Dienstag, 5. Mai 2020

Das große Kanzlerranking, Teil 5: Angela Merkel


Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.

Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.

Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersuchtIn Teil 2 war es Willy Brandt. In Teil 3 schauten wir zu Helmut Kohl. Letztes Mal war Schröder an der Reihe. Weiter geht es mit Angela Merkel.



Raimond Spekking /
CC BY-SA 4.0
(via Wikimedia Commons)

Platz 5: Angela Merkel (2005-2021)

Angela Merkel ist ein schwieriger Fall. Ihre lange Regierungszeit allein lässt erwarten, dass zentrale Weichenstellungen in sie fallen, aber wie bei Kohl ist eine lange Regierungszeit nicht mit großen Weichenstellungen gleichzusetzen. Vielmehr scheint es, als ob diese einer solchen eher im Wege stehen. Zudem gibt es einige Entscheidungen, die noch während der Amtszeit wieder aufgehoben wurden - man denke nur an die Krankenkassengebühr beim Arztbesuch.

Die Ära Merkel ist daher, sehr typisch für sie Kanzlerin, vielleicht vor allem dafür relevant, welche Entscheidungen nicht getroffen wurden. Denn wie jeder in der Politik weiß ist eine Nicht-Entscheidung auch immer eine Entscheidung mit Konsequenzen. Es gibt keine echte Neutralität. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf wollen wir uns nun der ersten Frau an der Spitze der Nation zuwenden.

Innenpolitik

Einige der zentralen innenpolitischen Weichenstellungen der Merkel-Ära fallen in den Bereich der Gesellschaftspolitik. Es gibt nur Weniges, das sich aus der Warte des Wahlkampfs 2005, in dem die CDU sich mit Friedrich Merz und Paul Kirchhof ein betont neoliberales Profil gab und damit kolossal gegen die Wand fuhr, absurder scheint als die folgende Expansion des Sozialstaats auf Druck der Unionsparteien. Obwohl in einer großen Koalition mit der SPD war es die Sozialdemokratie, die weitere Einschnitte in den Sozialstaat (Rente mit 67!) und die entsprechende Rhetorik ("waschen und rasieren Sie sich, dann finden Sie einen Job") in den Vordergrund stellte (was die SPD als Machtfaktor praktisch beseitigte und dauerhaften Absturz unter 25% der Stimmen zementierte), während ausgerechnet die Christdemokraten über die größte Ausweitung des Sozialstaats seit der Rentenreform 1972 präsidierten, als sie das Elterngeld verabschiedeten.

Die innere Logik dieser Reform war praktisch unausweichlich und ein Ausfluss des Dilemmas der CDU. In ihren marktfreundlichen Reformen, wie sie etwa in der Person Friedrich Merz' verkörpert wurden, steckte immanent der Abschied vom klassischen konservativen Familienmodell, da Einernährer-Haushalte schlichtweg materiell nicht mehr möglich waren. Die sinkende Geburtenzahl vor allem im Bereich der Familien, in denen Frauen ökonomisch wie persönlich attraktive Jobs hielten, musste vor allem Konservative besorgen. Das Elterngeld war logische Konsequenz dieses Dilemmas.

Ebenso logische Konsequenz war der konservative Aufstandsversuch seitens der CSU gegen die Entwicklung, die sie selbst mit angestoßen hatte. Die Lösung, noch mehr Geld in eine weitere Sozialleistung mit dubiosem Effekt zu pumpen - das Betreuungsgeld -, während die Kitas dem rasant steigenden Bedarf wegen ihrer Unterfinanzierung nicht hinterher kamen, ist geradezu prototypisch für die Ära Merkel.

Ebenfalls typisch für Merkels Regierungsstil ist die Einführung der Homo-Ehe 2017. Jahrzehntelang ein heftiges gesellschaftspolitisches Streitthema hatte sich die öffentliche Meinung in den 2010er Jahren rapide gewandelt; rund drei Viertel der Deutschen befürworteten die "Ehe für alle". Um der SPD im Bundestagswahlkampf desselben Jahres nicht ein polarisierendes Thema zu geben, erklärte Merkel es kurzerhand zur Gewissensfrage und gab es zur Abstimmung frei, wohl wissend, dass das Gesetz angenommen werden würde.

