an einer KdF-Kreuzfahrt teilnehmen. Das Regime schlachtete diese Leute als Propagandaerfolge weidlich aus, während deren Einsichten begrenzt blieben. Letztlich zeigt das Buch daher vor allem, wie unmöglich es ist, angesichts eines monströsen Unrechtsstaats wie des Dritten Reichs unpolitisch zu bleiben und "nur" zu reisen. Keinem der vielen in diesem Buch zu Wort kommenden Reisenden gelingt das. Sie alle werden zu Mittätern und Mitwissern, manche mehr, manche weniger. Die Besten von ihnen realisieren es und wenden sich angewidert ab. Den meisten ist es egal. Auch hier sind Parallelen zu heute versteckt, die man nicht eben mit der Lupe suchen muss.

Bart D. Ehrman - Misquoting Jesus
Besonders unter den Evangelikalen gehört es zum guten Ton, die Bibel auf eine Art wörtlich zu nehmen, die der islamistischer Extremisten in nichts nachsteht. Umso spannender ist es, wenn ein ehemaliger Anhänger dieser Extremisten seinen Erkenntnisprozess darlegt, indem er akademisch zu der Einsicht gelangte, dass die Bibel nicht ein 2000 Jahre alter, unveränderter Text, sondern ein von unzähligen Kopisten, Autoren, Fälschern und Priestern überarbeitetes Gesamtwerk ist. Ehrman beschäftigt sich in diesem Buch für Laien verständlich mit der Kunst der Bibelexzegese: Woher wissen wir, welcher Text älter ist, wenn widerstreitende Manuskripte existieren? Wie verbreitete sich die ursprüngliche Bibel in einer Welt, in der praktisch niemand lesen konnte? Wie wurde sie unter den Ur-Christen kopiert und verbreitet? Wie schrieb Paulus seine Briefe? Welche Rolle spielten die Mönche in ihren Schreibstuben? Diesen und zahlreichen anderen Fragen wird nachgegangen. Dabei lernt man, wie Fehler sich in die Kopien einschlichen (die griechischen Manuskripte wurden im wahrsten Sinne des Wortes ohne Punkt und Komma geschrieben, und die Kopisten konnten selbst nicht lesen, malten also nur Buchstaben ab!), wie spätere, theologisch gebildete Kopisten die Manuskripte "korrigierten" (indem sie in ihrem Sinne Änderungen vornahmen), wie manche Geschichten sich in die Evangelien schlichen, obwohl sie im Original nicht da waren (etwa die berühmte "wer ohne Sünde ist werfe den ersten Stein"-Episode - ich bin nachhaltig fasziniert davon, dass sie eine Erfindung aus dem dritten Jahrhundert ist), und vieles mehr. Gerade die Suche nach dem ältest möglichen Text ist für mich ungeheuer spannend, weil hier Grundfragen des Textverständnisses der Bibel geklärt werden müssen. War Jesus wütend auf den Leprakranken, den er heilte, oder von Mitgefühl geprägt? Die griechischen Worte liegen nah beieinander, und die die alten Manuskripte haben beide Lesarten. Und jede Lesart gibt andere theologische Rätsel zum Verständnis der Person Jesu' auf. Mit am spannendsten fand ich allerdings jene Kapitel, in denen Ehrman auf die Einflüsse von Politik und Gesellschaft eingeht. Die Streits und Debatten der ersten beiden Jahrhunderte nach Christus haben die Lesart der Bibel deutlich geprägt - und mit ihr die vorgenommene Änderungen durch Kopisten und die Evangelisten selbst. Eine Nachbemerkung zu letzteren: Ehrman macht klar, dass es wesentlich mehr als vier Evangelien gab und dass die Evangelisten voneinander abschrieben und sich gegenseitig beeinflussten. So setzte etwa Lukas dem verzweifelt-menschlichen Jesus der Passionsgeschichte seine eigene, lakonisch-überlegene Version entgegen. Es konnte ja nicht sein, dass der Gottessohn Verzweiflung spürte! Die Auswahl von Markus', Lukas', Matthäus' und Johannes' Evangelium war letztlich ein politischer Beschluss, wie generell praktisch alles, was es in das "offizielle" Neue Testament schaffte. Aber das ist, außer für christliche Fundamentalisten (von denen Ehrman ja herkommt) keine große Überraschung. Spannender ist da etwa, wie die beginnende Feindschaft gegenüber dem Judentum, demgegenüber sich abzugrenzen für das neue Christentum Notwendigkeit war, Änderungen in der Bibel beförderte, wo Kopisten zahlreiche Passagen änderten, die etwa Vergebung oder gar Erlösung auch für Juden innehatten. Oder wo absichtlich die Passagen so geändert wurden, dass sie die damals gängige Kritik der Heiden an der Heilsgeschichte konterten, etwa wenn Jesus nicht mehr Zimmermann sein durfte. Der Sohn Gottes ein einfacher Zimmermann? Unmöglich! Es ist ein langer Weg zu "Indiana Jones und der letzte Kreuzzug. Insgesamt eröffnet die Lektüre daher beeindruckende Einblicke in die Genese der Bibel. Sie sollte auch den letzten Fanatiker von der Vorstellung heilen, aus der Bibel heraus ungefiltert das Wort Gottes interpretieren zu können. Ich bin zu wenig interessiert an konfessionellen Konflikten, und Ehrman greift den Gedanken nur einmal kurz auf, aber witzigerweise spricht das sehr für die katholische Kirche, die solchen Ansichten immer entgegenstand. Deren Autoritarismus (nur wir wissen, was die Religion ist) ist freilich auch nicht gerade problemfrei.

Kübra Gümüşay - Sprache und Sein
Kübra Gümüşay ist eine der großartigsten Aktivistinnen im Netz, die ich kenne. Ihre Rede "Organisierte Liebe" von der re:publica 2016 ist heute noch so beeindruckend und aktuell wie vor vier Jahren. Und ihr jüngster Auftritt in Illners Talkshow zeigt ebenfalls mehr als deutlich, wo der Wert ihrer Stimme liegt und warum wir über das reden sollten, was sie schreibt. Zum Glück können nun auch solche Menschen, die nicht auf Twitter unterwegs sind oder Videos auf Youtube schauen sich mit diesen Gedanken befassen, denn Kübra Gümüşay hat mit "Sprache und Sein" nun ein kohärentes Buch zum Thema vorgelegt. Worum geht es? Gümüşays zentrale These ist, dass die Sprache unser Sein bestimmt. Welche Worte wir verwenden, beeinflusst direkt, wie wir die Welt und die Menschen um uns herum beachten. Das ist unter Sprachforschern nicht umstritten, aber gehört nicht unbedingt zu den Erkenntnissen, die es in die große Breite geschafft haben. Gümüşay hält sich aber gar nicht groß mit den (durchaus faszinierenden) sprachwissenschaftlichen Hintergründen auf, wenngleich das Buch voller äußerst faszinierender Parallelen zum Türkischen und Arabischen ist, anhand dessen sie aufzeigt, welche Worte in manchen Sprachen gar nicht existieren, sondern geht direkt zu der Frage über, was das für das Leben im Alltag bedeutet - konkret, für das Leben derer, die nicht der Standard in Deutschland sind. Ihre Perspektive als Muslima offeriert ihr gleich zwei Außenseiterperspektiven: Frau und Muslim. In beiden Fällen kann sie beschreiben, wie Sprache den Alltag prägt. Bereits wenn sie sich mit dem "generischen Maskulinum" beschäftigt wird der Rote Faden ihres Werks deutlich. Ein Teil der Bevölkerung ist Standard und wird in seiner Existenz nicht hinterfragt. Sie sind die Unbenannten. Der Rest ist in konstantem Zweifel, ob er mitgemeint ist oder nicht. Sie sind Benannt. Gümüşay macht dies autobiographisch immer wieder an ihrer eigenen Karriere deutlich. Stets wurde sie als Repräsentantin für ihre Kultur (Türkisch) und/oder ihre Religion (Islam) gesehen, nie einfach nur als Mensch. Stets muss sie sich für ihre jeweilige Kultur und Religion verantworten, auf eine Weise, die Unbenannte niemals müssen. Wir sehen das in den Rassismus-Debatten unserer Tage ja auch immer und immer wieder. Dieses ständige Rechtfertigen packte Gümüşay in den Begriff der "intellektuellen Putzfrau", als die sie oft genutzt wird, indem sie den Gedankenmüll anderer Leute aufräumen muss - an prominentester Stelle die unsägliche Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehöre, deren Schmerzhaftigkeit weder Illner noch Laschet in unsensibelster Art als Unbenannte in der genannten Talkshow einzusehen bereit waren - und lehnt es entschieden ab. Sie will nicht weiter von den Unbenannten benannt, sondern als Mensch wahrgenommen werden. Gümüşay spricht es nicht explizit aus, aber das absurde ist, dass die unbenannte Mehrheitsgesellschaft genau das tut, was sie Aktivistinnen wie ihr immer tut: Menschen nur in Identitätskategorien packen. Nur, dass die Unbenannten es halt erst merken, wenn sie zum ersten Mal explizit benannt werden. Stichwort alter weißer Mann. Der größte Kritikpunkt, den ich an Gümüşays Buch habe, ist ein ästhetischer. Sie versieht den Text mit zahlreichen Zitaten verschiedenster Künstler und Intellektueller, so viele tatsächlich, dass es für den Lesefluss störend zu wirken beginnt, zumindest nach meinem Empfinden. Dabei hat sie es gar nicht nötig, sich so viele Autoritäten als Krücken zu nehmen; ihre Argumentation steht auch für sich alleine und kommt ohne die (ohnehin etwas suspekte) Hilfe Nietzsches aus. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Ich kann Gümüşay jedem nur empfehlen, ganz besonders jenen, die zu den Forderungen und Argumente dieses AktivistInnenzweigs bisher nie einen Zugang gefunden haben.

Denis Yüzel - Und morgen die ganze Türkei. Der lange Aufstieg des Recep Tayyip Erdogan
Yüzels Essay hat gerade einmal 40 Seiten, das Buch kostet keine zwei Euro. Wer also einen Kurzüberblick über den Aufstieg Erdogans lesen will, riskiert weder zu viel Zeit noch Moneten, und Yüzel hat sowohl eine flüssige Schreibe als auch einen guten Überblick über die Lage. Er erkundet zuerst die Gründe für den Aufstieg der AKP, indem er im Eildurchlauf die moderne türkische Geschichte skizziert, in der das Versprechen des Laizismus und der ultimativen Kontrolle durch die türkische Armee immer wieder nicht die Resultate brachte, die man sich daraus erhoffte, vor allem die Modernisierung des Landes und den Eintritt in die Europäische Union. Tatsächlich gewannen Erdogan und seine AKP die Macht, indem sie als Modernisierungskraft und Garant für eben diese Mitgliedschaft wahrgenommen wurden. Dabei gelang es ihnen, die traditionellen Kräfte der Türkei - also vor allem die islamischer lebende Gesellschaft außerhalb der Städte - in diese politische Koalition miteinzubeziehen. Später erkannte Erdogan dann seine großen Chancen im Drall zu Autoritarismus und Stagnation, die mit volkstümelndem Islamismus übertüncht wurden. Es ist interessant über diesen Scheideweg nachzudenken, als das europäische Projekt stockte, aus mehreren Gründen. Einerseits weigerte sich die konservative Parteienfamilie Europas stets, die Türkei tatsächlich aufzunehmen (gerade in den frühen 2000er Jahren wurde damit in den Wahlkämpfen noch viel politisches Heu gedroschen, zuletzt (völlig absurd, wie so vieles) in der Brexit-Debatte. Umgekehrt zeigt aber auch die Entwicklung der Türkei seither - mit den mahnenden Beispielen Ungarn und Polen - dass selbige Parteienfamilie mit ihrer Ablehnung, gleichwohl sie wohl auch rassistisch motiviert gewesen sein dürfte, vermutlich richtig lag. Die Vorstellung einer Achse Warschau-Budapest-Ankara, die direkte Verwicklung der EU in den dann an ihren Außengrenzen stattfindenden Syrien-Krieg, die Kurdenfrage als EU-Thema - man schaudert alleine beim Gedanken daran.

