Mittwoch, 6. Mai 2020

Das große Kanzlerranking, Teil 6: Helmut Schmidt


Angesichts des bevorstehenden Endes der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sind Diskussionen über die Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und ihren Platz in der Geschichte in vollem Schwung. Um aber einschätzen zu können, wo Merkels Platz in der Geschichte ist, ist ein Blick auf die anderen Kanzler der BRD unausweichlich. Der Versuch, eine Ranking-Liste zu erstellen, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten behaftet, weil jede Wertung in einem gewissen Maße arbiträr ist – des einen LieblingskanzlerIn ist des anderen Gottseibeiuns. Ich habe mich daher dazu entschieden, für diese Übung die Frage zu stellen, wie konsequenzenreich, wie bedeutsam der jeweilige Kanzler oder die Kanzlerin für Deutschland waren.

Der Vorteil dieser Heuristik ist, dass die Frage, ob mir die jeweiligen Weichenstellungen persönlich gefallen, keine Rolle spielt. Der Nachteil ist, dass diese Art des Rankings KanzlerInnen bevorzugt, die entsprechende Spielräume hatten – und für diese können die jeweiligen Personen oft recht wenig. Gleichzeitig schreiben wir womöglich KanzlerInnen mehr Einfluss zu, als sie tatsächlich hatten. Schließlich ist einE KanzlerIn nicht automatisch für alles verantwortlich, was in der jeweiligen Amtszeit passiert. Dieser Widerspruch wird sich nicht komplett auflösen lassen.

Spätestens seit der Corona-Krise ist uns auch allen klar, dass in der Prävention kein Ruhm zu finden ist. Ich will aus diesem Geist heraus bei jeder Untersuchung auch auf die Wege gehen, die das Land nicht genommen hat, sofern klare Alternativen ersichtlich waren, die das jeweilige Regierungsoberhaupt nicht ergriffen hat. Kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig, weswegen ich versuchen will, diese Betrachtung auf die damals ersichtlichen Alternativen zu begrenzen und zu zeigen, warum diese jeweils nicht zustande kamen. Und nun genug der Vorrede, führen wir unsere Betrachtung fort. In unserer Serie zum großen Kanzlerranking haben wir in Teil 1 Konrad Adenauer untersuchtIn Teil 2 war es Willy Brandt. In Teil 3 schauten wir zu Helmut Kohl. Voretztes Mal war Schröder an der Reihe. Letztes Mal ging es mit Angela Merkel weiter. Heute schauen wir auf Helmut Schmidt.

Fotograf Hans Schafgans,
1977, CC BY-SA 2.0

Platz 6: Helmut Schmidt (1974-1982)

Helmut Schmidt ist einer jener Kanzler, denen es nie an der Überzeugung mangelte, für den Job geboren worden zu sein. Er übernahm den Job in einer turbulenten Situation: das innere Reformwerk der Brandt-Ära war noch nicht abgeschlossen, die Ostpolitik erwartete ihre ersten Bewährungsproben, die Wirtschaft der westlichen Welt rutschte in eine Dauerkrise (Stagflation), der Terrorismus nahm in beunruhigendem Ausmaß zu und sowohl EU als auch NATO wurden von inneren Zerwürfnissen zerrissen (Eurosklerose, Doppelbeschluss).

Das allgemeine Gefühl einer "Krise des Westens", von dem radikale Splittergruppen profitierten, hatte die ganze westliche Welt erfüllt. Schmidt war wie gemacht für diese Zeiten: Ein Krisenmanager, der bisherige Erfolge absicherte und das Staatsschiff durch unruhige Gewässer führte (der Hamburger hätte sicher nichts gegen ein paar nautische Metaphern), ohne sich groß um das Murren der eigenen Besatzung zu kümmern. Schmidt ist der letzte unserer Kanzler, der genuin eigene Akzente setzte.