Eine ähnliche Ausrichtung an einer sich ändernden Mehrheitsmeinung sehen wir beim Atomausstiegsausstieg und dem folgenden Atomausstiegsausstiegausstieg. So wie Rot-Grün mit großer Fanfare Kohls Rentenreform zurückdrehte, um den linken Parteiflügel zu befrieden, drehte Merkel zur Beruhigung des rechten Parteiflügels nach der Wahl 2009 den Atomausstieg zurück - nur um dann, ähnlich der Regierung Schröder mit der Rente, eine weitere 180°-Drehung hinzulegen und 2011 unter Eindruck der Katastrophe von Fukushima endgültig von der Atomkraft Abschied zu nehmen - nicht ohne die Energiewende Rot-Grüns torpediert und die Bundesrepublik auf Jahrzehnte auf die teuren, ineffizienten und schmutzigen Kohlekraftwerke als Zwischenlösung festgelegt zu haben.

Ebenfalls vor allem gesellschaftspolitisch relevant ist die Aussetzung der Wehrpflicht. Die Bundeswehr und mit ihr die Wehrpflicht waren unter dem Primat der "Friedensdividende" seit der deutschen Einheit bis auf die Substanz abgewertet worden; die Verschiebung der deutschen Außenpolitik zu Interventionseinsätzen unter Rot-Grün, ein Trend, der unter Merkel unvermindert anhielt, machte die Wehrpflicht zunehmend überflüssig. Gerechtigkeit war angesichts Einziehungsraten von unter einem Drittel ohnehin längst nicht mehr gegeben. Es war daher nur folgerichtig, dass Verteidigungsminister Guttenberg 2011 die Wehrpflicht aussetzte und die Bundeswehr zu einer reinen Berufsarmee machte, ein tiefgreifender Strukturwandel, mit dem seine NachfolgerInnen heute noch kämpfen.

Angela Merkel gebührt grundsätzlich der Verdienst, die CDU modernisiert und von einer Partei des 20. Jahrhunderts in eine des 21. Jahrhunderts verwandelt zu haben. Wir besprachen bereits den Wandel des Familienbilds und das Abstreifen der Homophobie in der Partei; die Amtskirchen verloren zudem weiterhin an Einfluss - analog zum Rest der Gesellschaft. Vor allem um 2010-2012 herum versuchte die Partei zudem, ein entspannteres Verhältnis zum Islam zu gewinnen, das in Bundespräsident Christian Wulffs berühmten Statement "Der Islam gehört zu Deutschland" kulminierte. Leider fand diese Öffnungspolitik keine Fortsetzung, als Krisen zunehmend Merkels Agenda zu bestimmen begannen.

Die erste innenpolitische Krise, die über das Land hereinbrach, war die Flüchtlingskrise 2015. Sie ist die wohl größte Hinterlassenschaft Merkels zur Veränderung der Republik. Rund anderthalb Millionen Menschen dürften zwischen 2015 und heute als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sein; ein Teil von ihnen wird für immer bleiben. Bereits vor der Flüchtlingskrise lag der Anteil an Bürgern mit Migrationshintergrund vor dem der USA (!), seit der Flüchtlingskrise dürfte niemand mehr behaupten wollen, wir seien kein Einwanderungsland.

Die Bewältigung dieser Krise ist bislang schwer zu beurteilen. Sehr gute Leistungen muss man der Regierung beim Bereitstellen von Unterkünften, Versorgung und Deutschkursen bescheinigen; besonders letztere wurden in einem Mammutverfahren auf ein Vielfaches ihres ursprünglichen Umfangs aufgebläht und sorgten dafür, dass alle Flüchtlinge auf einen Kurs zum B-Niveau und dem Hauptschulabschluss gebracht wurden. Gleichwohl gibt es zahlreiche Probleme, die bis heute ihrer Lösung harren. Dieses Feld wird Historiker noch eine ganze Weile beschäftigen.