Gordon Williamson - U-Boat Tactics in World War II 
Zugegebenerweise eher ein Spezialthema wird in diesem Buch abgedeckt, das von einschlägigen Kreisen als "für Einsteiger" empfohlen wird. It's true as far as it goes, wie der Angelsachse sagt. Einsteiger heißt hier aber, dass sehr solide Grundkenntnisse über Verlauf und grundsätzliche Strategie des U-Boot-Krieges bestehen. Wer also nicht anhand von Schaubildern nachvollziehen will, wie sich ein U-Boot dem ASDIC-Radar eines Zerstörers entziehen konnte, oder wie man am besten einen Geleitzug angreift, für den ist dieses Buch eher nichts. Ich fand die Lektüre angesichts dessen, dass dies genau das war das ich gesucht habe (aus Gründen), grundsätzlich durchaus gewinnbringend. Das Buch vereint aber letztlich zwei gegensätzliche Zielsetzungen ineinander. Es möchte nämlich einerseits sehr kurz sein (was ihm gelingt), andererseits aber Taktik, Strategie und Technik für den gesamten Kriegsverlauf darstellen, innerhalb dessen sich alle drei Kategorien entscheidenden Änderungen ausgesetzt sahen. Entsprechend schlaglichtartig sind die einzelnen Kapitel, fühlen sich eher wie kurze Beleuchtungen ausgewählter Sachverhalte an. Ein echter Überblick kommt so nicht auf; die gewonnenen Erkenntnisse müssen in das Mosaik eigener Vorkenntnisse zum U-Boot-Krieg eingebaut werden. Ebenfalls negativ stoßen mir die leider für das Genre typischen Stilblüten auf. Eine generelle Verherrlichung des Krieges ist den meisten dieser Werken zu eigen, und ich bin kein großer Freund davon, unreflektiert die Kategorien von Erfolg und Heldenmut aus jener Ära zu übernehmen. Sicherlich ist es Ausdruck großen Muts und Draufgängertums, sein U-Boot an der Oberfläche in einen Konvoi hineinzulenken und ihn von innen heraus zu dezimieren, aber darüber geht nur allzu leicht verloren, dass solches Draufgängertum einerseits sonderlich nachhaltig ist und andererseits für diese Heldentaten Menschen elendig ertrinken. Man könnte erwidern, dass diese unangenehmen Realitäten des Krieges nichts in einer taktischen Untersuchung verloren hätten. Fairer Punkt. Aber in dem Fall sollte man auch von Heroisierungen absehen, und das geschieht eben gar nicht.

Bas Kast - Der Ernährungskompass
Ich habe ja ausführlich über meine Erfahrungen mit Nadja Herrmanns "Fettlogik überwinden" geschrieben, die für mich mehr als einschneidend waren. Da ich mittlerweile 35 Lenze zähle, habe ich den erstmalig anstehenden Check-Up bei meiner Hausärztin zum Anlass genommen zu fragen, was ich denn für meine Gesundheit tun könne. Sie empfahl mir dieses Buch.  Wer bin ich, ärztlichen Rat zu ignorieren? Also hab ich es mir geholt. Bas Kast ist Wissenschaftsjournalist und hat sich - darin gleich sein Ansatz dem Herrmanns - hunderte von Studien zu Gemüte geführt, um sich durch das Chaos widersprüchlicher Ernährungshinweise zu wühlen. Sein wissenschaftlicher Hintergrund erlaubt ihm dabei durchaus Urteile, die für die Leser segensreich sind. Herrmann verzichtet in ihrem Buch darauf, Hinweise zur Ernährung zu geben; sie beschreibt ja nur, welche Fettmythen man überwinden muss, um abzunehmen (erneut: sehr erfolgreich). Daher macht dieses Buch, das sich nur mit Ernährung beschäftigt, als Ergänzung sehr viel Sinn. Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Empfehlung meiner Ärztin kann ich weitergeben; die Lektüre ist sehr gewinnbringend. Bas Kast legt zwar auch ein großes Gewicht auf das Abnehmen und schlank Bleiben, aber bei ihm geht es nicht um Kalorien, sondern eine möglichst gesunde Ernährung, mit der Abnehmen automatisch passiert. Was aber ist gesund? Genau darüber besteht wenig Einigkeit. Und eines, das man Kast hoch anrechnen muss, ist, dass er auf pauschale, allgemeingültige Urteile verzichtet. Denn wenn die Lektüre eines klar macht, dann, dass es "die" eine gesunde Ernährung nicht gibt. Und Kast erklärt auch ausführlich, warum. Dabei löst er unter anderem auch den ewigen Streit zwischen den "low carb" und "low fat" Fraktionen (Tipp: Es kommt auf den einzelnen Menschen an). Tatsächlich aber ist immer wieder überraschend, welche Lebensmittel man aus welchen Gründen essen sollte und welche nicht. Wer also schon immer wissen wollte, weshalb Vollkornbrot besser als Weißbrot ist oder warum Olivenöl gesund ist, ist mit dem Buch super beraten. Ich weiß jetzt schon, dass ich einige Ernährungsgewohnheiten umstellen werde, obgleich ich dank meines Abnehmens eh schon radikal anders esse als noch vor vier Jahren. Aber mir war nicht klar, wie sehr mein gesundheitlicher Zustand und meine allgemeine Lebenserwartung (!) sich noch durch die Details steuern lassen. Gerade letzteres war für mich die größte Überraschung. Die Ernährung allein kann einen Unterschied in der Lebenserwartung (und Lebensqualität!) ausmachen, der sich in Jahren rechnet. Und das ist ein mehr als attraktiver Gewinn an Lebensqualität, für den allein die Lektüre lohnt.

ZEITSCHRIFTEN

Aus Politik und Zeitgeschichte - Wetter
Wir machen weiter mit der steuerfinanzierten Lektüre der "Aus Politik und Zeitgeschichte" von der Bundeszentrale für politische Bildung. Da Wetter und Klima gerne verwechselt, aber auch häufig diskutiert werden, erschien es mir als ratsam, mich etwas mehr mit Ersterem zu beschäftigen. Die ersten Beiträge in dem Heft geben dabei einen ganz guten Überblick zu einigen Themen, wenngleich spezielleren, als ich mir hierfür gewünscht hätte. Positiv ist hier wieder einmal Jörg Kachelmann herauszustellen, dessen polemischer Stil zwar nicht jedermanns Sache sein mag, der aber mit großem Sachverstand und Erklärfähigkeit an die Sache herangeht. Weniger brauchbar waren für mich als Einsteiger einige der späteren Aufsätze in dem Heft, die sich sehr in den Details der Niederschlagsmessung und generell der Wetterempirie verloren. Für den einschlägig interessierten Leser mag hier mehr herauskommen, aber ich fand meine Aufmerksamkeit immer abschweifen. Das sagt nichts über die Qualität und mehr über meine Interessen aus (und meine Fähigkeit zur Konzentration), aber es mag für interessierte Leser ja eine interessante Beobachtung sein.

Aus Politik und Zeitgeschichte - Das andere Geschlecht Anlässlich des Jubiläums von Simone de Beauvoirs epochemachendem Werk "Das andere Geschlecht", das bis heute einen fundamentalen Text feministischer Theorie darstellt (berühmt vor allem der Satz, dass man nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht werde), hat die BpB dieses Heft herausgegeben. Die Bandbreite der darin enthaltenen Essays ist sehr groß. Den Einstieg etwa macht Kolumnistin Margarete Stokowski, die die Bedeutung des Buchs skizziert und in einem Panoramabild umreißt. Spannend ist vor allem, dass de Beauvoir sich bis in die 1960er Jahre dezidiert nicht als Feministin begriff, weil sie eine klassische Linke war, die einzig in ökonomischen Begriffen dachte - quasi Corbyn/Sanders statt Wokeness. Das änderte sich aber, je mehr sie diesen Irrtum erkannte. Eine Selbstanalyse dieses Irrtums findet sich im Wiederabdruck eines von insgesamt vier Interviews, die sie in den 1970er Jahren mit Alice Schwarzer, der damals noch jungen prominentesten Feminismus-Aktivistin Deutschlands machte. Es ist deutlich erkennbar, wie der Diskurs der Frauenbewegung einerseits de Beauvoirs Denken beeinflusste, wie aber umgekehrt auch sie ihre Ideen in die Bewegung zurückspiegelte. Die danach folgenden Texte fand ich weniger spannend, beschäftigen sie sich doch mehr mit dem philosophischen als dem gesellschaftlich-politischen Teil. Und jedes Mal, wenn ich mich mit Philosophie beschäftige, muss ich feststellen, dass es nicht mein Ding ist. Ich komme schon mit dem geschwollenen Jargon nicht klar, der diese Disziplin der Geisteswissenschaften deutlich mehr plagt als Geschichts- und Politikwissenschaft. Vielleicht hat jemand anderes mehr von vergleichenden Untersuchungen von de Beauvoirs Vorstellungen vom Existenzialismus. I don't really care.

Aus Politik und Zeitgeschichte - Rechtsterrorismus Nicht erst seit dem ganzen Desaster um den NSU-Untersuchungsausschuss ist Rechtsterrorismus ein Thema, das immer stärker auf die Agenda drängt. Und das bezieht noch nicht einmal die jüngsten Vorgänge von Hanau mit ein. Was dieses Heft leistet ist, eine strukturelle Analyse des Rechtsterrorismus in Deutschland zu liefern, sowohl historisch als auch, hauptsächlich, soziologisch. Spannend ist dabei vor allem die Erkenntnis, dass Rechtsterrorismus nach anderen Regeln funktioniert, als dies etwa für islamistische Terrorzellen, den Terror der RAF oder aber nationalistisch-separatistischen Terror à la IRA oder im Baskenland gilt. Die große Verwirrung, die hierzu auch in Hanau wieder sichtbar war, wird durch die Lektüre dieser Essays definitiv ausgeräumt. Wir haben es zwar, wie die Autoren aufzeigen, einerseits mit Einzeltätern zu tun, die nicht in klassische Terrorzellen eingebunden sind. Andererseits aber sind alle diese "Einzeltäter" einander in ihren Manifesten und Tatabläufen so ähnlich, intellektuell alle miteinander verbunden, dass die Idee deutlich ein Kategorienfehler ist. Rechtsterrorismus ist ein organisiertes Phänomen, nur zeigt sich diese Organisation nicht, wie wir es klassischerweise kennen. Das macht die Beschäftigung relevanter, nicht weniger relevant, und den Rechtsterrorismus selbst gefährlicher, nicht harmloser. Und es erfordert von allen Beteiligten ein Umdenken, von Verfassungsschutz und Polizei zur Politik hin zu Autoren und Kommentatoren dieses Blogs, die allzu oft genau diesen Kategorienfehler begehen.

Aus Politik und Zeitgeschichte - Klimadiskurse
Spätestens seit Greta Thunberg die Schlagzeilen beherrscht, sind Klimadiskurse relevant geworden, also die Frage, wie wir eigentlich über das Klima sprechen. Dieses Heft geht der Frage nach, wie Klimadiskurse überhaupt entstanden - denn, wie nicht zuletzt die Klimaschutzbewegung nicht müde wird zu betonen, führen wir die Diskussion schon eine Weile - und wie sie sich seither entwickelt haben. Angesichts der politischen Brisanz des Themas hat sich die BpB entschlossen, kontroverse Standpunkte einander gegenüberzustellen, so dass etwa eine vergleichsweise positive Analyse der Wirkung Thunbergs einer sehr negativen gegenübersteht. Ich bin kein großer Freund dieser Pro-Contra-Artikel; die hierzu notwendige Zuspitzung überdeckt häufig genug jeden Erkenntnisgewinn. Da die meisten Beiträge im Heft zudem einen extrem skeptischen Einschlag haben, was jegliche Klimadiskurse generell angeht, war es ohnehin nicht nötig. Was mir zuletzt sauer aufstieß, war der mal flapsige, mal süffisante Ton der Wissenschaftler, die sich hier aus einer Position elitärer Erhabenheit über die Wirksamkeit der Diskurse generell auslassen. Einerseits verstehe ich eine gewisse Frustration, andererseits halte ich es, gelinde gesagt, für wenig zielführend.