Innenpolitik

Die Regierung Schmidt setzte den Schlussstein unter die seit 1945 betriebenen Reformen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Diese Forderungen stammten nicht nur aus der Arbeiterschaft; es waren gerade die Montanbetriebe, die sie elementar mit erhoben hatten - wohl einer der Gründe, warum das Reformwerk am Ende möglich wurde. 1976 erhielten die Arbeitnehmer Plätze im Aufsichtsrat, eine Reform, deren Gewinn für die Arbeitnehmer zunehmend kritisch bewertet wird - entstammen die "Arbeitnehmervertreter" doch häufig aus sehr hohen Positionen und sind den Interessen der Arbeitgeber viel näher als denen der breiten Belegschaft. Korruptionsskandale taten ihr Übriges, den Ruf des Modells zu schädigen. Gleichzeitig hat es sich als krisenfest erwiesen und hilft dabei, die Arbeitskämpfe auf einem niedrigen Niveau und die Legitimation von Entscheidungen hochzuhalten.

Ein aus heutiger Sicht wesentlich relevanterer und eindeutig positiv bewerteter Baustein ist die BGB-Reform von 1976. Hauptsächlich in der Brandt-Regierung ausgearbeitet, wurde das Gesetz schließlich unter Schmidt verabschiedet. Unumstritten sind heute die rechtlichen Gleichstellungen der Frau, die den Muff der Adenauer-Zeit endgültig beseitigten. So durften Frauen etwa ab 1976 eine Beschäftigung ohne Erlaubnis des Ehemanns aufnehmen, dieser konnte diese Stellungen nicht mehr kündigen, Frauen konnte eigene Konten führen und hatten ein Grundrecht auf eigenen Besitz, wo dieser vorher immer unter dem Vorbehalt des Ehemanns gestanden hatte.

Auch das Ehe- und Scheidungsrecht wurden modernisiert, indem man das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzte und damit Millionen Frauen den Ausweg aus unglücklichen Ehen ermöglichte, ohne sie dem Ruin preiszugeben. Gleichzeitig blieb es in seiner Umsetzung sehr problematisch und wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder reformiert. Besonders problematisch war die Frage des Unterhalts: Grundsätzlich bezahlte der vermögendere Ehepartner (fast immer der Mann) dem weniger vermögenden Ehepartner (fast immer der Frau) genug, um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, was zu dem berühmten Bonmot Gaby Hauptmanns führte, dass "die Frau, die nach der dritten Scheidung noch keinen Porsche fährt, etwas falsch gemacht" habe.
Der Grund dafür lag sicherlich darin, dass das Gesetz ein Opfer des eigenen Erfolgs wurde: Frauen wurden selbstständiger, verfolgten eigene Karrieren und waren so nicht mehr so stark auf die Unterhaltszahlungen angewiesen, die das Gesetz ihnen zusprach; gleichzeitig war die Praxis, die Kinder nun automatisch der Frau zuzusprechen (statt wie früher dem Mann) eine Verstetigung dieses Problems, weil die Gerichte davon ausgingen, dass die Frauen vom Unterhalt und nicht von der eigenen Arbeit lebten. Dieses System sorgte für eine große Zahl alleinerziehender Mütter; dass diese Bevölkerungsgruppe bis heute mit Abstand das größte Armutsrisiko trägt, zeigt nicht nur, dass Gaby Hauptmann falsch lag, sondern dass das Scheidungsrecht auch dringend reformbedürftig war. Glücklicherweise ist dieses Problem weitgehend gelöst.

Eine innenpolitische Krise gänzlich anderer Art erwuchs der Schmidt-Regierung im linksextremistischen Terror. Was in der Brandt-Ära noch zahlreiche sektiererische, sich immer weiter radikalisierende Splittergruppen waren, verlor in der Schmidt-Ära rapide an Bedeutung - doch ein kleiner Kern bildete die größte einzelne Terrorzelle der Geschichte der BRD. Im Rückblick muss man sagen, dass die Bedeutung der RAF wohl überschätzt wurde.