Unstrittig ist aber, dass die Flüchtlingskrise das deutsche Parteiensystem so tiefgreifend verändert hat wie zuvor Schröders Agenda2010. War der Sozialdemokrat mit seinem Reformwerk für die Etablierung einer linkspopulistischen, tendenziell systemkritischen Linkspartei verantwortlich, so erwies sich die Flüchtlingskrise als lebensrettende Infusion für die absinkende AfD, die sich als klar rechtspopulistische, schnell ins rechtsradiakale und zunehmend sogar rechtsextreme Spektrum abgleitende, systemfeindliche Partei etablierte, die erste ihrer Art seit 1945. Dafür ist mit Sicherheit nicht Merkel allein verantwortlich; eine extrem freundliche Presseumgebung und eine geradezu fahrlässige Normenverschiebung nach rechts gekoppelt mit der Selbstradikalisierung großer Teile des bürgerlichen Spektrums spielten mit eine entscheidende Rolle. Es ist aber klar, dass das ohne die Flüchtlingskrise nicht passiert wäre.

Die zweite große innenpolitische Krise Merkels ist die Coronakrise, in deren Anfangsstadien diese Artikelserie entsteht. Aktuell ist noch nicht absehbar, welche Langzeitfolgen - abgesehen von einem mit Sicherheit rapide steigenden Schuldenstand - die Bewältigung der Krise haben wird. An dieser Stelle soll daher auch nicht spekuliert werden. Wir werden in den kommenden Jahren mit Sicherheit noch darüber debattieren; dass die Krise Effekte haben wird, dürfte unbestritten sein.

Außenpolitik

In den Bereich der Außenpolitik fällt Merkels dritte große Krise (und die erste ihrer Kanzlerschaft), die Eurokrise. Als Folgewirkung der weltweiten Finanzkrise 2007-2009 (die wir in den nicht gegangenen Wegen näher untersuchen werden) gerieten die Staatsfinanzen zuerst Griechenlands, dann des Rests der despektierlich PIIGS-Staaten genannten Gruppe vorrangig, aber nicht exklusiv im Mittelmeerraum verorteter Staaten in eine nicht mehr zu haltende Schieflage.

Die Regierung Merkel reagierte darauf, indem sie versuchte, die Krise in Griechenland einzudämmen und ein Überschwappen auf die bedeutenderen Volkswirtschaften Italiens und Spaniens zu verhindern. Das Rezept dafür war radikale Austerität, die den betroffenen Staaten über die EU-Institutionen aufgezwungen wurde. Dies führte zu ungeliebten und schnell fallenden Regierungen von Technokraten in Italien und der rapiden Auflösung der alten christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien zugunsten jeweiliger populistischer Ausleger in Griechenland und Spanien; in Italien übernahmen nach dem Fall der Technokraten die bereits sattsam bekannten Rechtspopulisten unter Berlusconi die Macht.

Die Euro-Politik basierte auf einem Ansatz von Zuckerbrot und Peitsche: Würde die oktroyierte Austerität eingehalten, so flossen Stabilisierungskredite des neu geschaffenen ESM. Diese Politik spannte die CDU und FDP bis zum Zerreißen, Merkel verlor ihre eigene Mehrheit bei mehreren Abstimmungen und konnte die Rettungspakete nur dank der Stimmen der stets loyalen, eigentlich oppositionellen SPD verabschieden. In Folge konstituierte sich am rechten Rand der schwarz-gelben Parteien eine immer offenere Opposition, deren radikalste Elemente eine eigene, eurofeindliche Partei formten: die Alternative für Deutschland, die damals vor allem als nationalliberale Partei zu reüssieren versuchte, 2013 jedoch knapp scheiterte (dafür aber die FDP mit in den Abgrund riss). Die Eurokrise wurde nie wirklich gelöst, sondern durch die 2015 beginnende Flüchtlingskrise überdeckt und abgelöst.