GEO Epoche - Das Goldene Zeitalter der Niederlande
Es ist immer wieder erstaunlich, dass die Niederlande einmal eine echte Großmacht waren. Auch wenn man es weiß, muss man sich beim Blick auf die Karte immer wieder die Augen reiben. Die aktuelle Ausgabe der GEO Epoche hat es sich zur Aufgabe gemacht, den rund 200jährigen Zeitraum der Blüte dieser Nation näher unter die Lupe zu nehmen. Der Erfolg ist aus meiner Sicht gemischt. Zwar bekommt man ein gutes Bild von der generellen Entwicklung und Charakteristik dieser goldenen Epoche, von Rembrandt über den Protestantismus zur VOC über die Entwicklung Amsterdams, das Kolonialreich und die Kriege gegen Spanien. Auch die Oranier und ein Orchideenthema wie die niederländische Niederlassung in Japan kommen nicht zu kurz. Das passt alles grundsätzlich. Was dagegen zu kurz kommt ist alles, was nicht in die eher klassischen geschichtswissenschaftlichen Felder fällt. Das Heft weist, wie bei solchen Themen gerade in der Populärgeschichte leider üblich, einen starken klassistischen Einschlag auf. Zwar gibt es einige pflichtbewusste Bemerkungen dazu, dass diese Blütezeit die Mehrheit der Bevölkerung nicht gerade wohlhabender machte, und dass die Kolonien nicht unbedingt Horte der Gleichberechtigung waren. Aber das gleicht das nächste Kapitel zur Malerei genauso schnell wieder aus wie der beständig positive Ton, in dem über den sich entwickelnden Turbokapitalismus gesprochen wird. Es fehlt einfach eine Betrachtung der Lebenswirklichkeit für die meisten Menschen, die oft unter diesen Erzählungen von "Goldenen Zeitaltern" verdeckt wird, von der Lebenswirklichkeit von persons of color ganz zu schweigen. Bedenkt man, wie sehr das niederländische Goldene Zeitalter auf der Ausbeutung von Eingeborenenvölkern basierte, ist ein einseitiger Themenkasten zu deren Leiden kaum mehr als ein Feigenblatt. Mir ist klar, dass die Konzeption des Hefts in sich schlüssig ist und dafür dann entsprechend kein Raum blieb; es sind solche Konzeptionen selbst, gegen die ich mich hier positionieren will. 

Donnerstag, 20. Februar 2020

Wenn ich König der SPD wär, revisited

Einige Monate vor den Bundestagswahlen 2017 schrieb ich einen Artikel, in dem ich im Stil eines offenen Briefs der SPD acht Vorschläge machte, wie sie meiner bescheidenen Meinung nach den Wahlkampf am besten führen solle. Ich komme in Gedanken immer wieder auf diesen Artikel zurück, und ich dachte, dass angesichts der mittlerweile vergangenen Halbzeit der Großen Koalition ich dasselbe tun könnte wie die Partei und einmal tief durchatmen, zurückschauen und sehen, wie sich meine Worte so bewährt haben.
1) Die Extremisten sind ein dankbarer Gegner Ihr seid eine Mitte-Links-Partei. Ihr könnt kübelweise politischen Unrat über die AfD kippen, ohne dass es der Kernwählerschaft zu sehr schadet. Und ihr braucht einen Feind. Martin Schulz ist super geeignet, um sich bei den anderen europäischen Ländern, vor allem aber Frankreich, einzuhaken und eine gemeinsame Front gegen den Rechtspopulismus aufzubauen. Das sollte DAS Thema der SPD sein. Die Versuche der AfD, ihre reaktionäre Ader als Gerechtigkeit für's Volk zu verkaufen sind ein idealer Anlass, um ständig selbst über soziale Gerechtigkeit zu sprechen - und nicht in dem langweiligen Singsang mit leeren Formeln, sondern konkret in Opposition zur AfD. Was ist Gerechtigkeit wirklich? Was ist fair? Was ist modern? Was ist offen? Was ist gut? Die Antwort muss in allen Fällen wenn nicht schon "SPD" heißen, so doch wenigstens auf roten Plakaten stehen. Schwingt euch zum Verteidiger von Demokratie und Freiheit gegen den Extremismus von rechts. Da kann man auch gerne ein bisschen Folklore aus Weimar drauf packen, oder wenn man es konfrontativer mag aus den Auseinandersetzungen mit der CDU/CSU bis einschließlich Strauß. Und keine Angst, das Profil der AfD  damit zu heben oder sonst so was, das hat der LINKEn auch nie geholfen.
Ich fühle mich in diesem Punkt durch die Ereignisse ziemlich bestärkt. Die SPD hat all diese Schritte offensichtlich nicht ergriffen. Der Stärke der AfD hat es nicht geschadet (Punkt für meine These, dass es ihnen nicht geholfen hätte) und stattdessen wurde die Flanke komplett für die Grünen geöffnet, die sich seither als Gegenpol etabliert haben. Am krassesten konnte man das bei der Landtagswahl in Bayern sehen, wo die zentrale Alternative, wenn man sich klar gegen rechts positionieren und nicht die Bürgerlichen wählen wollte, die Grünen waren. Die haben seither auch praktisch überall gewonnen. Warum? Weil sie die Anti-AfD sind. Und diese Rolle hat ihnen die SPD einfach geschenkt. Die Grünen müssen das nicht mal sagen oder so, sie sind es einfach.

Gleichzeitig bleibt auch festzustellen, dass wegen dieser (aus der Sicht der Grünen sicherlich parteitaktisch sinnvollen) Zurückhaltung die von mir gestellten Fragen immer noch unbeantwortet sind. Was ist fair? Was ist modern? Was ist offen? Was ist fair? Das alles ist 2020 nicht klarer als 2017.

Und was die historische Abarbeitung mit dem Wahlkampf der SPD 2017 angeht, werden wir in den Folgepunkten auch immer wieder darauf zurückkommen, aber es ist auch im Nachgang absolut erschreckend, wie ungeheuer inkompetent dieser Wahlkampf geführt wurde. Schulz war die große Hoffnung Macrons 2017, und Macron war im gleichen Jahr der große Hoffnungsträger gegen Le Pen, ein leuchtendes Erfolgsbeispiel im Kampf gegen Rechts. Das Potenzial, das hier verschenkt wurde, ist geradezu Amtsmissbrauch der Wahlkämpfer.
2) Euer Problem ist Merkel Das Hauptproblem der SPD ist Angela Merkel. Irgendein verknöcherter CDU-Reaktionär wäre ein ordentlicher Gegner, der eine schöne Folie abgibt an der man sich reiben kann. Angela Merkel dagegen ist die Meisterin des Teflon. Sie neutralisiert Themen und Aufreger, noch bevor im Willy-Brandt-Haus das Design der Plakate fertig ist. Da Merkel persönlich ziemlich beliebt bei den Leuten ist (außer bei der "Volksverräterin Merkel"-AfD, aber da sollte die SPD lieber die Finger von weg lassen), machen direkte Angriffe wenig Sinn. Glücklicherweise hat die CDU selbst die Anleitung geliefert, was man in so einem Fall machen kann: assoziiere deinen todlangweiligen Gegner mit einem aufregenden Gegner. Für die CDU und FDP war es immer das dankbare Schreckgespenst der LINKEn: stellt euch mal vor, die machen eine Koalition mit denen! MIT DENEN! Das ist ja quasi DDR!

Da konnte die SPD noch so oft beteuern, dass sie nie, nie, niemals mit DENEN eine Koalition eingehen würde. Also, hängt der CDU die AfD um den Hals. Zieht die sächsischen Quislinge vor die Kamera und zitiert jeden noch so obskuren CDU-Gemeinderat, der gerne mit der AfD punktuell zusammenarbeiten würde als sei der nächste Generalsekretär. Keiner wird euch glauben dass Merkel das machen will, also baut den rechten Flügel der CDU (der eh dauernd öffentlich über Merkels viel zu flüchtlingsfreundlichen Kurs grummelt) als den Feind auf, der jeden Moment die arme Kanzlerin entmachten will. Das lässt gleichzeitig Merkel als schwach und angreifbar erscheinen, während Gottkanzler Martin Schulz mit 100% Zustimmung im Rücken (ja, macht damit Werbung) den Rechten die Stirn bietet. Die Story schreibt sich doch von selbst.
Und, was ist im Wahlkampf passiert? Die SPD hat Merkel den Gefallen getan, effektiv als verlängerter Arm der Partei zu kandidieren. Das fand seinem Höhepunkt in dem "TV-Duell", in dem Martin Schulz die Hälfte der Zeit zusammen mit Merkel gegen die vier Moderatoren stand (was auch ein eklatantes Versagen dieser Moderatoren war, wie ich damals schrieb) und die andere Zeit irgendwelche obskuren Details der Verwaltungsgesetzgebung in Stellung brachte, bei denen Merkel effektiv ein "Danke, dass du mich an die unwichtigen Details erinnerst, mein untergeordneter Verwaltungsangestellter, dessen natürliche Vorgesetzte ich bin" fahren konnte. In anderen Worten, er tat genau das, was er keinesfalls hätte tun dürfen, und einfach falls das bisher nicht klar war: Ich hab's vorher gesagt. :) Noch viel bestätigter fühle ich mich bei allem, was ich zur Verbindung zwischen Merkel, der CDU und der AfD geschrieben habe. Ich fühle mich geradezu als Visionär. Genau das ist nämlich passiert. Die rechten Kräfte in der CDU haben den Aufstand geprobt und Merkel entmachtet (was die SPD in eine brutale Bredouille gebracht hat, die sie - wie üblich - nur unter massiver Selbstverleugnung lösen konnte) und diese Elemente haben seither an jeder möglichen Stelle versucht, die Brandmauern einzureißen.

Ich will gar nicht die Debatte darüber wiederbeleben, wie böse das die CDU macht - dafür hatten wir zig Beiträge hier im Blog in den vergangenen zwei Wochen - sondern das unter dem Blickwinkel der politischen Strategie der SPD sehen. Hätten sie von Anfang an gemacht, was ich oben beschrieben habe, wären sie als die Mahner dagestanden, als diejenigen, die die Gefahr früh erkannt und dagegen gearbeitet hätten. Vielleicht wären die Stimmen, die jetzt in Thüringen alle Bodo Ramelow in den Schoß fallen, selbst einfahren können. Auch hier: ein absolutes Politversagen auf allen Ebenen.
3) Ignoriert die BILD Seit 2005 war die BILD ein konstanter Gegner der SPD. Erinnert sich noch jemand an "Lügilanti"? Oder "Beck muss weg"? Keine noch so enge Anbiederung an die CDU und ihre Positionen wird die Leute bei Axel Springer auf eure Seite ziehen. Die BILD ist ein Medium im Niedergang. Ihre Leser sind alt und reaktionär. Die wählen euch nicht und werden euch nicht wählen. Scheißt auf die BILD. Ihre Feindschaft ist ein Ehrenabzeichen. Erwähnte ich schon, dass eure Feinde auf der Rechten stehen? Assoziiert das Schmierblatt mit dem Gegner aus 1) und 2). Keine Bange, eure Leute machen die Verbindung ohnehin instinktiv. Das läuft.
Ich habe hier wenig zu sagen. Die BILD ist inzwischen ein solcher Nicht-Faktor, das Blatt spielt im Vergleich zu vor zehn Jahren praktisch keine Rolle mehr. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass die Partei spezifisch vor der Springer-Presse in die Knie gegangen wäre.
4) Scheiß auf Zahlen und Programme [caption id="" align="alignright" width="408"] Im Zweifel tut es das als Erklärung wie das alles gehen soll.[/caption] Wisst ihr was eure schlimmste Obsession ist? Wunderbar ausgefeilte Programme, mit 150 Seiten, voller detaillierter policy-Vorschläge und Bezahlbarkeitsrechnungen. Und warum? Weil's keinen interessiert. Niemand liest Parteiprogramme, außer beim politischen Gegner. Die suchen irgendeinen obskuren Mist von Seite 134 und führen eine Kampagne damit. Remember Veggie-Day! Eine Zehn-Punkte-Liste tut's auch. True Story: ich habe versucht auf eurer Homepage eine Zusammenfassung in einem Absatz zu finden, wofür die SPD findet. Das gibt es nicht. Dafür 21 verschiedene Seiten, die eure Kernthemen erklären. Einundzwanzig! Die. liest. keine. Sau. Wisst ihr, was im CDU-Wahlprogramm steht? Ich auch nicht. Und auch sonst niemand. Weil's keinen interessiert. Und das gilt für euer Programm auch. Stattdessen braucht ihr Narrative, aber dazu kommen wir gleich.