Zu keinem Zeitpunkt bestand die Gefahr, dass die illusorischen Träume der Terroristen von einem Aufstand gegen das System oder dem Ausbruch des proletarischen Freiheitskampfs real werden könnten. Das war aber nicht der Punkt. Während die Polizei mit nie dagewesenen Befugnissen (große Rasterfahndung, GSG9) die Terroristen nach und aushob und kriminell unschädlich machte, sorgte die begleitende, teilweise ins Hysterische gleitende Debatte dafür, dass Linksextremismus für Generationen verbrannt wurde. Die K-Gruppen waren bis 1980 praktisch völlig verschwunden, die SPD-Linke hatte sich den klassenkämpferischen Ideen völlig abgewandt. Die Idee von Gewalt als politischem Mittel war auf der Linken völlig diskreditiert. Darin, nicht im (unvermeidlichen) polizeilichen Erfolg gegen die Terrroristen liegt der bleibende Effekt der RAF-Zeit.

Schmidt musste sich jedoch den Großteil seiner Regierungszeit als Krisenmanager betätigen, nicht nur im Deutschen Herbst. Eine wirtschaftliche Dauerkrise - die Stagflation - plagte seine gesamte Regierungszeit. Ihre Ursachen konnten von den Experten nicht ausgemacht werden; der Rückgriff auf keynesianische Rezepte brachte zwar Linderung, aber auch heute unvorstellbare Inflationsraten. Schmidt erklärte, 5% Inflation seien ihm lieber als 5% Arbeitslosigkeit. Es war Kohl, der durch die Umkehrung dieses Mottos die Stagflation beendete - und gleichzeitig eine Sockelarbeitslosigkeit in Kauf nahm, die sich bis 1998 nicht beseitigen ließ; der berühmte "Reformstau" hatte seinen Anfang bereits in der Ära Schmidt.

Dessen Aufgabe wurde durch die zweite Ölkrise 1979 nicht eben erleichtert. Wie bereits seinem Amtsvorgänger Brandt schadeten die Bilder von leeren Autobahnen uns rasant steigenden Benzinpreisen dem Ansehen des Kanzlers; die internationalen Verwerfunden durch die Ölkrise sollten allerdings erst unter Kohl spürbar werden (vor allem in der rapiden Auflösung der DDR-Finanzen).

Außenpolitik

Auch außenpolitisch stand Schmidt für eine gewisse Kontinuität der Brandt-Politik. So fand die Ostpolitik in der KSZE-Schlussakte von 1975 ihren Abschluss. Die Etablierung der KSZE wird von Historikern mittlerweile als ein Meilenstein auf dem Weg des Ostblocks in seinen Untergang gesehen; ein starker Kontrast zu der zeitgenössischen Wahrnehmung, in der die westlichen Staatsmänner stark gescholten wurden, weil die KSZE-Schlussakte den Osten zu bevorteilen schien. Schmidt sollte hier deutlich richtiger liegen als Kohl, der ihn harsch kritisierte.

Doch Schmidt konnte auch einige eigene Aspekte setzen. Zum konservativen französischen Präsidenten d'Estaign verband ihn ein Vertrauensverhältnis, wie es seit den Tagen Adenauers zwischen dem Quai d'Orsay und der Wilhelmstraße nicht mehr bestanden hatte. Die Einigung zwischen Deutschland und Frankreich wurde zum Motor, der die Dauerkrise der EWG durchbrechen sollte. Unter anderem richtete man die so genannte Währungsschlange ein, die einen Ersatz für die amerikanische Aufkündigung des Systems von Bretton Woods darstellen sollte. Das System war letztlich eine Ersatzlösung für eine echte gemeinsame Währung, wie sie die Regierung Kohl schaffen sollte, und funktionierte nur eingeschränkt gut - es stellte allerdings einen Meilenstein auf dem Weg zur wirtschaftlichen Einheit Europas dar.

Das am engsten mit der Schmidt-Regierung verknüpfte Thema aber ist sicherlich der NATO-Doppelbeschluss. Nichts symbolisiert so deutlich die zunehmende Entfremdung Schmidts von seiner eigenen Partei. Hintergrund war die Aufstellung neuer sowjetischer Mittelstreckenraketen, für die kein NATO-Pendant bestand. Rüstungsexperten seitens der NATO - zu denen sich auch Schmidt zählen durfte - forderten von der Sowjetunion, diese Raketen rückzubauen. Das Mittel dazu war eine clevere Vertragskonstruktion, der Doppelbeschluss: Würde die UdSSR bis zum Stichtag die Raketen nicht abbauen, würde die NATO automatisch nachrüsten.