Demgegenüber verblassen andere Elemente der Merkel'schen Außenpolitik. Die Verabschiedung des Lissabon-Vertrags 2009 stellte die Europäische Union auf ein neues, tragfähigeres Fundament, das sich seither unter Bedingungen einer Dauerkrise zu bewähren hat - mit bestenfalls gemischten Folgen. Das Lissabonner System ist aber mit Sicherheit tragfähiger als der gescheiterte Kompromiss von Nizza und trägt den neuen Realitäten seit der Wiedervereinigung Rechnung. Seine institutionelle Logik wurde schnell von allen Parteien anerkannt und hat seither eine eigene Dynamik entwickelt. Gleichwohl sind Merkel im Speziellen und Deutschland im Allgemeinen nicht prominent mit der Konzeption und Verabschiedung des Vertragswerks verknüpft.

Im Jahr 2011 zeigte sich eine besorgniserregende Entwicklung, als FDP-Außenminister Westerwelle Deutschland international mit einer Enthaltung im Sicherheitsrat bei der Libyen-Intervention brüskierte. Der Versuch, sich ein eine neutrale Mittlerposition zwischen der NATO und Russland und China zu stellen, entfremdete das Land von seinen Verbündeten, ohne einen klaren Gewinn mit sich zu bringen - rhetorisch und faktisch unterstützte Deutschland die Intervention schließlich! Rückblickend ist die Enthaltung ein Zeichen der kommenden Konflikte in der NATO; inzwischen ist ein merkwürdiges Bündnis aus FDP, LINKEn, SPD und AfD für eine Distanz zum Bündnis und Annäherung an Russland, während die Transatlantiker allenfalls noch eine Heimat in CDU und Grünen (!) haben. Die Langzeitfolgen für die Außenpolitik, die diese Entwicklung aufzeigt, sind kaum absehbar.

Nur einmal wandte sich Merkel aktiv gegen diesen Trend, als sie - ungewohnt entschlossen - in der Krim-Krise 2014 klare Position gegen Putin bezog und gegen den Widerstand der oben genannten Allianz die Russland-Sanktionen und die Minsk-Verhandlungen durchsetzte, die bis heute die Verhältnisse zum eurasischen Nachbarn bestimmen. Mit der verteidigungspolitischen Aufwertung der EU-Battle-Groups hat Deutschland in den vergangenen Jahren zudem den NATO-Partnern in Osteuropa gegen Russland den Rücken gestärkt. Insgesamt aber bleibt die Außenpolitik der Bundesrepublik sehr unberechenbar.

Nicht gegangene Wege

Ein erstes Szenario, das ich kurz streifen möchte, betrifft das Scheitern der Koalitionsverhandlungen 2005. Angesichts des unerwartet knappen Ausgangs der Wahl hätte sich die SPD durchaus der Koalition verweigern und damit Neuwahlen nötig machen (oder gar eine rot-rot-grüne Koalition eingehen) können. Das wäre das Ende von Merkels Karriere gewesen; sie hatte damals noch genug innerparteiliche Widersacher, die nur darauf warteten, sie in so einer Situation zu beerben. Ähnlich sieht es für die Erfüllung von Lafontaines Wunschtraum aus, dem Koalitionsbruch um 2007/2008, den er der SPD damals mehrmals schmeichelnd anbot. Ab 2009 gab es dafür keine Mehrheiten mehr; die Gefahr war für Merkel vom Tisch.

Relevant ist koalitionstaktisch dann das Szenario einer Ampel-Koalition 2009, das die bevorzugte Lösung der SPD-Spitze war. Ich habe darüber ausführlich geschrieben und will mich hier nicht wiederholen. Eine dauerhaft sich auf der Mitte-Rechts etablierenden SPD aber würde der CDU die Luft zum Atmen abschnüren und hätte ein völlig anderes Parteiensystem zur Folge als das, das wir jetzt haben.