Vorher gibt es nämlich noch was Wichtigeres: Vergesst Zahlen. Ihr habt diese echt süße Idee, dass die Vorschläge aus eurem Wahlprogramm bezahlbar sein müssen. Das ist völliger Blödsinn. Niemand interessiert, ob etwas aufkommensneutral finanziert wird oder nicht, die tun alle nur so. Habt ihr jemals erlebt, dass in der BILD die Frage thematisiert wird, wie die Steuerkürzungen der FDP eigentlich gegenfinanziert werden? Da steht dann ein Hokuspokus vom sich selbst tragenden Aufschwung, mit ein paar erfundenen Zahlen. Das könnt ihr auch. Wer kriegt was? Die 99%. Wer zahlt? Die Bonzen. Fertig. Eure Vorschläge sind so oder so hinfällig, weil ihr einen Partner braucht. Rechnen kann man immer noch in den Koalitionsverhandlungen. Schaut euch Schäuble an: der verspricht Hilfspakete für Griechenland, Steuerkürzungen für alle, aber besonders für die Mittelschicht, und die Renten bleiben stabil. Und das kostet keinen Cent! Und niemand zieht auch nur eine Augenbraue hoch, denn die CDU ist bekanntlich die Partei wirtschaftspolitischer Seriosität. Egal wie sehr ihr euch bemüht, das Handelsblatt wird euch nie liebhaben. Die Leute nehmen immer an, dass ihr Geld ausgebt. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's gänzlich ungeniert. Das klingt zynisch. Aber die anderen machen es auch, ihr merkt das nur nicht, und ihr schießt euch selbst in den Fuß.
Auch hier fühle ich mich absolut bestätigt. Wie bereits in 2) beschrieben verlor sich Schulz ständig in irgendwelchen bedeutungslosen Details. Als ob es angesichts der Generalkritik an Merkels Flüchtlingskurs relevant wäre, dass die SPD 200.000 Euro mehr für Unterkünfte gefordert hätte oder so was. Da in der inkompetenten Wahlkampfführung die Themen der SPD nicht mal vorkamen und die Partei es zuließ, den ganzen Wahlkampf zu einem Referendum über Merkels Flüchtlingspolitik zu machen, spielte dieser Punkt keine große Rolle. Aber nicht, weil die Partei einen geschickteren Wahlkampf gemacht hätte, sondern weil sie dermaßen inkompetent waren, dass diese Problematik nicht einmal zum Tragen kam. Ein absolutes Trauerspiel.
5) Nicht jeder versteht unter seriös das Gleiche Es ist kein Geheimnis, dass die meisten Leitmedien nur eine Form von Wirtschaftspolitik anerkennen: die ordoliberale Form. Nicht alle von ihnen haben das gleiche erotische Verhältnis zu ökonomischen Schmerzen wie es Wolfgang Schäuble und das Handelsblatt haben (ernsthaft, die Leute sind wesentlich zu glücklich dabei, Phrasen wie "Gürtel enger schnallen", "über Verhältnisse leben", "Anpassungen" und "Wahlgeschenke" durch die Gegend zu werfen, wenn es um den Lebensstandard der kleinen Leute geht), aber die wenigsten sehen in höheren Investitionsausgaben nicht sofort die Hand des Teufels. Kennt euer Publikum. Wenn man die Leute fragt, ob sie einen ausgeglichenen Haushalt wollen, sagen sie alle ja, aber wenn man sie fragt ob sie bereit sind dafür Rentenkürzungen hinzunehmen eher nicht.

Verbindet euer cleveres Narrativ aus 4) und 5) damit und definiert eine eigene Seriosität. Ihr seid für Fortschritt, ihr seid für ein ordentliches Leben. Wen interessieren die finanzpolitischen Vorlesungen der Elitenschwätzer bei der CDU und FDP? Die Leute werden euch nie abnehmen, dass ihr den Haushalt besser kontrolliert als Schwarz-Gelb, und dafür wählen sie euch auch nicht (schon mal vom Mommy-Daddy-Divide gehört?). Hört auf euch als das zu inszenieren als das ihr gerne gesehen werden wollt und konzentriert euch darauf wie euch die Leute sehen wollen, auf deren Stimmen ihr angewiesen seid.
Auch hier: Die Partei tritt mit Konzepten wie der Bürgerversicherung an (die dann von meinem Kollegen Stefan Pietsch hier auseinander genommen wurden, was meinen Punkt 4) bestätigt). Und das wird geframed als...was genau? Gleiches gilt für die Mütterrente, die Grundrente und all den anderen sozialpolitischen Kram dieser Zeit. Alles nett, aber es fehlt diese Idee sozialdemokratischer Seriosität. Stattdessen werden da Sachen gefordert, hinter denen die Spitzenpolitiker der Partei selbst ziemlich offensichtlich nicht stehen, und jedes Mal wenn man ihnen sagt dass ihre Programme unzureichend sind (von links) oder unausgegoren (von rechts) murmeln sie sowas wie ein "Ja aber" in ihren Bart und geben einen Fachvortrag über die verwaltungstechnischen Besonderheiten ihres Vorschlags. Sechs, setzen.
6) Ihr braucht Narrative Statt der 21 Kernprogrammpunkte braucht ihr eine Story. Eine, die ihr ständig wiederholt. Per-ma-nent. Zwei oder drei knackige Slogans, die man bei jeder Gelegenheit raushauen kann. Und zwar welche, die auch irgendeine Bedeutung transportieren. "Mehr Soziale Gerechtigkeit" ist kein Slogan. Das wollen wenn man sie fragt alle. Die SPD kommt nur dann an die Regierung, wenn sie es schafft einen Aufbruch zu vermitteln. Für die Verwaltung des Niedergangs war schon immer die CDU zuständig. Ob das der "Machtwechsel" von 1969 und das anschließende Motto der "Lebensqualität" ist oder die "Innovation und Gerechtigkeit" von 1998, ihr müsst eine glorreiche Zukunft prophezeien und euch nicht als Wahrer von Besitzständen gegen die anonyme Macht der Globalisierung inszenieren. Das ist der Job der LINKEn. Schaut auf Macron, schaut auf Obama, schaut (*schauder*) auf Tony Blair. Die haben das alle so gemacht. Und auch hier: Mut zur Lücke. Die konkreten Maßnahmen sind viel weniger wichtig als die Vision. Helmut Schmidt war anderer Meinung, aber der wurde auch abgewählt.
Und damit sind wir beim zentralen Problem. Ich habe es weiter oben schon geschrieben, aber die SPD hat 2017 nicht einmal versucht, ein Narrativ zu etablieren, und ist seither ohnehin nur mit Nabelschau beschäftigt. Warum brauche ich diese Partei? Warum wähle ich sie? Sie gibt keine Antworten. Weiterhin auch nicht. "Merkel weg"? Wie ich in 2) beschrieben habe ging das eh von Anfang an nicht.

Wer gegen Merkel ist, wählt AfD, nicht SPD. Soziale Gerechtigkeit? Der Begriff ist komplett sinnentleert, und die Partei weigert sich weiterhin standhaft, ihn mit Inhalt zu füllen. Ein "Weiter so"? Das kann Merkel besser. Auch 2020 weiß ich nicht, warum ich meine Stimme der Sozialdemokratie geben sollte. Das ist mittlerweile drei Jahre später. Die politische Unfähigkeit, die diese Partei im Griff hat, ist atemberaubend.
7) Ihr braucht eine Führungsfigur Eure zweitschlimmste Obsession ist zu glauben, dass die ganze Republik vor dem Wahljahr voller knisternder Spannung an den Fingernägeln kaut um endlich zu erfahren, wer euch in den Wahlkampf führt. Aber ein Dreivierteljahr ist ein Witz. Ihr habt 2009 den Steinmeier hingestellt, weil niemand anderes verfügbar war, und 2013 Steinbrück hervorgezogen, weil es dem wahrlich nicht an Selbstbewusstsein mangelte. Die Kandidaten aber, die jemals Kanzler wurden, kannte man ordentlich vorher. Gerhard Schröder war schon 1994 ein Top-Tier in der SPD, und Lafontaine war schon mal Kanzlerkandidat. Willy Brandt habt ihr dreimal aufgestellt bis es endlich geklappt hat, und Schmidt war wahrlich auch nicht unbekannt.

Man hört es jetzt schon raunen, dass ihr nach der Wahl Manuela Schwesig hochpuschen wollt. Kann man schon machen, aber wenn, dann dankt Martin Schulz artig für seine Dienste, macht ihn zum Oppositionsführer im Bundestag und haltet Schwesig raus, so dass sie von außen kritisieren kann. Und dann pusht sie. Vier Jahre lang. Oder macht das gleiche mit Schulz. Hat beides Vor- und Nachteile. Aber glaubt bitte nicht irgendjemand fände es spannend, wenn ihr die Entscheidung bis 2021 rausschiebt. Ihr braucht eine Figur, die das in 5) beschlossene Narrativ a) glaubwürdig und b) permanent in die Welt hinausposaunen kann. Für Europa und gegen AfD? Nehmt Schulz. Für Fortschritt, Innovation, Zukunft? Schwesig.
Die konkreten Namen aus dem obigen Abschnitt sind mittlerweile alle Makulatur, in Schwesigs Fall mit einer Note persönlicher Tragik, in Schulz' Fall absolut verdient. Immerhin muss man sagen, dass die SPD sich offensichtlich entschlossen hat, den Fehler quasi mit aller Macht zu wiederholen und zu verstärken.

Erst hat Andrea Nahles die SPD-Führung übernommen. Ich sehe, warum die Partei das gemacht hat. Nahles war letztlich eine gute Kompromissfigur zwischen den Flügeln und hatte theoretisch die Fähigkeit, die SPD-Seriosität mit markigen, an Facharbeiter gerichtete Sprüche herüberzubringen. Theoretisch. Aber auch hierzu hätte es halt das commitment der Partei gebraucht, die neue Vorsitzende auch tatsächlich zur Führungsfigur und nicht nur Verwaltungschefin zu machen. Das fehlte. Entsprechend scheiterte Nahles.

Alles, was danach kam, kann man nur als Desaster beschreiben. Die komplette Basiswahl der SPD-Spitze ging völlig in die Hose. Erst findet sich kein einziger prominenter Sozialdemokrat, sondern eine Riege von Leuten, die keine Sau kennt; dann springt ausgerechnet Olaf Scholz in den Ring, der quasi in seiner ganzen Biographie sämtliche Fehler und Elemente verkörpert, die die SPD an den Abgrund gebracht haben. Der wird dann durch einen massiven Kraftakt der Basis verhindert, die zwei weitgehend unbekannte Mittsechziger an die Spitze hieven.

Aber weil die SPD die SPD ist, tut die Partei seither alles, um ihre so gegen den Willen des Funktionärapparats gewählten Vorsitzenden zu sabotieren und sie in Olaf-Scholz-Abbilder zu verwandeln. Wenig überraschend haben weder Esken noch Walter-Borjans (true story: Ich musste seinen Namen gerade googeln) irgendeine Hausmacht hinter sich und damit keine Chance, sich innerparteilich durchzusetzen. Jede Gliederung der SPD macht, was sie will, als ob die ganze Partei die CDU Thüringen wäre.