Dieses Vertragswerk wurde von der entstehenden Friedensbewegung, die zu einem elementaren Faktor bei der Etablierung der Grünen als eigenständiger Partei im Jahr 1980 wurde, und von der SPD-Parteibasis vehement abgelehnt und strapazierte das Verhältnis zwischen Kanzler und Partei bis zum Zerreißpunkt. Aus diesen Zeiten stammt das Bonmot, Schmidt sei der beliebteste Kanzler, den die CDU je hatte; seine Beliebtheitswerte waren in der Bevölkerungsgesamtheit deutlich höher als in der eigenen Partei, eine spannende Parallele zu der Spätphase von Merkels Kanzlerschaft. Die Geschichte gab Schmidt in dieser Angelegenheit mittlerweile Recht. Das Urteil über Merkel steht noch aus, und wird das auch noch für mindestens zwei bis drei Jahrzehnte tun.

Nicht gegangene Wege

In einer weiteren Parallele zu Merkels Kanzlerschaft steht die Schmidt-Kanzlerschaft auch für einige nicht genommene Wege und verpasste Gelegenheiten.

Der größte Punkt aus parteistrategischer Sicht ist sicherlich der Konflikt, den Schmidt durch seine Kanzlerschaft hindurch sowohl mit der Friedens- als auch der Umweltbewegung ausfocht. Seine unnachgiebige Haltung führte zur Etablierung der Grünen - sowie Merkels unnachgiebige Haltung die Entstehung der AfD förderte. Vielleicht hätte die Etablierung der Partei verhindert werden können, wenn Schmidt nicht die umweltpolitischen Anfänge Brandts in falsch verstandenem Wirtschaftspragmatismus beiseite geworfen hätte, oder wenn er den Doppelbeschluss nicht verfochten hätte.

Eine andere zentrale Weichenstellung war das völlige Ignorieren der Ausländethematik. Obwohl die Regierung Schmidt mit Heinz Kühn den ersten Ausländerbeauftragten einsetzte, wurde dessen Abschlussbericht von 1979 völlig ignoriert. Liest man Kühns Bericht heute, so ist frappant, wie aktuell er immer noch ist. Die Probleme der Integration und die Folgen von Nichthandeln der Regierung wurden praktisch in den gleichen Begriffen auch 2010 noch diskutiert. Erst unter Rot-Grün wurden überhaupt erste Schritte unternommen, die unter Merkel teilweise modifiziert, großteils aber fallengelassen wurden. Schmidt steht die zweifelhafte Ehre zu, das Problem als erster aktiv ignoriert zu haben, obwohl die Fakten eindeutig auf dem Tisch lagen. Was hätte erreicht werden können, wenn er sich damit beschäftigt hätte!

Ein Lieblingsthema aller Schmidt-Fans bleibt zudem die Arbeitsteilung zwischen Schmidt und Brandt. Nach seinem Rücktritt 1974 behielt Brandt nicht nur sein Bundestagsmandat, sondern auch den Vorsitz über die SPD, den er bis in 1987 ausüben sollte. Ob es Schmidt besser gelungen wäre, die SPD hinter seiner Politik zu einen, wenn er das Amt innegehabt hätte? Es ist möglich, aber die Erfahrung Merkels und Schröders lässt mich eher skeptisch zurück. Wahrscheinlicher, dass Schmidt aus dasselbe Mittel zurückgegriffen und beide Ämter getrennt hätte, als der Basisstreit zunehmend Kapazitäten in Anspruch nahm. Brandt wenigstens lose in die Kabinettsdisziplin einzubinden stabilisierte die SPD vermutlich mehr als wenn er von außen kritisiert hätte, zumindest wenn die Erfahrungen mit Oskar Lafontaine nach 1999 irgendwelche Bedeutung haben.

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