Ein letztes koalitionstechnisches Szenario wäre der Erfolg der Jaimaka-Verhandlungen 2017. Ich habe wenig Hoffnung, dass dies die unverantwortlich agierende FDP arg domestiziert hätte; vielmehr lässt einen die Vorstellung, Lindner und Kubicki würden in der aktuellen Corona-Krise Verantwortung tragen, erschaudern. Allenfalls die Hoffnung auf eine tatsächliche Stärkung des digitalen Bereichs, die Lindner versprochen hatte, verschafft einen Lichtstreifen am Horizont.
Ein anderes eher kleinteiliges Szenario ist eine erfolgreiche Amtszeit Verteidigungsminister Guttenbergs mit Aussicht auf den ersehnten Außenministerposten. Guttenberg war ein politisches Talent, das die CDU dringend gebrauchen konnte, wenngleich nur wenig Substanz vorhanden war. Die Substanz, die er besaß, lag in seiner klaren transatlantischen Ausrichtung. In seiner kurzen Amtszeit begann er mit der Modernisierung der Bundeswehr (und hinterließ seinen NachfolgerInnen einen Scherbenhaufen), aber wenn wir ihm den benefit of the doubt geben, wäre vorstellbar, dass Guttenberg eine deutlich kohärentere, wenngleich enger an die USA und interventionistischere Außenpolitik betrieben hätte.

Unsere restlichen Szenarien sind alle innenpolitischer Natur.

Zuerst wäre da eine stärkere Konzentration auf die Integrations- und Islampolitik zu nennen. Die Versuche, institutionelle Ansprechpartner für die islamische Religion zu schaffen und mit diesen in Dialog zu treten war grundsätzlich richtig und hätte möglicherweise eine domestizierende Wirkung auf den radikalen Islam haben können; faktisch fand das leider nicht statt. Spätestens das unrühmliche und widerwärtige Ende der Wulff-Präsidentschaft markierte einen deutlichen Bruchpunkt in dieser Entwicklung.

Ein Dreifachthema betrifft die Energie- und Umweltpolitik. Ohne die zweifache Trendwende bei der Energiepolitik oder ohne die Ablenkung von einer grundsätzliche energiepolitischen Reform durch die Flüchtlingskrise wäre vorstellbar, dass dieser Themenkomplex heute deutlich weniger Probleme machen würde als er es tut. Damit einhergehen könnte dann auch eine vernünftigere Umweltpolitik, ein Thema, das die SPD zwischen 2005 und 2015 für sich entdeckt hatte und zielstrebig auszubauen versuchte, ehe die Flüchtlingskrise das alles über den Haufen warf und die Trümmer dann den Grünen zum Auflesen ließ, als die Fridays-for-Future-Bewegung das Thema 2019 in die Schlagzeilen brachte.

Völlig ohne äußere Einflüsse scheiterte die Regierung Merkel durch gezieltes Nichtstun beim Ausbau der digitalen Infrastruktur. Deutschlands katastrophaler Stand auf diesem Gebiet wurde kaum angegangen, das Thema kontinuierlich kleingehalten. Die Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit allein sind dramatisch. Hätte Merkel hier entschlossener agiert und die erforderlichen Investitionen getätigt, wäre Deutschland auch in der Corona-Krise besser vorbereitet gewesen.

Wesentlich durchgreifendere Folgen hätte gehabt, wenn die Wahl 2005 nicht so knapp ausgegangen und die ursprünglich stark neoliberal geprägte Parteiplattform des Leipziger Parteitags 2003 Bestand gehabt hätte. Das läuft auf eine deutliche Verschärfung der Agenda2010 hinaus, die das Antlitz der Bundesrepublik noch einmal einschneidend verändert und vom Sozialstaat, der uns gerade das Überleben in der Corona-Krise ermöglicht, wenig übrig gelassen hätte. Dass die Reformpolitik mit der SPD-Regierung ihren Höhepunkt und nicht ihren Anfang nehmen würde, war 2005 jedenfalls nicht abzusehen und wurde auch von kaum jemandem erwartet.

Ähnlich sieht es in der Finanzkrise aus. Eine neoliberale Krisenpolitik, wie sie eine schwarz-gelbe Regierung gefahren hätte, hätte vermutlich dafür gesorgt, dass die Krise nicht den Sargnagel für die Reformer darstellte (seither ist, sehr zum Bedauern der Sozialstaatskritiker, die Reformperiode endgültig vorbei), sondern vielleicht wie im britischen Vorbild Gelegenheit zu weiteren massiven Kürzungen gegeben hätte - erneut mit unwägbaren, aber mit Sicherheit negativen Folgen in der Corona-Krise jetzt.

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