Und in Sachen Kanzlerkandidatur ist noch weniger entschieden als Ende 2016. Während die einen SPD-Spitzenleute öffentlich darüber nachdenken, ob man überhaupt einen Kandidaten aufstellen soll, schreien andere ganz emphatisch, dass man immer noch Volkspartei sei und ganz sicher jemanden aufstellen werde, aber keiner weiß, wer das sein soll. Nächstes Jahr, allerspätestens, ist Wahlkampf. Die Partei hat keine Ahnung, wer sie in diesen Wahlkampf führen soll. Und sie macht keine Anstalten, eine Entscheidung zu treffen. Es ist zum Haare raufen.
8) Konzentrierter Wahlkampf Ihr habt 2013 Peer Steinbrück aufgestellt. Der wollte einen Wahlkampf à la 2009 machen. Das war eine doofe Idee, aber das war die einzige Art Wahlkampf, die er vernünftig vertreten konnte. Stattdessen habt ihr mit dem Programm von 1987 seinen Wahlkampf organisiert, und weil der Mann keine institutionelle Bindung hatte und keine eigene Machtbasis (ein dickes Warnsignal übrigens) konnte er dem nichts entgegensetzen. Wenn ihr euch für eine Führungsfigur entschlossen habt, um Gottes Willen, dann macht nicht Wahlkampf gegen sie. Das Willy-Brandt-Haus scheint eigentlich dauerhaft im Schadensbegrenzungsmodus. Werft diese institutionelle Vorsicht über Bord. Bringt eure externen Berater von BUTTER (und Jim Messina und wen auch immer ihr von außerhalb einkauft) alle zusammen und setzt sie auf das Narrativ an, und nur auf das. Sonst wird das nichts.
Und der letzte Punkt. Alle meine Befürchtungen hier sind wahrgeworden. Auch 2017 führe die SPD mehrere Wahlkämpfe parallel, mit mehreren Schwerkraftzentren, und Martin Schulz hatte keine Chance, die institutionelle Macht der Partei auch nur ansatzweise zu bündeln. Dazu kam eine atemberaubende Inkompetenz aller Ebenen dieses Wahlkampfs. Ich habe es bereits in meiner Bücherliste empfohlen, aber wer masochistisch genug ist, sich das anzutun, dem sei Martin Feldkirchens Buch "Die Schulz-Story" nur anempfohlen, in der man das ganze Desaster quasi in Zeitlupe bei der Entfaltung betrachten kann.

Sorry, wenn dieser Artikel wie ein Rant wurde. Aber ich meine, ich bin kein politischer Berater. Ich bin kein professioneller Wahlkämpfer. Und ich sehe, was für einen gigantischen Bockmist diese Partei seit Jahren schießt. Die investieren hunderttausende, ja, Millionen von Euro in diesen stinkenden Müllhaufen, den sie Wahlkampf nennen. Schulz fuhr das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte ein, und gegenüber den Umfragen, in denen die Partei aktuell darum kämpft zweistellig zu bleiben, ist das ein fast unerreichbarer Erfolg. Mein Gefühl war, dass die Partei 2017 ihre letzte Chance hatte. Vielleicht war das seinerzeit schon zu positiv gesehen. Aber inzwischen? Das Ding ist gegessen. R.I.P. SPD.

Mittwoch, 19. Februar 2020

Warum Bloombergs Kandidatur das Krebsgeschwür der Demokratie ist

Die Vorwahlen der Democrats sind ohne jeden Präzedenzfall. Nicht, weil ein erklärter Sozialist aktuell der Favorit wäre, oder wegen der Bedeutung eines Siegs der Partei über Trump für die Zukunft der amerikanischen Demokratie, obwohl beides sicherlich zutrifft. Der nie dagewesene Faktor im Vorwahlprozess ist die Kandidatur Michael Bloombergs, eines echten New Yorker Milliardärs, dessen Privatvermögen irgendwo jenseits der 60 Milliarden Dollar verortet wird. Bloomberg, dessen politische Karriere aus drei Amtsperioden als New Yorker Bürgermeister besteht, ist mit beiden Füßen in den Wahlkampf gesprungen und finanziert diesen (anders als Trump) überwiegend selbst. Es gibt keinerlei Vergleich zu einer solchen Unternehmung. Mittlerweile ist der Mann, der in Iowa und New Hampshire nicht einmal auf den Wahlzetteln stand, unter den fünf Favoriten für die Präsidentschaftskandidatur. Grund genug, sich anzusehen, wer da eigentlich so unaufhaltsam voranschreitet - und warum das so ein gewaltiges Problem für die amerikanische Demokratie ist.

Bislang investierte Bloomberg 400 Millionen Dollar in seinen Wahlkampf - das ist mehr, als Hillary Clinton im gesamten Wahljahr 2016 ausgab, und der Februar ist noch nicht einmal vorbei. Aber diese Summen sind nichts im Vergleich zu Bloombergs anderen "philantropischen" Unternehmungen. Die New York Times hat in einem investigativen Meisterstück Bloombergs Spenden analysiert, und den Einfluss, den er sich damit gekauft hat: 3,3 Milliarden Dollar gingen allein 2019 an verschiedenste Einrichtungen. Das meiste Geld verblieb in den USA; 1,4 Milliarden gingen an Bundeseinrichtungen, rund 950 Millionen an verschiedene lokale Institutionen, der Rest ins Ausland.

Und bevor jemand den falschen Eindruck bekommt, Bloomberg ist kein David Koch. Sein Geld geht nicht in die Zerstörung der Umwelt, sondern in gute Unternehmungen. Allein 1,4 Milliarden investierte er in alle möglichen Projekte rund um die Gesundheitsfürsorge, 280 Millionen in die Kunstförderung, 230 Millionen in den Bildungsbereich, 210 Millionen in community development (eine spezifisch amerikanische Einrichtung, die keine echte deutsche Entsprechung hat), 280 Millionen in den Kampf gegen den Klimawandel. Ein Progressiver kann da eigentlich nur sein seal of approval druntersetzen. Doch Bloombergs Engagement endet nicht mit diesen klassisch philantropischen Unternehmungen.

Die Übernahme der Regierungsmacht in Virginia 2017 und 2018 etwa und ihre enge Verknüpfung mit Reformen de Waffengesetzes fußte auf massiver Finanzierung durch den Mogul. Sowohl 2017 als auch 2018 finanzierte Bloomberg den Wahlkampf der Staatsanwälte, die Obamas Umweltregulierungen gegen die Angriffe von Trumps Regierung verteidigen mussten, mit 10 und 5 Millionen Dollar. Ein mittlerer zweistelliger Millionenbetrag floss nach Louisiana und finanzierte Charter Schools (ein Lieblingsprojekt der Obama-Regierung) in dem traditionell republikanisch regierten und völlig heruntergewirtschafteten Staat. Bloomberg sorgte 2018 mit dafür, dass mehr Frauen in den Kongress gewählt werden.

Die riesige Investments erstrecken sich auch auf die langweilige Logistik des Wahlkampfs, ein Feld, auf dem Spendengelder traditionell schwer zu bekommen sind, weil Großspender am liebsten auffällige Werbespots finanzieren. Bloomberg bezahlt seinen Fußtruppen vor Ort - die Werbematerial verteilen, an Türen klopfen und die generelle Koordination übernehmen - nie gesehene 6000$ im Monat, neben freiem 24/7-Budget. Auf diese Art zieht er in allen 50 Staaten die größten Talente von anderen Kandidaten ab, die keine Chance haben, mit solchen Preisen zu konkurrieren.

Was Bloomberg mit seinen riesigen Investments kauf, ist daher Einfluss. Sichtbarkeit und Raum in der öffentlichen Debatte für die Themen, über die er reden will (die Trias aus Waffenreformen, Klimawandel und Sicherheit vor allem) gehören ebenso dazu wie die Unterstützung durch eine Vielzahl an Organisationen, die keine direkte Bindung zu irgendeinem demokratischen Wahlkampfteam haben (weil er Kontakte durch seine ausgedehnte Spendentätigkeit hat). Als Medienmogul geht er außerdem in praktisch der gesamten Branche ein und aus, verfügt über Technologien, Zugänge und Know-How.

Auch auf die Funktionäre der Partei erstreckt sich dieser Einfluss:
It is not simply good will that Mr. Bloomberg has built. His political and philanthropic spending has also secured the allegiance or cooperation of powerful institutions and leaders within the Democratic Party who might take issue with parts of his record were they not so reliant on his largess. In interviews with The Times, no one described being threatened or coerced by Mr. Bloomberg or his money. But many said his wealth was an inescapable consideration — a gravitational force powerful enough to make coercion unnecessary. “They aren’t going to criticize him in his 2020 run because they don’t want to jeopardize receiving financial support from him in the future,” said Paul S. Ryan, vice president of policy and litigation at the good-government group Common Cause.
Welche Folgen hat das? 2015 etwa untersuchte das Center for American Progress die Verbreitung von anti-muslimischen Vorurteilen in den Polizeibehörden. In ihrem Abschlussbericht tauchte Bloombergs Name als Verantwortlicher für die Institutionalisierung von Rassismus in der Polizei New Yorks achtmal auf. In der veröffentlichten Version kein einziges Mal mehr:
But at least one senior official wrote at the time that there would be a “strong reaction from Bloomberg world if we release the report as written,” according to an email reviewed by The Times. And three people with direct knowledge of the situation said Mr. Bloomberg was a factor. Alienating him might not have been a cost-free proposition. When the report came out, he had already given the organization three grants worth nearly $1.5 million, and in 2017 he contributed $400,000 more, according to Ms. Léger and the center’s limited public disclosure of its donors.
Der Umfang von Bloombergs Spenden ist mittlerweile so groß, dass sie "has become something of a talent stable for people he admires — public officials, business leaders and political strategists, among others. The foundation’s board looks almost like a shadow administration, including luminaries like former Senator Sam Nunn of Georgia and former Treasury Secretary Henry Paulson, and current or former executives from companies including American Express, Disney and Morgan Stanley". Bloomberg ist ein Staat im Staat, in anderen Worten.

In meinem Artikel "Milliardäre und Demokratie sind unvereinbar" habe ich genau so ein Szenario vor Augen gehabt. Die schiere Masse an Geld, die Bloomberg zur Verfügung hat, spottet jeder Beschreibung und ist dazu angetan, das gesamte politische System aus den Angeln zu heben:
In a year with a lower than average return on investment, say 8 percent, Bloomberg would expect to make about $4.8 billion on a net worth of about $60 billion — meaning that he could spend nearly $5 billion on the 2020 election without depleting his fortune by a single cent. What would stop Bloomberg from, say, offering every uncommitted superdelegate and every Amy Klobuchar, Pete Buttigieg, and Joe Biden delegate $1 million each to flip to him on the second ballot? And making a cool $500 million donation to the Democratic National Committee to ensure that the process of anointing him as the nominee goes smoothly in Milwaukee? This scenario would probably cost Bloomberg between $1 billion and $1.5 billion. Add that to the probable cost of $1 billion for the primary battle, and he'd be left with about $2.5 billion to spend against Trump in the 3-4 months of the general election. Without, once again, having to tap into his capital reserves at all.
Die Masse an Geld kauft Bloomberg einen Platz in der öffentlichen Debatte, den er durch keinerlei Leistungen erworben hat. Er betrieb vorher keinen Wahlkampf, er schuf keine Kontakte zu Wählern. Trotzdem ist er eine Top-Nachricht. Nate Silver hat eindrucksvoll aufgezeigt, wie Bloomberg die Nachrichten dominiert, obwohl er in den ersten vier Vorwahlen nicht einmal antritt, und damit seine sich den Wählern stellenden Konkurrenten ausbremst:
Das ist ein Problem, weil Bloomberg dadurch nicht im gleichen Maß wie andere Bewerber der öffentlichen Kritik und Rechtfertigung stellen muss. Wo andere Kandidaten bereits seit Monaten ihre Pläne vorstellen und ihre Bilanzen verteidigen müssen, sich unangenehmen Fragen stellen und ihre Belastbarkeit unter politischem Stress zeigen, kauft sich Bloomberg aus allen diesen Prüfungen heraus. Das könnte sich noch als fatal erweisen, wenn er der Kandidat werden und der Wahlkampf ernsthaft beginnen sollte.

Und diese Schwächen, deren genauerer Untersuchung er sich bislang dank seines Geldes entziehen konnte, existieren zweifellos. Genauso wie Trumps ist Bloombergs Firmenimperium für ihn als Präsident eine beständige Problemquelle. Matt Stoller etwa weist auf Bloombers extensive Verbindungen zu China hin:
Wie soll ein Präsident Bloomberg eine gesamtamerikanische Wirtschaftspolitik gegenüber China fahren, wenn diese mit seinen Wirtschaftsinteressen kollidiert? Und das wird sie praktisch per Definition, denn das erste, was die KPCH tun würde, ist sein Firmenimperium auszuschließen. Und das ist unabhängig von Blind Trusts und allem Möglichen, was er formaljuristisch zur Trennung tun könnte. 60 Milliarden Dollar sind an so vielen Stellen angreifbar; was im US-Wahlkampf noch eine geradezu absurde, demokratiezersetzende Stärke war, wird im Falle seines Wahlsiegs zur ebenso demokratiezersetzenden Schwäche.


Sein Vermögen ist nicht Bloombergs einzige Schwäche. Die folgenden Faktoren machen ihn grundsätzlich zu einem Kandidaten, den ich nicht unterstützen möchte, sofern ich es irgendwie vermeiden kann. Aber in Kombination mit seinem riesigen Vermögen werden alle diese Faktoren umso problematischer. Wir werden gleich sehen, warum.
Da wäre zum einen sein "technokratischer" Ansatz. Bloomberg behauptet von sich, nicht ideologiegetrieben zu sein, sondern lediglich pragmatisch und auf der Datenlage zu entscheiden. Das ist, natürlich, die Behauptung jeder privilegierten Person. Aber in Bloombergs Fall widerspricht es auch deutlich jeglichen Fakten. Unser einziger Anhaltspunkt für seine Kompetenzen in diese Richtung ist seine Amtszeit als New Yorker Bürgermeister.
In dieser Zeit ist er am engsten mit der Idee von "Stop&Frisk" verknüpft, der rassistischen Polizeitaktik, die darauf basierte, Schwarze und Latinos grundlos anzuhalten und zu kontrollieren. Basis war das statistische Artefakt, dass Männer dieser Gruppen zwischen 18 und 25 überproportional häufig Straftaten begehen, was sicherlich richtig ist. Die Datenlage war eindeutig. Bloombers Lösungsansatz aber war verheerend. Die Auswirkungen dieser grausamen Politik werden von Trevor Noah treffend auf den Punkt gebracht:
In einem Artikel in der New Republic bezeichnete Alex Pareene Bloombers ganzes Auftreten in Kontrast zu Trumps vulgärem Proto-Faschismus als "höflichen Autoritarismus". Er weist zurecht darauf hin, dass Bloomberg bereits seit über vier Jahrzehnten öffentlich rassistische Theorien verkündet ("police disproportionately stop whites too much and minorities too little") und dass er sich dafür ausspricht, in der Verfassung verankerte Bürgerrechte auszuhebeln, um diesen Fantasien Raum zu geben. Natürlich nicht für sich und seinesgleichen, sondern für die Minderheiten, die er aus dem öffentlichen Raum und in die prekären Bereiche drängt, wo sie dann als ungelöste Probleme vor sich hinvegitieren können.

Und diese Tendenzen beschränken sich nicht auf ethnische Zugehörigkeit; Bloomberg versuchte als Bürgermeister von New York, selbst außerhalb seiner Jurisdiktion (was schert so etwas auch einen Multimilliardär?) Muslime durch die Polizei ausspähen zu lassen, ohne jeden Tatverdacht, allein aufgrund ihrer Religionszugehörigeit. Bloomberg hat aber nicht nur eine zutiefst rassistische und bigotte Grundhaltung, die er hinter seiner angeblichen rationalen Zahlenorientierung verbirgt. Auch seine Haltung gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft, die wohl dokumentiert ist, disqualifiziert ihn:
Doch damit nicht genug. Genauso wie Donald Trump als Arbeitgeber vor allem durch die massive sexistische Diskriminierung seiner Angestellten und sein tyrannisches Gebaren auffiel, so auch Bloomberg. Auch er ist der fleischgewordene Albtraum eines Arbeitgebers, der Pinkelpausen und geregelte Mahlzeiten (natürlich nur bei seinen Untergebenen, nicht bei sich) als Schwäche ansieht und der eine lange Geschichte sexistischen Verhaltens aufweist.

Einmal davon abgesehen, dass diese Haltung einem Gegner wie Donald Trump abermals die Steilvorlage schenkt, sich als populistischer Verteidiger des "Manns von der Straße" zu inszenieren und politisches Gift ist (Wie es der American Conservative formuliert: "He’s the mirror image of Donald Trump, only whereas Trump is our most unfiltered voice of populism, Bloomberg is the smirking id of our imperious elites."), diese Haltung ist auch ohne Beachtung ihrer elektoralen Auswirkungen einfach nur widerlich. Bloomberg ist ein Mensch, der für diejenigen, die weniger Glück hatten als er, nur Verachtung übrig hat. Das mag ihn zum Milliardär qualifizieren, aber mit Sicherheit nicht zum Präsidenten.

Trotz allem ist Bloomberg vor Trump, der dessen Charakterschwächen nicht nur teilt, sondern sogar übertrifft, immer noch die bessere Wahl. Ich werde sicher nicht den Fehler machen, den genügend Leute (auch Leser dieses Blogs!) 2016 gemacht haben und die größte Gefahr aus den Augen verlieren, weil die Alternative unappettitlich ist. Ryan Cooper von The Week geht gar soweit, nicht für Bloomberg stimmen zu wollen:  "If the choice is Cthulhu versus Nyarlathotep, I for one see little point in voting for the candidate that might have one fewer grasping eldritch tentacle." Auch wenn ich natürlich eine gewisse Schwäche für Cthulhu-Referenzen habe, finde ich diese Argumentation extrem problematisch. Denn Bloomberg wäre zwar ein Rückschritt in praktisch jeder Hinsicht, ein ungeeigneter Kandidat und ein halbes Desaster als Präsident. Aber immerhin paktiert er nicht offen mit Nazis oder steckt Leute in Konzentrationslager. Er ist "nur" auf eine Art rassistisch und dünkelhaft, wie man das von saturierten weißen Männern seiner Generation aus den vergangenen Dekaden bereits erkennt. Dass ein so abgehalftertes Konzept dank seines Vermögens in Schlagreichweite des Weißen Hauses kommt, ist deprimierend. Aber wenn es reicht, einen Nazi-Kollaborateur wie Trump aus dem Amt zu fegen, werde ich es mit zusammengebissenen Zähnen nehmen müssen.

Diese bittere Notwendigkeit sollte aber nicht das Kerndilemma aus dem Blickfeld geraten lassen. Bloombergs Person und Verhalten sind nicht das entscheidende Problem. Der Mann ist ein Produkt seines Milieus, in dem unmenschliches Verhalten als Errungenschaft und Vorbedingung von Erfolg dient. Sie wären unter normalen Umständen nur für jene Unglücklichen ein Problem, die der absoluten Kontrolle dieses Menschen ausgesetzt wären, weil sie das Pech hätten, ihn als Arbeitgeber zu haben. Dabei handelt es sich um ein systemisches Problem des Kapitalismus, der unmenschliches Verhalten belohnt und reproduziert.

Nein, was Bloomberg so bedrohlich macht ist die schiere Masse seines Vermögens. Es ist das Krebsgeschwür der Democrats, zersetzend und giftig. Selbst wenn Bloomberg ein absoluter Heroe wäre, ein Musterbeispiel von Mensch, so hätte er einen Einfluss, den in einer Demokratie kein einzelner Mensch haben sollte, haben darf. Joseph Britt beschreibt in einem Tweet-Thread, was mit dem Vermögen alles Gutes getan werden könnte. Von der Rettung des Lokaljournalismus über die Reinigung der Abbaustätten fossiler Energieträger zum Wiederaufbau des durch tropische Wirbelstürme verheerten Puerto Rico oder der medizinischen Lösung der Opiod-Krise und der Umgestaltung landwirtschaftlicher Flächen in Illinois und Kalifornien.

Stattdessen finanziert Bloomberg, was auch immer er, und er allein, gerade für spannend hält. Man muss wahrscheinlich dankbar sein, dass er den Kampf gegen Kriminalität (egal, wie verzerrt er ihn durch seine rassistisch-autoritäre Brille betrachtet) und für strengere Waffengesetze als relevant ansieht und nicht wie Jeff Bezos der Überzeugung ist, sein viel zu großes Vermögen nur durch Reisen in den Weltraum signifikant nutzen zu können. Aber das ist eine Hürde, die so niedrig hängt, dass der 78jährige nur darüber stolpern muss.

Fakt ist, dass all diese von Britt skizzierten ebenso notwendigen wie wertvollen Vorhaben nicht finanziert werden, aus Gründen, die ich bereits in meinem ursprünglichen Artikel angesprochen habe. Deswegen darf solche wirtschaftliche Macht nicht in den Händen einer einzelnen Person liegen. Es ist mit Demokratie unvereinbar. Und dass solche wirtschaftliche Macht nun danach strebt, sich mit politischer Macht zu einem nie dagewesenen Moloch zu vereinen, frisst wie ein Krebsgeschwür an den Grundfesten der Demokratie. Manche mögen das nicht sehen und nicht sehen wollen, weil sie Bloombergs Ansichten teilen, weil sie Trump besiegen wollen oder einfach nur, weil sie der Überzeugung sind, dass Demokratie eh nicht so toll ist und besser durch eine Plutokratie ersetzt werden sollte. Aber diese Leute liegen falsch.

Dienstag, 18. Februar 2020

Bernie bespricht beim Assassin's-Creed-Spielen mit Friedrich Merz Sicherheitspolitik - Vermischtes 18.02.2020

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Über die Wahrung der demokratischen Form
Dennoch bleibt die Vorstellung, die Bundesregierung sei einem Neutralitätsgebot unterworfen, irritierend. Denn als demokratisches Organ kann sie nicht anders, als sich politisch zu äußern – und zwar nicht nur, wenn ihre Angehörigen zugleich ein Parteiamt bekleiden. Sollte eine Antwort auf die politische Krise wirklich darin liegen, mit verfassungsrechtlichen Mitteln aus Politikern Beamte zu machen und die eigentliche Politik damit im Ergebnis denen zu überlassen, die keine Ämter im geltenden System anstreben? Das Verständnis des Regierens als höhere Form des Verwaltens war für Max Weber ein wesentlicher Grund für den gerechtfertigten Niedergang des Kaiserreichs. Gut passt dazu der Ruf nach einer Expertenregierung in Erfurt. Verfassungsrechtlich entsteht auf diese Weise eine seltsame Zwei-Welten-Lehre einerseits aus Systemgegnern, die unter Berufung auf die Meinungsfreiheit fast alles, andererseits aus politischen Amtsträgern, die fast gar nichts mehr sagen dürfen. Die wehrhafte Demokratie kann so nicht im politischen Alltag beginnen. Die Vorstellung, Politik als „Kompetenzausübung“ zu verstehen und dadurch juristisch weitgehend einzuhegen, ist, das hat Christian Neumeier soeben in einer brillanten von Christian Waldhoff an der HU betreuten Promotionsschrift rekonstruiert, ein Kind des krisengeplagten deutschen Nationalliberalismus des späten 19. Jahrhundert. Eine Entsprechung in anderen demokratischen Verfassungsordnungen wird sie nicht finden. Dass eine Regierungschefin politisch neutral sein sollte, dürfte wohl nirgendwo auf Verständnis stoßen. Wäre sie es, würden sofort Klagen über das innenpolitische Vakuum laut, das eine solche Neutralität zwangsläufig erzeugt. Nicht zum ersten Mal wird hier eine politische Auseinandersetzung in einen Legalitätsdiskurs übergeleitet, der die demokratische Auseinandersetzung schwächt. Im Traum von der unpolitischen Regierung gehen bürgerliche Politikaversion, die nachwirkende Erfahrung mit der Behaglichkeit der alten Bundesrepublik, der Glaube an einen vorpolitischen Selbststand des Rechtsstaats, aber vielleicht auch eine intellektuell ausgezehrte Juristenausbildung eine Allianz ein, die mit dem Politikverständnis des Grundgesetzes nichts zu tun hat. „Die demokratische Form wahren“ – was immer das bedeuten soll, es kann nicht heißen, politisch neutral zu sein. Hier verwechselt Müller, aber nicht nur er, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Form der Demokratie ist die Form der Politik. (Christoph Müllers, Verfassungsblog)
Es ist gut, dass Müllers sich an die Fleißarbeit gemacht hat, die Idee einer "neutralen" Regierung zu widerlegen. Worauf er aber leider nicht eingeht, ist der Grund für die "bürgerliche Politikaversion", die den "Traum von der unpolitischen Regierung" hegt. Es ist derselbe Irrtum, der auch die instinktive Ablehnung dessen beinhaltet, was Bürgerliche gerne als "Identitätspolitik" schmähen (was es, wie wir wissen, nicht ist). Das Problem, das hinter dieser Fehlkonzeption steckt, ist die Absolutsetzung der eigenen Lebenserfahrung. Was meine ich damit? Bei all diesen Themen, bei denen Bürgerliche gegen Identitätspolitik wettern, ohne dabei zu bedenken, dass sie selbst ebenfalls heftig eine solche betreiben, geht es darum, dass die von ihnen wahrgenommene Normalität verstoßen wird. Und damit kommen wir zu Müllers Artikel zurück. Bürgerliche haben keine Politikaversion; sie haben eine Aversion dagegen, dass andere Politik machen, und setzen ihre Normalität absolut, so dass sie sie nicht als Politik empfinden. Der Adel des ausgehenden 18. Jahrhunderts war auch der Überzeugung, unpolitisch zu sein, und klagte über das provozierende, ständig Ärger machende Bürgertum. Sich selbst als apolitisch zu empfinden ist das Privileg der herrschenden Klasse. Das muss man sich klar machen, und dann findet sich der Rest logisch selbst.

2) „Wir brauchen die nicht mehr“
In was ein kleines Leitmotiv dieses Artikels werden dürfte will ich Friedrich Merz loben. Der Journalistenverband kann sich gerne empört aufplustern, aber Merz hat halt Recht. Die Deutungshoheit hat sich in den letzten zwei Dekaden massiv von den klassischen Medien verschoben. Die Zeiten, in denen einzelne Schlagzeilen Politikerkarrieren machen oder zerstören konnten, sind vorbei. Was Merz nicht erwähnt - und vielleicht auch noch nicht verstanden hat, wer weiß - ist, dass auch die Nachrichtenerzeuger diese Hoheit nicht haben. Merz liegt richtig, wenn er sagt, dass er zum Verbreiten seiner Botschaften nicht auf die Zeitungen oder die Tagesschau angewiesen ist; berichten werden sie am Ende ja ohnehin. Aber kontrollieren, was davon beim Rezipienten ankommt, kann er auch nicht. Gut möglich, dass er den Weg geht, den bereits mehrere vormals bürgerliche Parteien für sich entdeckt haben - etwa die Tories oder die Republicans. Er könnte die Nation analog zu Trump oder Johnson in einer Flut immer abstruserer Forderungen, Relativierungen und Geschichten ersticken, so dass Wahrheit und Lüge zu noch relativeren Kategorien werden als ohnehin. Es gibt keinen Grund, dass Deutschland dagegen immun sein sollte, und wenn die CDU das macht, dann wird es die gleichen Effekte wie im angelsächsischen Raum haben. Die Frage ist nur, ob Merz der Mann dafür ist, und ob er am Ende so davon profitieren würde. Zurückhaltung wäre in diesem Fall wohl die Tugend, an die er sich halten sollte.

3) Labor Unions Need All the Help They Can Get
Unions have historically been a pillar of the middle class, and strengthening them could help reduce wage inequality, increase labor’s share of national income and provide many low-wage workers with much-needed stability. So the PRO Act is a welcome development. But its focus might be too narrow to make much difference. [...] But none of these changes would address the real problem with the U.S. labor system, which is the way unions are allowed to organize. Under the current system, established in the New Deal in the 1930s, each workplace votes on whether to form a union. That means that unionized workplaces, if they successfully bargain for higher wages and benefits, can place themselves at a competitive disadvantage relative to nonunion shops. Even employers who would be willing to share more of their profits with their workers will try hard to bust a union if they fear it would mean losing business to rivals. And unions are probably less willing to bargain in the first place if their employer’s higher wages wouldn’t be matched by competitors. The solution is to allow collective bargaining at the level of an entire industry -- a policy known as sectoral bargaining. For example, instead of each fast-food restaurant being forced to choose whether to be a union shop, all the fast-food restaurants in a given city would strike the same bargain at the same time. That would end the competitive disparity that now does so much to undermine unionization. Sectoral bargaining could be done several ways. One is to require all establishments in a given industry in a given area to be represented by one union. Either all workers would have to be in the union, or the union would be allowed to bargain on behalf of non-members -- a system that is used to great effect in countries such as France. An alternative is to give multiple labor organizations a seat at the table in each sector, allowing them to compete for representation by offering services to their members. A third option is to set wages in a sector with a government-appointed wage board instead of union-management negotiations. (Noah Smith, Bloomberg)
Ich finde es spannend zu sehen, dass all die Vorschläge, die wir hier lesen können, letztlich auf eine Übernahme des deutschen Systems hinauslaufen - des deutschen Systems, wie es vor 30 Jahren bestanden hat. Denn die hier beschriebene Realität von Betriebsräten und Tarifverträgen ist ja in vielen Branchen längst nicht mehr Realität - sehr zum Schaden der Arbeitnehmer. Ich bleibe dabei, dass vor allem der Dienstleistungssektor - aber bei weitem nicht exklusiv - am meisten darunter leidet, dass die gewerkschaftliche Bindung in Deutschland so stark abgeschwächt wurde. Die Korrelation ist so eindeutig, dass Kausalität praktisch bewiesen ist: Wo Gewerkschaften stark sind, sind die Löhne für "normale" Arbeiter deutlich höher als dort, wo sie schwach sind. Das Gegenrezept liegt auf der Hand.

4) The Crime of Doing the Right Thing
Trump also fired Gordon Sondland, the ambassador to the European Union, who had tried to play both sides—testifying in a fashion that upset Trump while being cagey at first and thus raising questions to House members about his candor. Sondland had managed to please nobody, and his presence on the scene at all was, in any event, a function of his large donation to the presidential inaugural committee. He had bought his way into service at the pleasure of the president and, having done so, proceeded to displease the president. Most eyes will, I suspect, remain dry as Sondland blusters his way back to the hotel business. But Vindman is another story. His was not a political position. He is an active military officer, rotating through the NSC on assignment. The president can put quotation marks around lieutenant colonel, as he did in today’s tweets, in an effort to demean Vindman’s service, but there is nothing to demean about his service, which has been in all respects honorable. The conduct for which his career has been attacked, what the president calls Vindman’s “insubordination,” was exceptionally brave truth-telling—both in real time and later when Congress sought to hear from him. When that happened, Vindman did not shrink from the obligation to say what had happened. [...] And thus did Lieutenant Colonel Alexander Vindman join a very special club—a motley crew of public officials who have drawn the public ire of a president of uncompromising vindictiveness for the crime of doing the right thing. It’s a club composed of former FBI officials, including two former directors of the bureau; American ambassadors; a former attorney general; some lawyers and investigators; even the former ambassador to the United States from the United Kingdom—anyone who has a line he or she won’t cross to serve Trump’s personal needs or who insists on doing his or her job by not hiding unpleasant realities. [...] Unlike his boss, John Bolton, he did not withhold information from Congress, nor did he cite potential privileges that could be resolved only by court order or by book contract. Unlike Sondland, he didn’t waffle when called. Rather, along with a group of other public servants at the NSC, the State Department, and the Defense Department, he went up to Capitol Hill and told the truth. [...] It is all part of a civil-liberties violation so profound that we don’t even have a name for it: the power of the president to suddenly point his finger at a random person and announce that this is the point in the story when that person’s life gets ruined. (Benjamin Wittles, The Atlantic)
Mit einer der gefährlichsten Aspekte an Trumps Präsidentschaft ist der hier beschriebene Faktor. Der Präsident nutzt den ihm zur Verfügung stehenden Staatsapparat, um Rache an seinen politischen Gegnern zu nehmen. Wenn nicht so deprimierend klar wäre, wie es ausgeht, wäre allein das ein sehr guter Grund, gleich das nächste Impeachment zu starten. Exekutive Zurückhaltung auf diesem Feld ist eine Tugend, die selbst George W. Bush noch pflegte und auf der Obama quasi engelsgleich war. Doch die Zerstörung sämtlicher Normen unter der Ägide der republikanischen Radikalisierung hat dafür gesorgt, dass auch hier keine Hemmungen mehr bestehen. Wie immer ist es an den Democrats, die andere Wange hinzuhalten und nicht nach Vergeltung zu streben, sondern die Normen wieder an Ort und Stelle zu setzen. Es sind solche Normenzerstörungen, die die Demokratie gefährden. Gerade den Konservativen, die so gerne die Geschichte Roms zitieren, sollte klar sein, dass dieselben Mechanismen zum Fall der Republik führten.

5) A Bernie Sanders presidency would be remarkably familiar
This is about as realistic as the tricorn hat fantasies of Republican presidential candidates in 2012. To take only a single example, Medicare-for-All is not likely to win the support of Nancy Pelosi, to say nothing of Mitch McConnell. The revolution may be televised, but it won't be on Senate TV. All the dire warnings progressives have issued in the last three years about the scope of executive authority will have to be forgotten if Sanders hopes to accomplish even a fraction of the things he is talking about in this campaign. More so even than Trump, Sanders is someone who will have to rule by executive order — doing things like unilaterally redefining the scope of Medicare eligibility — or not at all. In the meantime, he and his supporters should feel free to continue pretending that it is "unconstitutional" for the president to move a congressionally appropriated nickel from one jar into another. But heaven's sake, or at least Bernie's, please don't actually start believing it. This is not a problem unique to Sanders. The concentration of quasi-legislative authority in the executive branch is something that is likely to continue apace regardless of who is in the White House. But there is another area in which a Sanders administration would distinctly resemble the present one: staffing. While I am sure that some of his enthusiastic young supporters dream of a cabinet full of Verso Books editorial assistants and aging counterculture luminaries (Attorney General Angela Davis, here we come?), the truth is that most of the people who are willing to implement Sanders' agenda are not qualified to hold executive branch jobs. Meanwhile, the people who are will be just as likely as Trump's early cabinet appointees were to sabotage his plans from within. Who, for example, does Sanders imagine will be capable of serving as his treasury secretary? Whom would he appoint to head the Federal Reserve? Some heterodox post-Keynesian economist from the University of Massachusetts Amherst? Is he going to put Dennis Kucinich in charge of the Pentagon? Or will his supporters be willing to accept the fact that Sanders too will likely have a secretary of defense who, because he is qualified for the position and has relevant experience, holds a number of assumptions that are at odds with the administration's most basic foreign policy goals. (Matthew Walter, The Week)
Das ist meine Rede seit den Vorwahlen 2015. Ich glaube einfach nicht an Bernie Sanders' theory of change. Seine Theorien dazu, wie er sein Programm umzusetzen gedenkt, sind in etwa so realistisch wie Joe Bidens Gerede von überparteilichem Kompromiss im Senat. Wie jeder andere Präsident auch müsste Sanders im völlig disfunktionalen US-System auf die Möglichkeiten der Exekutive zurückgreifen, und dafür fehlt ihm jegliches qualifiziertes Personal. Aber: Genau darin könnte auch seine Chance liegen. Chris Hayes hat dies in seinem letzten Podcast mit Jon Favreau diskutiert. Das einzige Feld, auf dem Trump (neben den Steuergeschenken für die Superreichen) etwas erreicht hat, ist bei der Migration. Natürlich war das rein destruktiv, aber das Verwandeln von ICE in eine Art eigener SA und das Errichten von Konzentrationslagern für Asylsuchende ist deswegen passiert, weil Trump mit Steven Miller einen ruchlosen und kaltschnäuzigen Ideologen an die Spitze gesetzt hat, dem völlig egal ist, ob etwas gesetzestreu ist oder der bisherigen Praxis entspricht. Er probiert einfach und nimmt, was er kriegt. Wenn das Gericht etwas wieder einkassiert ist meistens eh zu spät. Theoretisch könnte Sanders ruchlos genug sein, dasselbe von links zu machen. Oder Bloomberg, dem eine autoritäre Ader nicht gerade abgeht, um es milde auszudrücken.

6) Wo der Spaß aufhört 
Ich bitte um Verständnis, dass nun ein persönlicher Einschub folgt: Als Journalist, der seit mehr als einem Jahrzehnt über Spiele schreibt, habe ich selbst die Möglichkeit zur Darstellung von Gewalt in Games immer wieder verteidigt. Mir ging es dabei wie manch anderen Kolleginnen und Kollegen auch darum, dass Videospiele endlich als Kulturgut ernst genommen würden. Vor einem Jahrzehnt nämlich gab es noch eine regelrechte mediale Front gegen Games schlechthin. Es wurde damals regelmäßig und mit Verweis auf oft fragwürdige Studien behauptet, Spielen verrohe Jugendliche und senke bei ihnen womöglich die Hemmschwelle, auch im wirklichen Leben Gewalt anzuwenden. Der Kriminologe Christian Pfeiffer etwa tingelte mit dieser These eine Weile durch Talkshows. Der im Jahr 2009 erstmals vergebene Deutsche Computerspielpreis wiederum, hinter dessen Auslobung eine gemeinsame Initiative der Wirtschaft und des Bundestages steht, wurde auf der politischen Seite von Menschen getragen, die mitunter noch nie einen Controller angefasst hatten. Games, in denen geschossen wurde, wurden bei dem Preis lange nicht bedacht. Allein die routinemäßige Verwendung des Begriffs "Killerspiele" in der Diskussion um Games machte deutlich: Die galten als Problem, nicht als Kunst. Wie großartig etwa der Ego-Shooter Half Life 2 als Spiel war, ließ sich deshalb kaum debattieren: War das nicht das beste Game aller Zeiten? Aber fast gleichzeitig kam GTA San Andreas heraus, man musste ständig neu über diesen Superlativ nachdenken. Brutal waren beide Games. Wie sehr einen Doom 3 oder die Dead-Space-Spiele in einen Kosmos aus Angst und Grusel katapultieren konnten, einen der guten Sorte: Von all dem wussten diejenigen nichts, die Videospiele lediglich hinsichtlich ihrer vermeintlichen Wirkung (auf Heranwachsende vor allem) betrachteten, nicht aber als Kunstwerk. Bernd Neumann etwa, Kulturstaatsminister von 2005 bis 2013, hofierte durchaus den Filmregisseur Quentin Tarantino, vertrat hingegen die Meinung, dass Ego-Shooter "schwerlich kulturell und pädagogisch wertvoll" sein könnten. Die Aussage tauchte in einer Pressemitteilung dessen Hauses auf, als dann doch mal ein Ego-Shooter beim Deutschen Computerspielpreis ausgezeichnet wurde, Crysis 2 im Jahr 2012. Der Vorgänger von Odyssey, das auch nicht unbrutale Assassin's Creed Origins, wurde in diesem Jahr mit dem Deutschen Computerpreis in der Kategorie Action-Adventure-Spiel prämiert. Die Zeiten haben sich also geändert. Aber vielleicht liegen die Zeiten ja auch wieder falsch, nun nur anders als angenommen: Wohin führt die Gewalt jetzt? Wie vor allem sieht sie aus? (Thomas Lindenmann, ZEIT)
Ich sehe das genau wie Lindenmann. Ich war mittendrin in diesen beknackten Debatten in den 2000er-Jahren, als in der FAZ ein Artikel erschien, der dem entsetzten Publikum erkläre, in Counterstrike bekomme man Bonuspunkte für das Abschießen von Omas mit Kinderwägen (in einem Spiel, das weder Punkte noch Omas noch Kinderwägen kennt). Das Niveau dieser Debatte war unterirdisch und hat eine ganze Generation radikalisiert. Meine Freunde von damals kriegen heute noch, mit Mitte 30, einen Hals, wenn sie an den Bullshit denken. Und diese Masse an Bullshit hat den Brunnen für jede vernünftige Debatte vergiftet. Die professionellen Bedenkenträger von einst sind weiter gezogen und verkaufen ihr Schlangenöl jetzt, indem sie vor Smartphones und Snapchat warnen. Gegenüber der Videospielbranche, die längst das mehrfache (!) des Umsatzes Hollywoods macht, haben sie vollständig kapituliert. Die intellektuelle Wüste der Debatte über Videospiele hat man bereits im #Gamergate-Skandal 2014 gesehen; das ist seither nicht besser geworden. Und das ist komplett die Schuld der blasierten Journalisten, Politiker und Elternvertreter von einst, die nicht bereit waren, auch nur die grundlegendsten Fakten über das zu lernen, über das sie sprachen. Und wenn das nicht eine Kontinuität zu den heutigen Debatten über das Smartphone ist, die auch völlig ohne die eigentlich Betroffenen, bar jeder Sachkenntnis und unter der Fahne heiliger Empörung geführt werden. Und damit eine Generation für jede Diskussion über vernünftige Mediennutzung immunisieren. Bravo. Bravo. Bravo.

7) Ohne Privatversicherungen würden die Kassen-Beiträge sinken
Wenn alle Bürger gesetzlich krankenversichert wären, würden die Kassen pro Jahr rund neun Milliarden Euro mehr einnehmen als bisher – und der Beitragssatz für alle könnte um bis zu 0,7 Prozentpunkte sinken.Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Berliner IGES-Instituts im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, die heute veröffentlicht werden soll. Im Schnitt brächte demnach die Abschaffung des dualen Krankenversicherungssystems - im politischen Jargon Bürgerversicherung genannt - jedem bisherigen Kassenmitglied und seinem Arbeitgeber zusammen eine Ersparnis von 145 Euro im Jahr. Und selbst, wenn den Ärzten die Mehreinnahmen durch Privatversicherte komplett ausgeglichen würden, bliebe den Mitgliedern von AOK, Barmer & Co. unterm Strich noch ein Plus von 48 Euro. [...] Tatsächlich befinden sich in der PKV, wie die Studie ergab, in Relation zur Versichertenzahl weniger Menschen mit Pflegebedarf, Erwerbsminderung, Schwerbehinderung oder chronischen Erkrankungen als in der GKV. So sind 1,9 Prozent der Versicherten bei den gesetzlichen Kassen pflegebedürftig, bei den privaten nur 1,1 Prozent. Die Quote der Erwerbsgeminderten oder Schwerbehinderten beträgt bei der GKV 14,8 Prozent, bei der PKV 11,2 Prozent. Und bei den Versicherten mit längeren oder chronischen Erkrankungen liegt die GKV mit fast sechs Prozentpunkten vorn: Sie kommt hier auf einen Anteil von 44,1 Prozent, die PKV auf 38,3 Prozent. [...] „Der durchschnittliche GKV-Versicherte zahlt jedes Jahr mehr als nötig, damit sich Gutverdiener, Beamte und Selbstständige dem Solidarausgleich entziehen können“, resümiert der Bertelsmann-Gesundheitsexperte Stefan Etgeton. Dies sei „der Preis dafür, dass sich Deutschland als einziges Land in Europa ein duales Krankenversicherungssystem leistet.“ Aus dem „ideellen Solidaritätsverlust“, der mit dem dualen Krankenversicherungssystem einhergehe, werde auch ein ganz realer und finanzieller. (Rainer Woratschka, Tagesspiegel)
Ich halte eine Bürgerversicherung mit einem privaten Krankenversicherungswesen, das Zusatzversicherungen anbietet, für die beste Lösung. Erstens räumt es mit einem hyperkomplizierten und ineffizienten System auf (das dürfte Stefan Pietsch gefallen, der ist ja immer für möglichst einfache Systeme :P), zweitens macht es die Krankenversicherung für alle Beteiligten günstiger und drittens nimmt es eine ganze Latte Fehlanreize aus dem Markt. What's not to like?

8) Kommunal-CDU stimmt mit AfD und NPD // Tweet
Inhaltlich ging es bei der Abstimmung um einen Antrag, der den Zuzug in die 12.000-Einwohner-Stadt im Speckgürtel Berlins begrenzen soll. Um eine "zunehmende Entfremdung" zu verhindern, wurde nun der Bau von Wohnprojekten mit mehr als 50 Einheiten per Moratorium gestoppt. Auch der lange geplante Anschluss an das Berliner S-Bahn-Netz soll nicht weiter verfolgt werden. Vornehmlich soll der Zuzug aus Berlin selbst reduziert werden, eine AfD-Abgeordnete machte im Vorfeld des Votums jedoch auch mit dem Verweis auf einen Migrationshintergrund bei 40 Prozent der Zuziehenden Stimmung für den Antrag, berichtet die "Berliner Zeitung". (ntv)
Zwei Beispiele dafür, wie die Brandmauern weiter eingerissen werden. Ich kenne die Landesverbände zu wenig, um die Allgemeingültigkeit der Berliner CDU- und FDP-Gliederungen bewerten zu können, aber in beiden Fällen handelt es sich um scharfe Sprünge nach Rechts. Im Fall der CDU arbeitet man nicht nur mit der Partei der Neonazis zusammen (hallo, wir reden von der NPD!) sondern auch mit der mit Neonazis ein entspanntes Verhältnis pflegenden AfD. Und worin? In einer offen rassistischen Maßnahme zur ethnischen Reinhaltung der eigenen Stadt. Das ist dermaßen widerlich, man weiß gar nicht wo anfangen. Im anderen Falle haben wir einen weiteren Beleg für die krasse Verschiebung ins rechte Spektrum der FDP spätestens seit 2017. Wer sich zusammen mit der AfD zum Brüllen rechtsradikaler Slogans hochjazzt, der stellt sich bewusst in diesen Sumpf. Das ist, als würden Abgeordnete der Grünen zusammen mit Antifa-Leuten hinstehen und "All Cops Are Bastards!" brüllen. Aber ich bin sicher, dass unsere Kommentatoren Wege finden werden, beides zu entschuldigen. Geht ja gegen links und so.

9) Americans Are Suckers for a Certain Kind of Grifter
I look forward to not thinking about Avenatti; he will probably end up with a prison sentence, and I hope he emerges penitent and rehabilitated. But we should all think about the pathological processes that led him to be lionized in the first place. A lefty friend told me once that he thought Democrats needed to treat Trump like a schoolyard bully, and that the remedy for bullying is to make the bully cry by bullying him right back, harder. (Don’t worry; my friend is childless.) Under that theory, Avenatti was the good narcissist, and the left needed someone with sociopathic self-regard to save the country from the malignant narcissist, Trump. It needed someone who can commune with the divine rhythms of the news cycle, like a master sailor who knows winds and tides and by instinct alone arrives in port faster than others. The belief that such a person is the country’s political salvation has done incalculable damage, for the obvious reason that anyone so devoted to his own reflection in the media is likely not to have much time left to be devoted to much else. Trump himself is the most obvious example of this: a man preternaturally attuned to the vagaries of public opinion and media cycles, but faithless to all principle and guaranteed to disappoint, sell out, or denounce his most loyal supporters, as soon as it becomes convenient to do so. Avenatti, of course, never came near the Democratic nomination. But he revealed how defenseless we all are against a certain species of grifter. The psychological vulnerability is universal and devastating: Before a certain kind of soulless charlatan, our brains surrender themselves, as long as he promises that he is fighting on our side. I know of no political test, no gantlet one must pass before appearing on television or on a ballot, that stops such people. In fact these processes select for them, and the relationship between these showmen and the rest of us is best described as abusive and co-dependent. (Graeme Wood, The Atlantic)
Die Analyse Woods ist absolut zutreffend. Nur vergisst er zu erwähnen, dass Avenatti in allen entsprechenden Umfragen keinen Boden gewinnen konnte, genauso wenig wie Marianne Williamson, während bei den Republicans sowohl 2012 als auch 2016 die Spinnerbrigaden von Herman Caine zu Ben Carson, von Rick Santorum bis Donald Trump die Umfragen dominierten. Die Democrats sind sicherlich nicht immun gegen diese Art von Schlangenölhändlern, aber sie haben deutlich bessere Abwehrkräfte. Zumindest bislang. Ich sehe allerdings die aktuelle Entwicklung ebenfalls mit Sorge. 

10) Nicht mal mehr bedingt handlungsfähig